Martin Schäubles neuer Roman »Cleanland« schildert eine Dystopie: ein Leben nach „der großen Pandemie“. Totalitär setzt der Staat rigorose Hygieneregeln durch. Religion kommt in »Cleanland« nicht vor. Wie auch? Immer wenn es um Menschlichkeit gehen würde, entscheidet der Computer. Von Konstantin Sacher.
Als vor über 500 Jahren in Breslau die Pest ausbrach, fragte man auch Martin Luther nach Rat. Diese kleine Geschichte wurde in den letzten Monaten immer wieder erzählt. Seine Antwort ist überliefert und kann nachgelesen werden. Sie ist ziemlich weise und durchaus wissenschaftsfreundlich.
Wie wird es nach der Pandemie weitergehen? Hoffentlich nicht wie in »Cleanland«!
Wenn uns heute manche Entwicklung in der Pandemie einfach nur staunen oder auch erschaudern lässt und es offensichtlich ist, dass auch die klügsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur begründete Vermutungen aufstellen können, warum nun gerade das und nicht jenes passiert, dann ist das jedoch sicher nur ein milder Abklatsch dessen, was die Menschen damals empfanden, als die Pest in ihre Stadt kam. Niemand wusste wirklich was geschah, niemand wusste wirklich Rat. Also fragte man in der Verzweiflung den Reformator. Die Welt war geheimnisvoll und düster. Letztlich blieb den Menschen nicht viel mehr übrig als Fliehen und/oder Beten.
Zum Glück ist es heute anders. Wir wissen so viel, wir haben so gute Experten und Expertinnen, dass es nicht einmal ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie bereits einen Impfstoff und Hoffnung auf ein kommendes Ende des Schreckens gibt. Doch wie wird es nach der Pandemie weitergehen? Hoffentlich nicht so, wie es in Martin Schäubles neuen Roman »Cleanland« geschildert wird.
Das Buch ist eine Dystopie: nach »der großen Pandemie«.
Dieses Buch ist eine Dystopie. Es handelt sich allerdings um eine, die zu Beginn des Jahres 2021 irgendwie erschreckend nahe zu sein scheint. Cleanland firmiert als Jugendbuch. Getrost kann es aber auch von Erwachsenen mit Gewinn gelesen werden. In dem Roman geht es um das Leben in einem Land nach »der großen Pandemie« wie es immer wieder heißt. Die Menschen tragen stets Ganzkörper-Protektoren und Gesichtsschutz, werden immerzu mit Desinfektionsmittel besprüht und dürfen persönlichen Kontakt, außer zu ihren Familien, nur zu einer weiteren eingetragenen Kontaktperson haben. Das hört sich zunächst gar nicht so viel anders an als das Leben, wie wir es im Moment leben.
Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Das Leben in Cleanland findet »nach der großen Pandemie« statt. Wir leben mitten in einer großen Pandemie. Es spricht alles dafür, dass die Hoffnung berechtigt ist, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden, nach deren Beendigung wir wieder normal – also ohne all diese Regeln – leben werden. In Cleanland gelten die Hygieneregeln ohne Verfallsdatum.
Gesundheitsregeln gehen einher mit totaler Überwachung – ermöglicht durch Durchdigitalisierung der Gesellschaft.
Dass sich die Dystopie von Cleanland so real anfühlt, das liegt noch an etwas anderem. All die Gesundheitsregeln gehen in Cleanland nämlich einher mit einer totalen Überwachung, die durch die Durchdigitalisierung der Gesellschaft ermöglicht wird. Die Menschen tragen kleine Computer an ihren Handgelenken, die ungefähr all das können, was wir uns von unseren Smartphones zumeist schon kennen oder bald kennen werden: Körperdaten werden gemessen, alle mögliche Kommunikation wird dort zusammengeführt, man checkt überall ein und wieder aus, reserviert Bänke in Parks oder Plätze in Bahnen.
Ohne einen solchen Computer sind die Menschen völlig aufgeschmissen. Sie kommen nicht einmal mehr in die eigene Wohnung. Die Daten der Computer werden dann zusammengeführt bei einer nicht näher beschriebenen, aber dennoch bedrohlich im Hintergrund stehenden Staatsmacht.
Die Protagonistin flieht aus Cleanland in die Sicklands.
Wer sich nicht an die Regeln hält, fliegt sofort auf und wird aus der Ferne quasi abgeschaltet. Diese Person erwartet zwei Alternativen. Entweder sie wird in Heimquarantäne geschickt, in einen »Saferoom« verbannt, was eine Art Aquarium für Menschen innerhalb der eigenen Wohnung ist, das man aber nicht selbstständig verlassen kann. Möglich ist aber ebenfalls, dass sie in ein »Motivation Academy« genanntes Umerziehungslager geschickt wird, wo die Menschen dann durch Drogen paralysiert vor sich hinvegetieren.
Was in der Beschreibung recht düster klingt, liest sich dennoch ganz unterhaltsam. Die Protagonistin Schilo, ein Teenager, erlebt ihr Erwachen in dieser Welt. Es ist von Beginn an irgendwie klar, dass sie ausbrechen wird. So wird die doch eigentlich düstere Geschichte, deren Kern die Rettung einer Freundin und deren Bruders und schließlich die Flucht aus Cleanland in die Sicklands ist, ständig von einem Hoffnungsschimmer überzogen.
Erschreckende intuitive Sympathie für das wirklich schreckliche Unterdrückungsregime von Cleanland.
Es gelingt Martin Schäuble außerdem, das Leben in Cleanland trotz der vielen Schattenseiten so zu zeichnen, dass man es nicht völlig schlimm findet. Ob das daran liegt, dass wir vieles von dem, was hier beschrieben wird, eben schon kennen oder irgendwie damit rechnen, dass es demnächst Wirklichkeit werden wird? Oder haben wir einfach aufgrund der aktuellen Pandemiesituation Verständnis für staatliche Einschränkungen zugunsten der Hygiene?
Ich bin mir nicht sicher woher meine eher intuitive Sympathie für das wirklich schreckliche Unterdrückungsregime von Cleanland herrührt. Und natürlich schwindet die Sympathie nach der ersten Reflexion über das Gelesene – zu brutal ist der Unterdrückungsapparat und zu brainwashed ist die Gegenspielerin Schilos, die ausgerechnet die eigene Mutter ist.
Wie hält es Cleanland mit der Religion? Überhaupt nicht.
Das Ganze ist also ein gutes, spannendes Buch und lässt einen auch oder gerade wegen der vielen Bezüge zu unserer heutigen Wirklichkeit nicht los. Doch jetzt zur für einen Theologen unweigerlichen Grechtchenfrage: Wie hält es Cleanland mit der Religion?
Die Antwort ist zunächst einfach: überhaupt nicht. Religion kommt nicht vor. Nicht einmal angedeutet, nicht einmal im Hintergrund. Man kann nicht einmal religiöse Anleihen finden in der Geschichte. Außer vielleicht, dass Schilo irgendwie nach Erlösung strebt aus dieser überhygienischen Welt, aber das ist dann auch zu billig. Ich denke dennoch, dass gerade in dieser Leerstelle eine theologisch interessante Pointe liegt.
Entzauberung der Welt?
Die auf Max Weber zurückgehende, aber in seiner Verwendung längst von ihm abgekoppelten Rede von einer Entzauberung der Welt durch die Rationalisierung und Intellektualisierung in der modernen Gesellschaft kann uns hier vielleicht auf eine Fährte führen. Die Entzauberung der Welt soll meist darauf hinweisen, dass in der modernen Gesellschaft kein Platz mehr für Religion ist. Die seit der Aufklärung entstandenen Wissenschaften ließen keinen Platz mehr für das Zauberhafte der Welt, für das Geheimnis. Alles muss heute erklärbar sein. Keiner fragt mehr einen Pfarrer um Rat, wenn er etwas über eine Krankheit wissen will.
Lässt man einmal beiseite, dass die Welt sich seit Webers berühmtem Vortrag Wissenschaft als Beruf (1917), aus dem dieses Zitat meist entnommen wird, noch ziemlich verändert hat und lässt man einmal ebenso beiseite, dass die im Hintergrund stehende These vielfach widerlegt oder zumindest glaubwürdig in Zweifel gezogen wurde, dann ließe sie sich durchaus für eine Begründung der völligen Religionslosigkeit der Cleanlander anführen. Dafür muss man sie allerdings wie altes Brot noch einmal neu aufbacken.
Solange es um Menschen geht, bleibt Endlichkeit ein Thema.
War in den letzten 100 Jahren seit Webers Erfindung dieses Begriffs wohl doch noch ein wenig Platz für Zauber, scheint es doch so, dass die Zauberei durch die in Cleanland so eindrucksvoll dystopisch vorgeführte Digitalisierung nun endgültig aus den letzten Ecken oder den dunklen Wäldern, in die sie sich zurückgezogen hat, vertrieben wird.
Nun eigentlich kann es daran gar keinen Zweifel geben, dass die Digitalisierung das Ende der Religionen bedeutet. Spricht darüber eigentlich jemand? Denn: Auch ein noch so rational denkender Erdenbürger, auch eine noch so moderne, unreligiöse Zeitgenossin bleibt Mensch. So sehr sie sich auch anstrengen mögen, die großen Fragen der Menschheit, die letztlich das Fundament aller Religiosität bilden, bleiben für jeden Menschen von Bedeutung. Auch für sie sind die berühmten letzten Fragen noch letzte Fragen. Solange es um Menschen geht, bleibt Endlichkeit ein Thema und solange Endlichkeit ein Thema bleibt, gibt es zumindest noch ein Einfallstor für den Zauber in die Welt.
Computer sind nicht religiös.
Und in Cleanland? Dort spielen diese Fragen keine Rolle. Doch das liegt nicht daran, dass die Menschen in Cleanland nicht endlich wären. Das liegt daran, dass immer dann, wenn es darum gehen würde, zu reflektieren, der Computer einspringt. Die Menschen in Cleanland sind Zombies geworden. Sie sind tot, nicht weil ihre Lebensfunktionen aufgehört hätten. Sie sind tot, weil immer dann, wenn es um Menschlichkeit gehen würde, der Computer entscheidet.
In Cleanland haben die Menschen alle Verantwortung an Computer abgegeben. Damit ist auch klar, warum es hier keine Religion mehr geben kann. Kann man zumindest noch darüber streiten, ob Religion eine eigene Provinz im Gemüthe des Menschen ist, ist hingegen unbestreitbar: Computer sind nicht religiös.
Ob es in den Sicklands wohl religiöse Menschen gibt?
Ist die Welt seit Max Webers Wort also durchaus noch teilweise verzaubert gewesen, treten wir spätestens mit der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung in eine Phase der absoluten Entzauberung ein. Digitale Welten kennen keine Endlichkeit, digitale Welten stellen sich keine letzten Fragen, oder? Die fortschreitende Digitalisierung wird diese Welt also wirklich entzaubern, auch darauf weist dieser lesenswerte Roman hin.
Er lässt aber glücklicherweise ein Schlupfloch: die Sicklands. Dort flieht Schilo mit ihren Freunden hin. Ob es in den Sicklands wohl religiöse Menschen gibt? Das wird nicht beantwortet, wie überhaupt das ganze Religionsthema erst nachträglich an den Roman herangetragen ist.
Sollten wir nun Mut zum Kulturpessimismus zeigen?
Und jetzt zur zweiten Grechtchenfrage: In welcher Welt wollten wir leben? Ist es nun schlimm, wenn das Religiöse ganz verschwindet? Sollten wir Religiösen nun Mut zum Kulturpessimismus zeigen? Sollten wir endlich aufbegehren gegen die computerbestimmte Zukunft?
Nun, es wäre, zumindest was uns hier in Deutschland, Österreich oder der Schweiz betrifft, ein vielleicht heroischer, aber dennoch vergeblicher Zwergenaufstand und damit letztlich keine sinnvolle Alternative. Oder leben wir sowieso eher in den Sicklands und die Menschen in China in Cleanland? Und selbst wenn wir wählen könnten: Wollen wir lieber Martin Luthers Rat oder die Verordnung einer mit allen nur auffindlichen Daten gefütterten KI in Bezug auf unsere Gesundheit hören?
Diese Fragen sind, zumindest für mich, offen. Sicher ist aber, dass Cleanland ein lesenswertes Buch ist, das anregt über all das nachzudenken.
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Konstantin Sacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie der Universität Leipzig und Schriftsteller.
Beitragsbild: Buchcover
Martin Schäuble, Cleanland, Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag 2020, 14,00 €
Von Konstantin Sacher ebenfalls auf feinschwarz.net erschienen:
The night is dark and full of terrors: Rezension zu »Gott in Game of Thrones«