Der 6. Januar 2021 wird als einer der dunkelsten Tage in die amerikanische Geschichte eingehen. Wie konnte es soweit kommen? Godehard Brüntrup SJ traut es Joe Biden zu, das zerrissene Land als Präsident wieder mehr zusammenzuführen.
Das Inferno
Ein gewalttätiger Mob entweihte den Tempel der Demokratie, gewählte Volksvertreter mussten flüchten, es gab Tote. Dieses Ereignis markiert den Endpunkt des sich immer mehr beschleunigenden moralischen und politischen Zerfalls der Präsidentschaft von Donald Trump, der sich erdreistete seinen Vizepräsidenten zum Staatsstreich aufzufordern. Das ist „impeachable“. In diesem Moment ließ er die demokratischen Masken fallen. Der Kaiser hatte keine Kleider, seine Nacktheit enthüllte eine armselige Figur, der es nur um die eigene narzisstische Kränkung ging. Seine visionäre Kraft reichte immer nur bis zum Spiegel.
Donald Trump fehlten für jedermann sichtbar die Voraussetzungen für das Amt. Dennoch wurde er gewählt.
Es war schon 2016 im Nominierungswahlkampf für jedermann sichtbar, dass Donald Trump die charakterlichen und auch intellektuellen Voraussetzungen für dieses hohe Amt fehlten. Dennoch wurde er gewählt und damit dann demokratisch legitimiert von einem Volk, das in ihm eine Art Robin Hood sah, einen Anwalt des kleinen Mannes, einen Freund der Verlierer der neoliberalen Globalisierung, jemanden, der den Sumpf des Establishments trockenlegen könnte.
Sein Konkurrent Senator Ted Cruz durschaute ihn damals, nannte ihn einen „pathologischen Lügner“, überwarf sich mit ihm. Vier Jahre später war Cruz dann aber interessanterweise einer der letzten Getreuen des abgewählten Präsidenten. Cruz und einige Senatoren wollten bei der eher zeremoniellen Stimmauszählung der Staaten die Vorwürfe von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl noch einmal debattieren. Ein politisches Theater, das die Demokraten z.B. bei der Wahl von G.W. Bush im Jahre 2004 auch aufführen ließen.
Und so diskutierte man dann tatsächlich die mutmaßlichen physischen Belege ungültiger Briefwahlzettel, die in Arizona angeblich erst nach dem Ablauf der Wahlfrist abgegeben wurden, just in dem Moment als der Mob von außen die Türen aufbrach. Die anarchische Horde setzte kurioserweise genau dem Vorgang ein harsches Ende, den sie vorher immer gefordert hatte.
Trump war zu einem nützlichen Werkzeug geworden, eine kompromittierende Ko-Abhängigkeit war entstanden.
Cruz wusste wohl, dass er mit dieser Polit-Inszenierung den Amtsantritt Bidens nicht mehr verhindern konnte. Warum hat er sich dennoch für seinen früheren Intimfeind Trump eingesetzt? Die Antwort ergibt sich aus der Logik der Macht. Zum einen rechnete er vor dem Aufstand des Mobs noch damit, dass Trump auch nach seiner Präsidentschaft eine wichtige Rolle in der republikanischen Partei spielen könnte. Der zweite Grund ist wichtiger: Trump war in den vier Jahren seiner Präsidentschaft für die Republikaner und manche andere, auch in der katholischen Kirche (!), zu einem nützlichen Werkzeug geworden, eine kompromittierende Ko-Abhängigkeit war entstanden.
Vom Kulturkampf zum kalten Bürgerkrieg
Amerika befindet sich nicht nur in einem heftigen Kulturkampf zwischen linker Identitätspolitik und traditionell christlichem Familienbild, zwischen radikalen Abtreibungsbefürwortern und Abtreibungsgegnern, zwischen wirtschaftsliberalen Kräften und einer neu erstarkten sozial-ökologischen Linken.
Nein, es ist mehr als das: Der Kulturkampf ist schleichend in einen kalten Bürgerkrieg übergegangen. Wäre Trump wiedergewählt worden, dann wäre das Land wohl von schweren Unruhen erschüttert worden. Die Sicherheitsbehörden waren am Wahlabend in Alarm. Denn zunehmend stehen sich gewaltbereite Gruppen von links und rechts in den Straßen gegenüber, bewaffnet und auch bereit zu töten.
Anteil der Gewaltbereiten nimmt in beiden Lagern in erschreckendem Maße zu.
Die anlässlich der rassistisch motivierten Gewaltexzesse weißer Polizisten ausbrechenden Unruhen im Sommer 2020 waren größtenteils von friedvollen Protestierenden getragen. Das gilt auch für ihre Gegenstücke bei den Kundgebungen der Trump-Anhänger. Aber der Anteil der Gewaltbereiten nimmt in beiden Lagern trotz jeweils gebetsmühlenhaft vorgetragenen Beteuerungen des Gegenteils in erschreckendem Maße zu.
Der radikale Flügel der Linken griff im Mai das Weiße Haus mit Molotow-Cocktails an, legte Feuer an eine historische Kirche und andere öffentliche Gebäude, plünderte Geschäfte. Während einer Black-Lives-Matter Demonstration wurden fünf Polizisten erschossen. Der gute emanzipatorische Zweck heiligt nicht die Mittel. Verblendete rassistische Gruppierungen auf dem rechten Rand wie etwa „White Boys“ kultivieren physische Gewalt. Ein Neonazi fuhr in eine Gegendemonstration und tötete eine Frau.
Der Staat ist unfähig, das Gewaltmonopol universell durchzusetzen.
Es sind aber nicht nur Rassisten, sondern auch klassisch Wertkonservative, die mit Gewalt sympathisieren oder sie anstiften. Militante Abtreibungsgegner sind hier ein Beispiel. Der Sturm des ideologisch gar nicht ganz homogenen verblendeten Mobs auf das symbolträchtige Kapitol ist nur der traurige Höhepunkt dieser gesamtgesellschaftlichen Eskalation der Gewaltbereitschaft. Die unklar schwankende Rolle der staatlichen Ordnungskräfte, die – je nach den politisch Verantwortlichen vor Ort – zwischen Tatenlosigkeit einerseits und martialischem Auftreten andererseits oszilliert, dokumentiert die Unfähigkeit des Staates das Gewaltmonopol universell durchzusetzen. So war es die afro-amerikanische Bürgermeisterin von Washington, die am Tag vor den Unruhen eine Amtshilfe des Bundes beim Schutz des Kapitols ablehnte.
Der Geist, den ich rief
In der durch ideologischen Kampf geprägten Situation erwies sich Trump für das konservativ-rechte Lager als nützlich, ja als unerwartetes Geschenk des Schicksals. Er hatte einen überraschend deutlichen Wahlerfolg. Er konnte die Arbeiterschaft stärker mobilisieren als jeder andere republikanische Kandidat der jüngeren Vergangenheit. Er konnte sogar Afroamericans und Hispanics besser mobilisieren als seine republikanischen Vorgänger. Er gestaltete die Innen- und Außenpolitik nach konservativen Grundsätzen, ernannte wertekonservative Richter in noch nie gesehener Zahl, legte sich ohne Furcht mit dem liberalen Establishment in Politik und Medien an.
Seine Unreife, sein pathologischer Narzissmus, seine emotionale Instabilität, seine Korrumpierbarkeit und sein Unverständnis der basalen demokratischen Regeln, all das war jetzt nicht mehr so wichtig, denn er lieferte, was gewünscht war.
Die konservative Christenheit erlebte Trump als ihren Beschützer im Kulturkampf.
Klammheimlich verachteten ihn die konservativen Eliten natürlich ob seiner Gewöhnlichkeit, seiner Ungebildetheit, seiner Unfähigkeit, komplexe Gedanken entwickeln zu können. Aber er war nützlich: als Bollwerk und Rammbock zugleich. Viele konservative Christinnen und Christen, Evangelikale aber eben auch Katholiken, haben ihn gewählt, weil er sich gegen die ungezügelte Abtreibungspolitik der Linken einsetzte, weil er Israel unterstützte, weil er den Religionsgemeinschaften Privilegien einräumte.
Obama hatte religiösen Gemeinschaften angedroht, Steuerprivilegien zu verlieren, wenn sie gleichgeschlechtliche Ehen nicht anerkannten, katholische Ordensfrauen sollten gegen ihren Willen in ihren Institutionen Abtreibungen finanzieren. All das hatte mit Trump anscheinend ein Ende. Die konservative Christenheit erlebte Trump als ihren Beschützer im Kulturkampf. Prominente Vertreter der Hierarchie wie Gerhard Kardinal Müller, Erzbischof Viganò und auch Timothy Kardinal Dolan stehen hier nur exemplarisch für viele katholische Würdenträger.
Man hätte es schon noch gerne vier weitere Jahre mit ihm ausgehalten. Aber dann kam das Virus.
Es war für sie nicht mehr wichtig, dass Trump sich mit Prostituierten eingelassen hatte, in jovialer Stammtischmanier sexistische oder rassistische Sprüche klopfte. Man feierte Trump als den religionsfreundlichsten Präsidenten aller Zeiten. Mehr als zwei Drittel der konservativen Protestantinnen und Protestanten und die Hälfte der Katholikinnen und Katholiken wählten ihn. Nicht wenige im katholischen Episkopat drückten dann auch ein Auge zu, wenn es um Trumps unmenschliche Flüchtlingspolitik und seinen unverhohlenen Nationalismus ging.
Man tröstete sich damit, dass bei ihm die Arbeitslosigkeit unter Afroamericans und Hispanics historische Tiefstände erreicht hatte. Wie gesagt: Trump war das nützliche Werkzeug. Man hätte es schon noch gerne vier weitere Jahre mit ihm ausgehalten. Aber dann kam das Virus: Die Pandemie legte Trumps Unfähigkeit, eine Jahrhundertkrise zu meistern, schonungslos an den Tag.
Die Integrität der Wahlen
Beide politischen Lager misstrauen dem Wahlsystem. Die Republikaner glauben, dass der Zugang zur Urne zu leicht und damit unsicher gemacht wird. Die Demokraten glauben, dass der Zugang zur Urne zu schwer und damit ungerecht gemacht wird.
Wegen der Pandemie wollte man die Präsidentschaftswahlen stärker per Briefwahl abhalten. In einigen Bundesstaaten änderte man das Wahlrecht so, dass nun nicht nur Briefwahl auf schriftliche Anfrage hin möglich war, sondern dass allen registrierten Wähler:innen die Wahlzettel unverlangt zugeschickt wurden. In 37 Bundesstaaten wurden – manchmal unter Anwendung von Covid-Notstandsgesetzen – Änderungen am Wahlrecht vorgenommen, zum Teil auch unter einer verfassungsrechtlich umstrittenen Umgehung der Parlamente.
All das schürte unter Republikanern die Angst vor Unregelmäßigkeiten bei der Wahl. Es gibt in den USA kein Meldesystem wie in Europa, es gibt keine Identitätskarte. Manch einer erhielt beispielsweise viele Stimmzettel, wenn mehrere Vormieter in seiner Wohnung gelebt hatten. Tote erbaten Wahlscheine. Bei den zurücklaufenden Wahlzetteln kann nicht immer verlässlich überprüft werden, ob sie wirklich vom angegebenen Absender stammen. Aber schon wenige tausend Stimmen können eine Wahl entscheiden.
Erweiterung des Briefwahlrechts: ein „Spiel mit dem Feuer“.
Eine unter anderen von Jimmy Carter geleitete Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts warnte daher schon im Jahre 2005 vor einer starken Ausdehnung der Briefwahl. Im Jahre 2020 nannte William Barr, als er noch Generalbundesanwalt war, die geplante Erweiterung des Briefwahlrechts ein „Spiel mit dem Feuer“. Denn Demokraten nützen die Briefwahl häufiger als Republikaner.
Ohne diesen Hintergrund hätte Trumps schamlose Fantasie von einem Wahlsieg viel weniger Wirkung entfalten können. Trump verstärkte demagogisch die Sorge um die Integrität der Briefwahl nach und nach in eine haltlose Dolchstoßlegende vom Wahlbetrug, vielleicht auch um sich eine narzisstische Kränkung bei der sich abzeichnenden Niederlage zu ersparen.
Wahlmanipulation ist ein beliebter Topos amerikanischer Politik. Dem Vertrauen in die Demokratie ist das abträglich.
Eine Kränkung hatte er schon erfahren, weil seine Gegner jahrelang behaupteten, er sei kein legitimer Präsident, sondern überhaupt nur durch russische Wahlmanipulation an die Macht gekommen. Wahlmanipulation ist ein beliebter Topos amerikanischer Politik. Dem Vertrauen in die Demokratie ist das abträglich. Ende 2020 glaubten nicht nur eine deutliche Mehrheit der Republikaner, sondern auch viele Demokraten, dass das Wahlsystem nicht integer sei. Die Nation traut ihren Wahlen nicht mehr uneingeschränkt.
Aber ohne einen Hauch von Zweifel: Die Wahl von 2020 ist von allen vollständig anzuerkennen, nachdem längst alle rechtlichen Mittel der Einsprache erfolglos ausgeschöpft wurden. Das sind die Regeln des Rechtsstaates. Es darf keine klammheimliche Diskussion darüber geben, ob Biden der rechtmäßige Präsident ist. Es gibt sie leider immer noch, auch in rechts-katholischen Internet-Zirkeln, nicht nur in den USA.
Joe Biden muss seinen Gegnern im republikanischen Lager mit Respekt begegnen, so schwer das im Moment auch fällt.
Das zerrissene Land muss sich unter einem Präsidenten aller Amerikaner vereinen können. Dazu muss Joe Biden seinen Gegnern im republikanischen Lager mit Respekt begegnen, so schwer das im Moment auch fällt. Ich traue gerade ihm das charakterlich zu. Er ist ein Mann des Ausgleichs. Wenn also die Republikaner ihn ohne Vorbehalte als gewählten Präsidenten anerkennen und er sie als eine demokratisch legitimierte Opposition würdigt, dann kann das zerrissene Land vielleicht langsam heilen.
Den Religionsgemeinschaften kann in diesem Prozess eine stützende Rolle zukommen. Die junge Generation der Evangelikalen entdeckt gerade die soziale und ökologische Relevanz des Evangeliums. Das Vorbild von Martin Luther King und seines friedvollen Marsches nach Washington kann noch immer eine religiöse Inspiration für die neu erwachte anti-rassistische Bewegung und eine Black-Liberation-Theology sein. Endlich wurde mit Wilton Daniel Gregory ein Afroamerikaner zum Kardinal ernannt.
Dienst der katholischen Kirche an der Gesellschaft: die Spannung zwischen dem konservativen und liberalen Lager in ihr selbst abzubauen.
Die katholische Kirche ist im amerikanischen Parteiensystem nahezu halb und halb in die beiden bitter verfeindeten Lager gespalten. Sie könnte einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft leisten, wenn es ihr gelänge, die Spannung zwischen dem konservativen und liberalen Lager in ihr selbst abzubauen. Die Anstrengungen, die das auf beiden Seiten erfordert, werden erheblich sein.
In der jetzigen prekären Situation müssen auch die prominenten Trump-Unterstützer in der katholischen Kirche wirksam Abbitte leisten, die glaubten, dass im Kampf gegen die liberale Säkularisierung der Zweck die Mittel heilige. Setzen beide Seiten aber weiter auf Konfrontation, dann könnte die Spirale der Gewalt noch weitergedreht werden. Das kann niemand wollen.
___
Godehard Brüntrup SJ ist Professor für Metaphysik, Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie an der Hochschule für Philosophie in München. Er forschte und lehrte seit Jahrzehnten vielfach in den USA.
Bild: pixabay.com
Bei feinschwarz.net zum Thema ebenfalls erschienen: