Was passiert, wenn sich eine Gemeinde den Menschen im Sozialraum öffnet? Unspektakuläres und doch entscheidend Anderes, wie Pfarrerin Anke Mölleken erzählt.
Wenn man auf die Website deiner Gemeinde schaut, sieht es eigentlich aus wie in vielen anderen evangelischen Gemeinden in Deutschland. Worüber könnte man überrascht sein, wenn man dann zum Gottesdienst kommt?
Anke Mölleken: Der Gottesdienst der Lutherkirche hält wenig Überraschendes bereit. Die Liturgie ist geprägt von der Michaelsbruderschaft, es gibt ein vorangehendes Sündenbekenntnis, 2 Lesungen und ein gesungenes Kyrie und Gloria. Als ich vor Antritt der Pfarrstelle den Gottesdienst besucht habe, empfand ich ihn dennoch als sehr besonders. Ich kann bis heute nicht genau sagen, woran es lag. Vielleicht an der halbrunden Anordnung der Sitzbänke, die Blickkontakt zu anderen Gemeindegliedern während des Gottesdienstes ermöglichen. Vielleicht lag es an der großen Authentizität, mit der der Gottesdienst gefeiert wurde.
Sehr wahrscheinlich ist der Gottesdienst besonders, weil die Vielfalt der Gottesdienstbesuchenden angenehm groß war. Neben der jungen Familie saß ein ungepflegt aussehender Mann mit sehr abgetragener Kleidung, in einer Ecke saßen mehrere Menschen zusammen, die, wie sich hinterher herausstellte, aus dem Iran kamen. Die sonst übliche homogene Gottesdienstgemeinde, die ich in einem landeskirchlichen Gottesdienst erwarte, war durchmischter, als ich es kannte.
Wie sah die Gemeinde aus, als du deinen Dienst hier begonnen hast?
Als ich 2017 das Pfarramt übernommen habe, gab es eine gute Basis, die vor meiner Zeit geschaffen wurde. Die Förderung als Familienzentrum war beim Landesministerium beantragt. Die Gemeinde hatte ein gutes Netz zu den weiteren sozialen Akteuren des Stadtteils. Der Kirchenvorstand und mein direkter Kollege unterstützten mein Vorhaben, die Arbeit im Sozialraum fortzusetzen und zu festigen. Zunächst mussten Strukturen angepasst oder geschaffen werden, die den Anforderungen der Mitarbeitenden angemessen waren. Schnell war klar, dass für das Engagement im Sozialraum eine halbe Stelle zusätzlich zur Pfarrerin nötig waren. Die Planung und Finanzierung dieser Stelle war ein wichtiger Grundstein für die Arbeit, die in der Lutherkirche nun geschieht.
Heute lache ich, wenn ich mich daran erinnere, was wir damals alles ausprobiert haben. Es hat sicher eineinhalb Jahre gedauert, um herauszufinden, welche Angebote für den Stadtteil wichtig sind, wo der Bedarf liegt und wie am besten ein Familiennachmittag durchgeführt wird. Das Team, die Mitarbeiterinnen und ich, haben viel dazu gelernt.
Du möchtest gern eine kirchliche Arbeit gestalten, in der sich alle gehört fühlen, die da sind. Wie sieht das konkret aus?
In der Lutherkirche ist jede*r Montag bis Freitag zum Mittagessen eingeladen. Das ist die Basis unserer Arbeit. Eine soziale Gruppenarbeit für Kinder ist dort jeden Tag zu Gast. Hinzu kommen Bewohnende aus dem Stadtteil und Mitarbeitende anderer sozialer Träger im Umfeld. „satt und selig“ – so lautet das Motto des Mittagstischs. Beim gemeinsamen Essen kommen die verschiedenen Themen vor, die Menschen im Stadtteil bewegt.
So kam es z.B., dass eine Eltern-Kind-Gruppe, die sich dort zum Essen verabredete, darüber redete, wie gern sie Sport machen würden. Dieses Thema kam immer wieder auf, bis die Köchin meinte, sie hätte große Lust, eine Zumba-Fortbildung zu machen. Wir finanzierten diese Fortbildung und seither wird 2mal in der Woche Zumba im Gemeindehaus angeboten (zur Zeit online, bei schönem Wetter draußen vor der Kirche). Bei Zumba ist es wichtig, dass die Musik möglichst laut und mitreißend ist. „Aus unserer Kirche kommt nicht solche Art von Musik“, sagen mir dann manchmal Passanten, die verwundert an der Lutherkirche vorbeigehen und sich über die laute Musik wundern.
Die Gemeinde hat sich dazu entschlossen, die Räume des Gemeindehauses (in einem Komplex mit dem Kirchraum) für alle Menschen im Stadtteil zu öffnen, ungeachtet ihrer Religion und Herkunft. Der Grundsatz, der hinter jedem Angebot steht, ist das Wohlergehen der Menschen, die unser Gelände aufsuchen. Gerade in diesen Tagen, in denen viele Familienmütter bis auf Äußerste ausgelastet sind, ist zum Beispiel „satt und selig zum Mitnehmen“ – ein warmes Mittagessen to go, ein wichtiger Beitrag für das Wohl der Familien, die in der Nähe der Kirche wohnen.
Welches Erlebnis aus deinem bisherigen Pfarrdienst in der Luthergemeinde hat dich am nachhaltigsten beschäftigt?
Es ist ein Satz, den ich immer mal wieder höre. Ein Satz, der mich skeptisch stimmt, manchmal auch traurig, aber auch immer wieder sehr erfreut. „Die Lutherkirche ist meine Familie geworden.“ Aufgrund der räumlichen Nähe zu einer großen Gemeinschaftsunterkunft für geflüchtete Menschen, finden immer wieder Menschen ihren Weg zu unseren Angeboten, die hier in Deutschland keine Familie und kein soziales Netz haben. Diese Begegnungen stimmen mich immer wieder traurig, weil das Schicksal von geflüchteten Menschen so unerbittlich ist. Skeptisch bin ich, weil ich hinter einem solchen Satz eine emotionale Manipulation vermute. Aber oft bleibt diese aus und ich stelle fest, der Satz kam aus freiem Herzen. Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, die Heimat zu verlassen und in dieser Ungewissheit eine neue Zukunft aufzubauen. Dass die Gemeinde, die Gemeinschaft, der Gottesdienst und die Begegnungen hier auf dem Gelände dazu beitragen, dass Menschen Kraft finden, für sich und ihre Familie zu sorgen, das freut mich sehr.
Wo begegnen dir Widerstände und was gibt dir Kraft, mit diesen umzugehen?
Widerstände begegnen mir vor allem im Terminplaner. Die Priorisierung, welche meiner Aufgaben die wichtigste ist, fällt mir sehr schwer. Nicht, weil ich unorganisiert bin, sondern weil ich viel Bedarf für Einzelgespräche sehe, aber natürlich nur begrenzt Zeit dafür habe. Zur Lutherkirche gehört auch die Betreuung von 4 Seniorenheimen, da ist es nicht immer leicht zu entscheiden, wem ich meine Aufmerksamkeit widme.
Außerdem ist es spannend, welche Vorstellung mir im Kollegium gelegentlich begegnet: Die Sozialraumarbeit der Lutherkirche hat nicht das Ziel, die Gemeindegliederzahl der Kirchengemeinde zu erhöhen. Ein solch quantitatives Denken liegt mir fern. Vielmehr ist unsere Arbeit ein Dienst an den Menschen, die in der Nähe der Kirche wohnen. Die Lutherkirche soll für alle Menschen ein Ort sein, von dem Kraft und Liebe ausgeht, unabhängig von ihrer Konfessions- und Religionszugehörigkeit. Dieses Konzept, nicht auf die Mitgliedszahlen zu schauen, ist nicht jedem Kollegen einleuchtend.
Wie gehst du in diesem Jahr auf Ostern zu?
Ich hoffe sehr, in diesem Jahr analoge Gottesdienste zu Ostern feiern zu können. Nachdem in 2020 Ostern und Weihnachten nur digital oder in sehr symbolischer Form stattgefunden hat, wäre es schön, wieder gemeinsam in der Kirche beten zu können. Wenn das nicht möglich sein sollte, werden wir aus den Erfahrungen von letztem Jahr lernen und ein schönes, dezentrales Osterfest vorbereiten. Auf jeden Fall freuen wir uns wieder darauf, unseren Mittagstisch draußen vor der Kirche unter dem Walnussbaum wieder anbieten zu können. Wir sehnen sehr den Frühling herbei!
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Anke Mölleken, Pfarrerin der Lutherkirche in Fulda. Ordination 2015, vorher 10 Jahre ehrenamtliches Engagement in kirchlicher Sozialraumarbeit in Berlin und Johannesburg, Südafrika. Seit 2015 Mitarbeit im Ausschuss „Gottesdienst und Migration“ der Liturgischen Konferenz.
Interview: Kerstin Menzel, Redaktionsmitglied von feinschwarz.net
Bild: Anke Mölleken