Worauf warten in diesem Advent? Welche Lieder singen? Egbert Ballhorn nimmt das alte Weihnachtslied „Nun komm der Heiden Heiland“ als Denkanstoss und zeigt auf, was mit den Bildern und in den Textfassungen an theologischer Tiefe zu gewinnen ist.
Der größte Weihnachtsbaum der Welt steht in Dortmund. Das heißt, er stand bisher. Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr ist Corona, und vieles fällt aus, was dem Jahr Rhythmus und Abwechslung gegeben hat. Und so wurde das Gerüst für den Baum wieder abgebaut.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, zumindest den ausgefallenen Weihnachtsmarkt nur halb zu bedauern, vielleicht ganz ähnlich, wie ein Großteil der Bevölkerung über die Kirchen denken mag: Nett, dass es so etwas gibt; ich gönne es denen, die es brauchen, vielleicht schlendere ich auch einmal vorbei, aber es fehlt mir eigentlich nicht.
Ein Anlass, den Blick zu heben
Die abgebrochene Tradition lässt dennoch ein Gefühl merkwürdiger Leere zurück. Der Baum-Stumpf in der Mitte des Marktes ist ein eigentümliches Zeichen, auch dafür, dass ein Versammlungsort unbesetzt bleibt. Im Glühweintreiben um ihn herum war der Baum auch ein Anlass, den Blick zu heben, in den Himmel zu schauen, und sei es nur, um dort einen leuchtenden Engel an der Spitze des Baumes zu sehen.
Traditionen stellen eine Frage: Wer willst du dieses Jahr sein?
Traditionen bieten verlässlich jedes Jahr dasselbe an, zugleich treffen sie auf Menschen, die sich seit dem letzten Jahr verändert haben. So verschieben sich Perspektiven, können Dinge schal werden oder, ganz im Gegenteil, einen neuen Blickwinkel ermöglichen. Traditionen, solche die stattfinden, und solche, die ausfallen, stellen eine Frage: Wer willst du dieses Jahr sein?
Eine Tradition, die das Christentum von Anfang an begleitet, sind die Lieder, die es singt. Eines der allerältesten, wenn man von den biblischen Psalmen und Cantica absieht, ist der Hymnus „Veni redemptor gentium“. Nicht zuletzt wegen seiner Hymnen wurde Ambrosius in die Schar der Kirchenlehrer eingereiht. Was kann uns das Lied lehren? Wie kann das Traditionsgut die Gegenwart beleuchten? Dabei geht es ebenso um den „Urtext“, wie um seine Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte, die uns geprägt hat.
Was kann uns das Lied lehren?
Schon die erste Zeile ist ein Denkanstoß. Das lateinische „Veni Redemptor Gentium“ hat zwei deutsche Übersetzungen hervorgebracht. Seit Martin Luther ruft die Christenheit nach dem „Heiland der Heiden“, ökumenisch nach dem „Heiland aller Welt“. Hier lohnt eine Erwägung der Sprachfassungen. Die „Heiden“ haben nach Jahrhunderten des Sprachgebrauchs einen negativen Beigeschmack. Es sind immer die anderen, die Ungetauften, die Unzivilisierten. Der „Heiland der Welt“ ist dagegen ein etwas vollmundig herbeigerufener Erlöser. Ambrosius hingegen dachte, ganz in der biblischen Tradition, die Welt nicht global, sondern plural: Er ruft den Erlöser der Völker herbei. So stellt sich schon die Bibel die Welt vor: Ein Gewimmel ohne Zahl, nicht nur an Lebewesen, sondern auch an menschlichen Gemeinwesen (Gen 10). Jenseits aller nationalistischen Konstrukte kann die Bibel Parther, Meder und Elamiter zusammentreffen lassen, um alle in ihren eigenen Sprachen den einen Gott der Welt und seine Taten verkündet zu hören (Apg 2). In unseren Worten: Die Bibel ist pluralitäts- und diversitätsfreundlich. Die vielen Völker, die sich über den Erdkreis verteilen. Die Perspektive des einzigen Gottes, der alle erlösen will, knüpft an die Vielfalt von Völkern und Kulturen an.
Staunen statt Allmachtsphantasie
Das hymnische Bild von der Erlösung der Völker leuchtet in unsere Gegenwart, in der Nationalismen aggressiv propagiert, Formen der Zusammenarbeit weniger praktiziert werden, als noch vor wenigen Jahren üblich. Ambrosius spricht ein politisches Gebet.
Erlösung der Völker – ein politisches Gebet.
Bemerkenswerterweise überlässt er sich keiner Allmachtsphantasie. Vielmehr ist seine Bitte, dass die Welt zum Staunen komme. Das hält er für Gott angemessen, auf solche Weise, dezent, in unsere Welt einzutreten (Lk 2,18). Eine Völkerwelt, die in ihrem Treiben innehält und sich überraschen lässt vom unerwarteten Handeln Gottes an verletzlichster Stelle: ein erstaunliches Bild von Erlösung. – Wer sind wir, wer wollen wir sein als Völkerwelt?
Israelvergessenheit als Traditionsunterdrückung
Ein Volk allerdings ist im üblichen Liedtext vergessen. Wo bleibt das Gottesvolk Israel? Es ist nicht eines unter vielen, es ist das ersterwählte Volk, das Gott sich zum Eigentum erworben hat. Ambrosius hatte es als erstes vor Augen. Der Hymnus trägt seinen berühmten Titel zu Unrecht! Er fängt nicht mit „Komm, Erlöser der Völker“ an. Das ist erst die zweite Strophe. Der ursprüngliche Text beginnt mit „Höre, König Israels, / der auf Cherubim du thronst, / zeige dich vor Ephraim, / wecke deine Macht und komm“.
„Höre, König Israels…“
Es spricht für Ambrosius, dass er seinen Ausgang wörtlich bei der Schrift nimmt (Ps 80!) und die um Gottespräsenz in der Welt flehende Gemeinde, die inzwischen ganz aus den Völkern genommen ist, Seite an Seite mit Israel beten lässt. Weder die Erwählung des Gottesvolks, noch seine Bibel noch seine Bedrängnis und seine Sehnsüchte sind überholt. Dass diese Strophe schon in der Spätantike aus dem Hymnus herausgestrichen wurde, liegt in der langen Linie einer schuldhaften Israelvergessenheit der Kirche. Diese Traditionsunterdrückung hat lange Wurzeln. Es wäre an der Zeit, hier das Gedächtnis wieder aufzufrischen. Wer sind wir? Welchen Ursprüngen verdanken wir uns?
Ein Hymnus, der in den Tod hinein greift
In der Rezeption des Hymnus geht noch weiteres unter. In der kurzatmigen Gotteslob-Fassung (GL 227) fehlt neben anderen auch dieser Vers über den Erlöser: „Von dem Vater kam er her, / und zum Vater kehrt‘ er heim; / Er stieg nieder bis zur Höll / und fuhr auf zu Gottes Thron.“ Auf den ersten Blick wirkt er wie die Nacherzählung des Lebens Jesu mit ein wenig außer Gebrauch geratenen Worten. In Ps 19 wird die Sonne als kosmisches Lebens- und Gerechtigkeitsprinzip gefeiert, genau wie das Wort Gottes machtvoll in der Welt wirkt. Das greift der Hymnus auf und bezieht es auf Christus. In der übersprungenen Strophe wird der Sonnenlauf am Himmel um eine weitere Dimension ergänzt, den Weg des fleischgewordenen Wortes vom Vater her bis hinunter in das Totenreich und zurück zum Thron Gottes. Diese Perspektive ist im tiefsten Wortsinn not-wendig, denn sie deckt die Dimensionen der Erlösung auf. Der Erlöser steigt in die Tiefen des Todes hinunter, um alles, was sterblich ist, aus der Macht des Todes zu retten. Das ist die große Hoffnungsperspektive, lässt man sie unter den Tisch fallen, besteht die Gefahr, beim Glanz der Krippe vor allem an ein Weihnachtsfest im vertrauten Rahmen zu denken. Ambrosius hingegen geht es um das Ganze von Tod und Leben, um Advent und Weihnachten und Ostern in einem großen Atemzug.
Ambrosius geht es um das Ganze von Tod und Leben
Das ist aktuell in einem Jahr, in dem die Todesbedrohtheit der gesamten Menschheit täglich vor Augen steht. Unsere Macht ist viel begrenzter, als wir es gewohnt waren sie zu sehen. Mit Glück können wir die Lebenden schützen, die Verstorbenen holen wir nicht zurück. Der uralte Hymnus holt einen existenziellen Ernst hinein, der zugleich eine existenzielle Hoffnung bedeutet. Wer wollen wir sein? Worauf setzen wir unsere Hoffnung?
Tradition, die uns zu denken gibt
Damit sind wir wieder beim Thema der Tradition und des Umgangs mit ihr. Indem Ambrosius aus der Schrift schöpft, verknüpft er unterschiedlichste Traditionen zu einem neuen Sinnstrang. Er holt Bilder der Bibel aus den Tiefen herauf und erschafft eine poetische Theologie, eine singbare Sehnsucht.
Indem Ambrosius aus der Schrift schöpft, verknüpft er unterschiedlichste Traditionen zu einem neuen Sinnstrang.
Die Rezeption seines Hymnus über mehr als anderthalb Jahrtausende hinweg setzt bis in die Gegenwart ihre eigenen Schwerpunkte, holt manches hervor und stellt anderes, wohl nicht ganz unbewusst, ins Dunkel hinein. Tradition ist nicht vorhanden wie ein wohlverschnürtes Paket, sie ist ein lockeres Gebilde, gleichwohl dicht und vielfältig in sich verknüpft. Tradition muss fortgeschrieben, regelmäßig neu erarbeitet und ins Gegenüber zur Gegenwart gestellt werden. Dann entfaltet sie ihre Kraft.
Auch die diesjährige Frage an uns lautet: Welche Bilder sollen uns begleiten, welche Hoffnung uns leiten? Welche Lieder wollen wir singen? Worauf warten wir?
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Dr. Egbert Ballhorn ist Professor für Theologie und Exegese des Alten Testaments an der TU Dortmund und Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.
Foto: Simon Daubhäußer
Literatur: A. Zerfaß, Komm, du Heiland aller Welt, in: A. Franz, H. Kurzke, C. Schäfer (Hg.), Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur; Stuttgart 2017, 637-643. Ders., Das Festgeheimnis besingen und verkünden – heute wie vor 1600 Jahren? Das älteste Weihnachtslied der Kirche als Anfrage an heutiges Glaubensbewusstsein, BiLi 82, 2009, 197-207.
Vom Autor auf feinschwarz.net erschienen:
Wozu feiern wir Liturgie? Erfahrungen eines Katholiken in der Krise