(Rock-)Musik hat Dominik Blum durch die Corona-Zeit begleitet. Nun begibt er sich auf die Suche nach einer Alltagsspiritualität in diesem Advent, mit Blick nach vorn. Und immer wieder findet er Parallelen zu Texten und Erzählungen der Bibel. Seine musikalischen Entdeckungen sind unter dem Profil dominikblum bei Spotify in der Playlist feinschwarz_Advent nachzuhören.
„Gute Rockmusik“, schreibt der Kulturjournalist Guido Tartarotti kürzlich in einer Hommage an Bruce Springsteens neues Album, „ist vertonte Sehnsucht“. Auch in diesem langen Advent geht es um Sehnsucht. Alle warten sehnsüchtig darauf, dass es endlich vorbei ist. Impfstoff, Ende der Beschränkungen, endlich wieder so leben wie vor Corona. „Fühlt sich an als wäre gestern alles halb so wild gewesen“, singen AnnenMayKantereit in ihrem brandneuen Song Gegenwart auf dem Album 12. Natürlich will niemand noch länger mit Corona leben. Aber ich habe das ungute Gefühl, dass die Anti-Corona-Sehnsucht im Advent 2020 zu rückwärtsgerichtet ist. Alles soll wieder so werden wie ‚davor‘.
Alles wieder wie ‚davor‘?
Die adventliche Sehnsucht hat eine ganz andere Richtung: nach vorn. „Und morgen könnte alles anders sein. Oder bild ich mir das ein, oder bild ich mir das ein?“, fragen AnnenMayKantereit weiter. Wer sich das auch fragt in diesem Advent, kann es mit der Rockmusik tun. Durch die Corona-Zeit, den ersten und zweiten Lockdown und hinein in den Advent 2020 hat mich (Rock-) Musik begleitet. Davon möchte ich gern erzählen – auf der Suche nach einer adventlichen Spiritualität für heute.
Mach dich bereit
Über die harten Herzen der Menschen wird viel geklagt. Auch Jesaja hat es getan: „Warum lässt du uns, Ewiger, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart?“ (Jes 63,17) Und es ist ja wirklich so: Umkehr ist nötig.
Wäre nicht Corona, unsere Nachrichten wären noch voller von all den hartherzigen Dingen, die Menschen anderen Menschen, den Tieren, der Schöpfung antun. „Die Nachrichten rennen dem Algorithmus hinterher, wenn in Moria die Zelte brennen, dann sieht das niemand mehr“, so kennzeichnen AnnenMayKantereit die herzlos erscheinende Gegenwart.
Umkehr ist nötig.
Zum Jahresanfang erschien das neue Album von STOPPOK. Der Titel: JUBEL. Jubel? Worüber denn? Einen Song hatte Stefan Stoppok schon vorab im Dezember 2019 veröffentlicht. Lass sie rein, sein prophetisch-musikalisches Plädoyer für eine bedingungslose Willkommenskultur für Flüchtlinge in Deutschland und Europa, hat ihm mächtig Gegenwind eingebracht. JUBEL ist kritisch-politisch wie eh und je und dabei trotzdem erfrischend optimistisch: „Nehm wir einfach mal an / Wir biegen das hier noch hin / Am Ende siegt die Vernunft / Alles macht wieder Sinn“, heißt es im Titel Eine Annahme, vor Corona geschrieben.
Und zwischen den politischen Rocksongs dann plötzlich ein adventliches Lied: Mal Dein Herz an. Was die Botin der Freude aus Jesaja 40,9 tun soll, das empfiehlt STOPPOK jedem Menschen: „Mal dein Herz mit Farbe an, möglichst bunt, steck‘ ne Rose dran, stell dich dann auf den höchsten Berg, breit die Arme aus und zeig der Welt dein Werk.“ Ein buntes Herz mit Rose dran beherzigt den Adventszuspruch: Tröste. Fürchte dich nicht! Freu dich. Alles wird gut.
Geh nach vorn
Jäjejeff, das bedeutet Gegengift – auf Kölsch. Rockmusik ist Gegengift gegen überflüssigen Blues. Das jedenfalls singt und lebt seit Jahren der Frontmann der Kölner Rockband BAP, Wolfgang Niedecken. Rockmusik ist Seelenproviant gegen Dunkelheit, Blues, tumben Populismus, Depression – Proviant für den langen Weg nach Hause. Dass dieses Zuhause eben nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt, das besingt Niedecken, der im nächsten März 70 wird und nach eigener Auskunft „restkatholisch und im Zweifel zu 51% gläubig“ ist, auf seinem neuen Album Alles fließt.
Proviant für den langen Weg nach Hause – in die Zukunft.
Ein Song treibt auch musikalisch voran: Volle Kraft voraus. Die Erinnerung an einen langen Sommer am Baggersee in seiner Jugend „hätt nix met Nostalgie zo dunn, eher met Therapie. Ne kleine Kurs enn Demut, Dankbarkeit un ‚C´est la Vie‘.“ Und die Erinnerung lenkt den Blick eben nicht zurück, sondern nach vorn: „Hühr mir joot zu, loss dich nit ungerkrieje, Mann. / Mer hatte reichlich Höhenflüje, manchmohl jing et durch et Tal. / Mer hann Krümel ussjestreut, für dä lange Wääsch nohuss, / Seelenproviant für alle Fälle, Jäjejeff für övverflüss’je Blues.“[1]
Das Ziel des Advents ist in Bewegung, denn es kommt auf uns zu. Dieses Versprechen ist alt. Wir brauchen ebene Straßen, begehbare Wege (Jes 40,3; Mk 1,2), um auf ihn zuzugehen, der wiederkommt. Gerne volle Kraft voraus, aber in der Realität des langen Advents 2020 wohl eher unsicher und auf Sicht. Nur nach vorn, vertrauensvoll.
Zünd ein Licht an
Diesen Albumtitel kann sich in Fake-News-Zeiten nur Heinz Rudolf Kunze leisten: Der Wahrheit die Ehre, erschienen im Februar zu Beginn der Pandemie. Auf dem Cover ist seine brennende Brille zu sehen. Ja, der Mann brennt immer noch für eine bessere Welt. Er beschimpft uns alle – wie Amos – wütend als Spießgesellen der Lüge. Die harte prophetische Kritik gehört zum Advent, auch wenn wir sie gern im Glühweindunst auf dem Weihnachtsmarkt schnell wieder wegduseln würden: „Mit welchem Recht wolln wir Mauern errichten / damit der Garten Eden ungeteilt bleibt / Mit welchem Recht auf das Mitleid verzichten / nur weil wir finden daß die Bibel übertreibt“, fragt der studierte Philosoph unter den deutschen Rock-Poeten in dem Titel Mit welchem Recht.
Prophetische Kritik gehört zum Advent.
Wer sich durch dieses Rockalbum gehört hat und beim letzten Lied ankommt, wird sich wundern. Es beginnt ganz dunkel: „die freundlichkeit die unschuld / die wahrheit und das glück / umzingelt und bedroht von allen seiten / der flächenbrand des bösen / rückt näher blick für blick / das lebensrecht der freiheit zu bestreiten“. Ja, so scheint es manchmal mit Blick auf unsere Realitäten. Aber: Totale Dunkelheit, das ist nur der Anfang vom Ende (Mk 13,24). Und an eben diesem Ende steht dann der Satz Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort.
Eine Spitzeneinsicht im Johannesevangelium. Aber auch bei Kunze steht dieser Satz, als letzter im CD-Booklet gleich zwei Mal, weiß auf schwarz, wohlgemerkt: „das dunkle fürchtet nichts so wie das licht / das licht enthüllt sein schreckliches gesicht / das licht das in der seele wohnt / das ist am rechten ort / die dunkelheit hat nicht das letzte wort / die dunkelheit hat nicht das letzte wort“. Am Ende siegt das Licht, wenn der Menschensohn kommt, wie das Markusevangelium verspricht (Mk 13,26). Wenn die Seele das Licht entdeckt, das in ihr wohnt. Wenn der Advent an sein Ziel kommt. Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort.
Sprich mit ihm
Dass Rockmusik vertonte Sehnsucht ist, hatte Guido Tartarotti – wie gesagt – mit Blick auf Bruce Springsteens neues Album geschrieben. Der hat aus seiner tief religiösen Orientierung nie einen Hehl gemacht. Zum Schluss seiner Broadway-Show hat der Boss über 230 Mal vor dem Publikum im ausverkauftem Walter Kerr Theatre das Vaterunser gesprochen und in seine eigene Lebensgeschichte hineinerzählt. Und tatsächlich ist Letter To You das vielleicht spirituellste Album des mittlerweile über 70 Jahre alten Rockers, erschienen im Oktober dieses Jahres. Darin singt er von den Ghosts seiner Musiker-Freunde, die lichtvoll und geistreich, liebevoll und lebendig da sind in seinem Alltag. Und wenn Springsteen das House Of A Thousand Guitars beschwört, wo alle guten Seelen als Brüder und Schwestern ihre Lasten und alles Bittere abschütteln und ins Licht treten können, dann ist das der Himmel. Er hängt allerdings nicht voller Geigen, sondern voller Stromgitarren.
… dann ist das der Himmel.
Mich berührt in diesem Advent besonders der Titelsong. Letter To You könnte tatsächlich an den einzigen Boss adressiert sein, den es für viele Rockfans noch über dem Mann aus New Jersey gibt. Betet ohne Unterlass, dankt für alles. Diese anspruchsvolle Empfehlung stammt aus dem ältesten christlichen Dokument, das wir haben, dem ersten Thessalonicherbrief (1 Thess 5,17.18). Springsteen würde wohl realistischer einen ehrlichen Adventsbrief empfehlen: „In my letter to you / I took all my fears and doubts / In my letter to you / All the hard things I found out / In my letter to you / All that I found true / And I sent it in my letter to you.“
Werde Mensch
Worauf richtet sich die Sehnsucht, die Adventssehnsucht, von der bis hierher so viel die Rede war? Was braucht man denn wirklich? Mascha Kaléko hat dazu ein kleines Gedicht geschrieben, das die wunderbare Dota Kehr kongenial vertont und neben vielen anderen auf einem neuen Album veröffentlicht hat: Was man so braucht: „Man braucht nur eine Insel / Allein im weiten Meer / Man braucht nur einen Menschen / Den aber braucht man sehr“. Das ist die Adventssehnsucht, die nach dem Menschen. Es ist zuerst die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen, seinem Ebenbild. Er wird Menschenkind, um Mensch zu sein an der Seite der Menschen, die selbstverschuldete menschliche Isolation zu durchbrechen. Kein Social Distancing, nie. Nach einem solchen Gott und seinem Trost, seiner Liebe sehnen sich die Menschen, ob sie es wissen oder nicht, wie Schiffbrüchige nach einer Insel.
Gott wird Menschenkind, um Mensch zu sein an der Seite der Menschen.
Mahnung im Advent: Verachtet prophetisches Reden nicht. Und prophetisches Singen erst recht nicht. Zum Schluss noch einmal zurück zu AnnenMayKantereit und ihrem Lied Gegenwart. „Die Kneipen schließen, die Kinos auch. / Und im Schauspielhaus fällt der letzte Vorhang aus.“ Damit das nicht passiert, verschenken wir vielleicht zu Weihnachten CDs, Kinogutscheine, Theaterkarten. Oder machen in der Stammkneipe und beim Lieblingsitaliener einen Deckel mit Guthaben. Das ist ein Blick nach vorne auf das Leben, der Weihnachten und dem Menschgewordenen alle Ehre macht.
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Dominik Blum ist Dozent für Theologie an der Katholischen Akademie Stapelfeld in Cloppenburg, Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und im Beirat der Katechetischen Blätter (KatBl).
Unter dem Profil dominikblum können Sie bei Spotify in der Playlist feinschwarz_Advent alle angesprochenen Titel nachhören.
Bild: Andrew Poynton / pixabay.com
[1] „Hör mir gut zu, lass dich nicht unterkriegen, Mann. Wir hatten reichlich Höhenflüge, manchmal ging es durch das Tal. Wir haben Krümel ausgestreut, für den langen Weg nach Hause, Seelenproviant für alle Fälle, Gegengift für überflüssigen Blues.“
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