Die Menschheit steht vor gewaltigen Herausforderungen – ökologisch, sozial und ökonomisch. Antwortversuche gibt es mehrere. Johannes Panhofer hat im Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie eine überzeugende Antwort gefunden.
Corona bindet Gedanken und Tun, beansprucht unsere ganze Energie. Ja, eine weitere Welle muss verhindert werden. Gleichzeitig verdeckt die Pandemie den Blick auf eine dahinterliegende, größere „Welle“, die Klimakrise. Corona hat – dem Impfstoff sei Dank – ein Ablaufdatum. Die Klimakrise jedoch wird uns, so Expert*innen, länger und intensiver beschäftigen, als uns lieb ist.
Die Sache erscheint dringlich und ein guter Ausgang ist keineswegs sicher. Werden nicht schnell und radikal gesellschaftliche Veränderungen durchgeführt, verfehlen wir die Ziele des Pariser Klimaabkommens deutlich. Angesichts der tatsächlichen Erderwärmung sieht der renommierte Klimaexperte Hans Joachim Schellnhuber die Zivilisation auf dem Weg in die Selbstverbrennung – aus Gier, aus Dummheit und vor allem aus Versehen.[1]
Transformation.
Dabei zeigen viele Menschen hohe Bereitschaft, einen Beitrag in Richtung Nachhaltigkeit zu liefern. Man möchte mehr tun, als Müll zu trennen und mit dem Rad in die Arbeit zu fahren. Aber solange das „Räderwerk“ von Wirtschaft und Kapitalismus, Wachstumsglaube und Konsumbegeisterung wie geschmiert läuft, bleibt der Effekt individuellen Bemühens marginal. Ein diffuses Unbehagen ist spürbar, etwas läuft grundlegend falsch. Tatsächlich wünschten sich 2010 in einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung 88 Prozent der Deutschen und 90 Prozent der Österreicher*innen eine neue Wirtschaftsordnung, die den Schutz der Umwelt und den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft stärker berücksichtigt. Wissenschaftler*innen und Volk sind sich einig und verlangen eine „Systemänderung“.
Ein ganzheitlicher Blick muss die verschiedenen Krisen – ökologisch, ökonomisch und sozial-kulturell – in ihrem Zusammenhang analysieren und auch als Folge einer westlichen, z.T. imperialen Lebensweise erkennen. Dabei spielt die Art des Wirtschaftens eine Schlüsselrolle. Mit Blick auf die 17 Entwicklungsziele der UNO trifft der letzte große Bericht des Club of Rome ins Schwarze: „Unter der Annahme, dass es keine größeren Veränderungen in der Art und Weise gibt, wie Wirtschaft definiert ist und verfolgt wird, kommt es zu massiven Widersprüchen zwischen den sozio-ökonomischen und den ökologischen SDGs [Sustainable Development Goals].“[2]
Es gibt inzwischen viele alternative Ansätze für die erforderliche Transformation. Der Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie überzeugt deshalb, weil er die relevanten Dimensionen für menschenwürdiges und natursensibles Zusammenleben erfasst und zugleich die Komplexität durch das Instrument der Gemeinwohl-Bilanzierung konkret bearbeitbar macht.
2008 suchten einige Unternehmer*innen in Österreich zusammen mit dem damaligen Attac-Aktivisten Christan Felber eine „Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus“ und präsentierten im Oktober 2010 in Wien die Gemeinwohl-Ökonomie.[3] Das alternative Lebens- und Wirtschaftsmodell orientiert sich an den zentralen Grund- und Verfassungswerten wie Menschenwürde, Solidarität, ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Mitbestimmung. „Das Wohl von Mensch und Umwelt wird zum obersten Ziel des Wirtschaftens“[4], steht lapidar auf der informativen Homepage der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Das scheint zunächst wenig spektakulär. Liest man doch solche Bekenntnisse zu den Grundwerten in der Verfassung vieler Länder: „Alle wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“, heißt es beispielsweise im Artikel 151 der Bayerischen Verfassung. Was ist nun der Clou der GWÖ?
Die genannten Grundwerte sollen als Leitsterne konsequent für alle gesellschaftlichen Bereiche gelten, so auch für die Wirtschaft. Dies ist nun keineswegs selbstverständlich: Während wir von klein auf in Kindergärten, Schulen, Vereinen und in Freundschafts- und Alltagsbeziehungen jene Grundwerte zu leben versuchen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, scheinen in der freien Marktwirtschaft andere Spielregeln zu gelten.
Bei kleineren und mittleren Betrieben ist aufgrund lokaler Vernetzungen eine ökologische und soziale Verantwortung zu erkennen – bei vielen internationalen Konzernen nicht. Eine zunehmend kapitalistisch ausgerichtete Wirtschaft versucht ethische Verpflichtungen abzustreifen und verfolgt stattdessen Gewinnmaximierung und grenzenloses Wachstum. Schäden für Natur und die soziale Umwelt werden betriebswirtschaftlich externalisiert bzw. auf wehrlose Gruppen abgewälzt: auf rechtlose Arbeiter*innen, vertriebene indigene Völker, schutzlose Tiere, den abgeholzten Regenwald. Für den (finanziellen) Vorteil der einen, müssen andere geopfert werden.
Gemeinwohl-Ökonomie.
Eine zunehmend globale und daher anonym agierende Marktwirtschaft, in der sich ein Produzent nur seinem Aktionär verantwortlich fühlt, lässt oft – im wahrsten Sinn des Wortes – nur verbrannte Erde und verletzte Menschen zurück. Markt und Wirtschaft entwickeln in einer solchen parallel existierenden Werte- und Verhaltenswelt eine Eigendynamik, in die gesellschaftliche Grundwerte, sozial-alternative Ansätze oder auch Impulse einer Schöpfungsspiritualität keinen Eingang finden. Besonders schlimm: Der Staat begünstigt durch seine (bisherige) Fixierung auf wirtschaftliche Wachstums- und Gewinnzahlen solches Verhalten und torpediert dadurch seine eigenen Grundwerte.
Wenn nun aber statt einer Finanzbilanz (auf Unternehmensebene) oder des BIP (auf volkswirtschaftlicher Ebene) die Gemeinwohl-Werte als Erfolgsindikatoren gelten sollen – wie können diese „gemessen“ werden? Die GWÖ hat in einem breit angelegten Entwicklungsprozess ein solches Messinstrument, die Gemeinwohl-Bilanzierung (GWB), entworfen. Als Herzstück der GWÖ stellt sie einen Kompass dar, der die ethische und wertorientierte Entwicklung des Unternehmens vorantreibt.
Wirtschaft wird in der GWÖ umfassend gesehen. Jeder und jede ist in irgendeiner Weise in den Wirtschaftskreislauf eingebunden – ob als Produzent, Eigentümer, Lieferant, Geldgeber, Konsument, Mitarbeiter, Kunde, betroffene Umwelt usw. Daher kann auch jeder und jede Einfluss nehmen und dem Wirtschaftskreislauf einen ethischen Drall geben. In der GWB wird mit Hilfe einer Matrix gefragt, wie weit die genannten Werte in der jeweiligen „Berührungsgruppe“ realisiert sind. Die Schnittflächen ergeben zwanzig Themenfelder, für die der Gemeinwohl-Wert mit Punkten beziffert wird. Dabei geht es nicht darum, „Noten“ zu vergeben, sondern Verbesserungspotential für eine weitere Realisierung des Gemeinwohls zu entdecken.
Ein Unternehmen, das eine GWB vornimmt, stellt sich beispielsweise folgende Fragen: Respektieren die Lieferant*innen die Menschenwürde ihrer Mitarbeiter*innen (A1) und welche Umweltauswirkungen hat die Zulieferkette (A3)? Wie werden Arbeitsverträge solidarisch und gerecht gestaltet (C2)? Wie leben wir Transparenz und Partizipation in unserer Organisation (C4)? Mit welchen Maßnahmen werden die ökologischen Auswirkungen unserer Dienstleistungen reduziert (D3)? Wie können Bürger*innen in Dialog mit uns treten und ihre Interessen einbringen (E4)?[5]
Die Effekte einer solchen Bilanzierung sind vielfältig: Gegenüber den Berührungsgruppen ergibt sich eine verstärkte Zugehörigkeit zu einer „öko-sozialen Community“. Betriebsintern stärkt eine solche Vision die Motivation von Mitarbeiter*innen durch Sinnstiftung und erhöhte Identifikation mit dem Unternehmen.
Letztendlich darf ein solches ethisches Handeln keine „freiwillige Luxusleistung“ sein, sondern braucht rechtlich abgesicherte Anreizsysteme. Unternehmen mit einem nachgewiesen hohen Gemeinwohl-Beitrag sollen durch niedrigere Steuern, geringere Zölle, günstigere Kredite und Vorrang beim öffentlichen Einkauf etc. bevorteilt werden. Es kann nicht sein, dass Unternehmen gleich behandelt werden – egal ob sie Raubbau an Natur oder Menschen betreiben oder einen ethisch wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten. GWÖ will dadurch zu einem größeren Fairplay im Spiel des Marktes beitragen und versteht sich als eine zivilgesellschaftliche Bewegung mit Einflussnahme auf die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Ebene. Sie will „von innen heraus“ zu einer umfassenden Transformation des Wirtschaftens beitragen.
Sofort.
„Sofort ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm.“ (Mt 4,20) „Sofort“ – ein sympathisches Wort, das an wichtigen Stellen im Evangelium vorkommt und dessen Botschaft heute dringend nötig ist. Etwas Unbedingtes liegt in diesem Anruf, er lässt keine Ausreden und keinen Aufschub zu. Gilt das nicht auch für die globale Krise?
Die Kirche ist im Propagieren von Werten stark. Der anwendungsorientierte Ansatz der GWÖ und seine Instrumente könnten ein wichtiger Impulsgeber für die konkrete, sofortige Verwirklichung solcher Werte in der Pastoral und damit ein Hoffnungsschimmer für den krisengeschüttelten Globus sein. Papst Franziskus zeigt sich darin mit der Gemeinwohl-Ökonomie einig: „Die Würde jedes Menschen und das Gemeinwohl sind Fragen, die die gesamte Wirtschaftspolitik strukturieren müssten …“ (EG 203).
Inmitten einer globalisierten, zusammengewachsenen Welt können die vielfältigen „christlichen Gemeinschaften“ und Institutionen ein kraftvolles Zeichen für die Verwirklichung der Reich-Gottes-Botschaft sein. Als „Bindeglied“ zwischen einer oft als anonym erlebten, abstrakten Gesellschaft und dem vereinzelten, sich oft ohnmächtig fühlenden Individuum bilden solche soziale Zellen – gleich welcher Art – eine ungeheure Kraft in dem nötigen Transformationsprozess. Das Schöne daran: Man muss nicht erst auf eine Haltungsänderung der Politik oder anderer Unternehmen warten. Wir können heute beginnen. Oder besser noch: sofort!
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Johannes Panhofer, Dr. theol., ist Univ.-Ass. am Institut für Praktische Theologie der Universität Innsbruck und arbeitet an einer Habilitation, in welcher der Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie für Kirche und Pastoral in einer globalisierten Welt fruchtbar gemacht werden soll.
Bild: Editorial Cartoon by Graeme MacKay: https://mackaycartoons.net/about/#jp-carousel-15779
[1] Schellnhuber, Hans Joachim, Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München 22015.
[2] Von Weizsäcker, Ernst Ulrich/Wijkman, Anders u.a., Wir sind dran. Club of Rome: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt, München 52019, 90.
[3] Felber, Christan, Die Gemeinwohl-Ökonomie. Eine demokratische Alternative wächst, Wien 2014.
[4] https://web.ecogood.org/de/ (17-12-20)
[5] https://web.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/gemeinwohl-matrix/ (17-12-20)