Rezension zu Martina Bär, Urbane Logik und Theo-Logik (2020) – eine theologische Touristeninformation. Von Dag Heinrichowski SJ.
Wenn Jesus über das Reich Gottes spricht, gebraucht er Bilder, die einer ländlichen Bevölkerung eher zugänglich sind als einer städtischen. Hirten trifft man selten in Großstädten. Vor dem ersten Lockdown haben die wenigsten Menschen in ihren Stadtwohnungen Sauerteig zum Brotbacken verwendet. Aber spätestens mit Paulus hat sich die Verkündigung des Reiches Gottes in die Städte verlagert.
Seit Paulus haben sich aber sowohl die Verkündigung als auch die Städte verändert. Wie die Rede von Gott unter diesen neuen Bedingungen der (europäischen) Großstädte gelingen kann, erörtert Martina Bär, in ihrer Habilitationsschrift „Urbane Logik und Theo-Logik. Gottesreden in (post-)modernen Stadtgesellschaften“.
Die Großstadt ermöglicht neue Einsichten auf Gott.
Die Fragestellung ist relevant, denn: „Die Großstadt ist der Inbegriff der modernen Gesellschaft.“ (S. 61) In Großstädten zeigen sich gesellschaftliche Entwicklungen, Trends und Transformationsprozesse früher und deutlicher als anderswo. Und da Urbanität auch das Kirche-Sein verändert, sieht M. Bär in der Großstadt, einen Ort der theologischen Erkenntnis, einen locus theologicus (vgl. z. B. S. 27 und 101).
Die Großstadt ermöglicht neue Einsichten auf Gott. Voraussetzung dafür ist allerdings, „dass die normative Abwertung der Stadt als profan aufgehoben wird.“ (S. 79). Das himmlische Jerusalem und die Hure Babylon – so eindeutig ist es bei den meisten Städten zum Glück nicht. Und M. Bär gelingt es, diese Komplexität und Ambiguität, die der Thematik ihrer Habilitationsschrift zu Grunde liegt, offen zu lassen und die Spannung zu halten.
„Each city matters in it’s own way“
Die Studie ist interdisziplinär angelegt. Aus verschiedenen soziologischen Blickwinkeln wird die Realität der Großstadt in den Blick genommen. Der stadtsoziologische Ansatz der Eigenlogik einer Stadt (nach Helmuth Berking und Martina Löw) wird als „Zeichen der Zeit“ qualifiziert (vgl. 193) und zeigt, dass von Städten nicht in allgemeinen Floskeln gesprochen werden kann.
„Each city matters in it’s own way“ (S. 247) ist ein Vorzeichen für die Frage nach der adäquaten Gottesrede. Warum die Eigenlogik sich auf die Ebene der Stadt und nicht auf einen einzelnen Stadtteil bezieht, erschließt sich bei der Lektüre nicht ganz, aber es erscheint legitim, dass eine Theologin die Erträge der soziologischen Perspektiven für ihre theologische Analyse übernimmt, ohne jeden Richtungsstreit oder in jedes Detail vertiefend auszuhandeln (vgl. S. 256). Gerade Kunst und Kultur sind in Großstädten besonders präsent und geben Hinweise darauf, dass nur eine Kommunikation ankommt, die dialogisch und ästhetisch ansprechend formuliert ist.
Neue Sichtweisen auf die Stadt und den Raum der Kirche.
Der ausführliche soziologische Teil der Arbeit bereitet das Feld für eine theologische Annäherung an die Gottesrede in eben diesen sozialen Räumen. Und es gelingt M. Bär, in der kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Stadtsoziologien, eine Bresche für die Theologie und die Anliegen der (christlichen) Religion zu schlagen. Vor allem in Hinblick auf eine ethische Dimension der Eigenlogik einer jeweiligen Stadt, bleiben Räume offen, die die Kirche mit ihrer Verkündigung und Praxis erschließen kann.
Dazu ist die Kenntnis der Stadt und ihrer spezifischen Eigen-Logik hilfreich: „Räumliche Aneignungsprozesse bewirken eine religiöse Transformation. Auch die Kirche könnte sich an dem räumlichen Aneignungsprozess beteiligen. (…) Wenn also die Kirche nicht nur als materiell gewordener Kirchenraum gesehen wird, sondern mithilfe dieser Raumsoziologie zugleich als sozialer gesehen wird, dann entstehen neue Sichtweisen auf den Raum der Kirche.“ (S. 249)
Kirche kann für eine Atmosphäre sorgen, in der sich kirchenferne Menschen heimisch fühlen.
Es geht nicht um die Okkupation von Räumen für die Kirche, sondern um das gemeinsame Gestalten. Dadurch kann die Atmosphäre einer Stadt positiv beeinflußt werden: „Die Kirche kann selbst für eine Atmosphäre sorgen, in der sich kirchenferne Menschen und Nicht-Christen heimisch fühlen.“ (S. 249)
Schon in den ersten städtischen Gemeinden, war es diese Atmosphäre, der Blick auf die soziale Stellung unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft, die die Christ*innen beizutragen hatten: „Die alltägliche und selbstverständliche Praxis einer römisch-griechischen Stadtgesellschaft wurde (…) durch den Christusglauben kritisch hinterfragt und im Innern der Gemeinschaft des christlichen ‚Vereins‘ modifiziert.“ (S. 85)
Dieses Modifizieren oder Prägen kann mit dem Term „Spacing“ bezeichnet werden und funktioniert auch heute noch: „Spacing meint, dass sich die Christ*innen in einer kirchlich urbanen Verkündigung den Stadtraum aneignen können, indem sie dem routinierten praktischen Sinn der Stadtlogik etwas Anderes entgegensetzen.“ (S. 319)
Freiheit als Konvergenzpunkt von Urbaner Logik und Theo-Logik.
Die theologische Analyse, die auf den sehr ausführlichen, soziologischen Teil aufbaut, nimmt den Ausgangspunkt der Rede von Gott (Theo-Logik) – in Abgrenzung zu Hans-Urs von Balthasar, dessen Theo-Logik inkarnatorisch-ökonomisch begründet ist – in der autonomen Freiheit des Menschen: „In einer freiheitstheoretisch begründeten Theo-Logik bildet die autonome Freiheit den Konvergenzpunkt von Urbaner Logik und Theo-Logik.“ (S. 281).
Die starke Betonung der Freiheit, die dem Großstadtmenschen wichtig ist und der die Großstadt einen Erlebnisraum bildet, ist ohne Zweifel ein wichtiges Kriterium der (post-)modernen Gottesrede. Gleichzeitig wirkt das Denken der autonomen Freiheit etwas zirkulär. Es wäre sicher spannend gewesen, dieses Verständnis der Freiheit noch stärker und expliziter mit dem Verständnis der Freiheit bei Balthasar ins Gespräch zu bringen.
Die je eigene Logik einer Stadt fordert die Kreativität der Gottesrede heraus, die schon von Jesus vorgelebt wurde in den verschiedenen Gottesbildern, die er in seinen verschiedenen Gleichnissen nutzt. Und weil diese Verkündigung vielfältig ist, baut sie auf das gemeinsame Priestertum aller Getauften und die Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen, die die Stadt gestalten wollen.
Die vorgelegte Theo-Logik zeigt Wege und Möglichkeiten auf, aber nimmt einem selbst die Erkundungen und das Denken nicht ab.
Die vorgelegte Theo-Logik erinnert an die Touristeninformation in einer Stadt. Sie macht Angebote, zeigt Wege und Möglichkeiten auf, aber nimmt einem selbst die Erkundungen und das Denken in den verschiedenen theologischen Disziplinen nicht ab – anregend gerade auch für Pratiker*innen in Bistümern und Stadtpfarreien.
Aufbauend auf einer soliden Erläuterung der verschiedenen urbanen (Eigen-)Logiken, gibt die Theo-Logik Mittel an die Hand, um die entschiedene Frage zu stellen: An wen richtet sich die Verkündigung eigentlich? Und wie kann diese Verkündigung dazu beitragen, die Stadt gerechter und freier zu gestalten und so ihrem Wohlergehen (M. Theobald) zu fördern? Gerade die theologische, sowie der abschließende Teil zeigen vielfältige und konkrete Möglichkeiten auf, wie die Kirche das Leben in der Stadt reicher machen kann und wo ihre Botschaft und Präsenz auf Resonanz stoßen könnte. Ein Spielfeld sieht M. Bär in der Sakramentenpastoral, bzw. der Begleitung Kirchenferner durch (Schwellen-)Rituale.
Der Stadtraum ist ein lebendiger, kreativer Schöpfungsraum.
Entscheidend ist die Grundhaltung der Kirche und ihrer Akteur*innen: „In einer kirchlichen urbanen Gottesrede darf getrost davon ausgegangen werden, dass der Stadtraum kein gottloser Raum ist. (…) Denn trotz aller Entkirchlichung und Entchristianisierung ist der Stadtraum ein lebendiger, kreativer Schöpfungsraum, in dem sich Transzendenzerfahrungen auch jenseits der Stadtpfarrei in außer-kirchlichen Situationen und nicht-kirchlichen Milieus ereignen können.“ (S. 369)
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Martina Bär, Urbane Logik und Theo-Logik. Gottesrede in (post-)modernen Stadtgesellschaften, Freiburg im Breisgau, 2020, 400 S.
Siehe auch:
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Text und Bild: Dag Heinrichowski SJ studiert Theologie am Centre Sèvres, der Hochschule der Jesuiten in Paris.