Erfahrungen zu machen, diese zu deuten und uns mit anderen darüber auszutauschen, ist eine so alltägliche Praxis, dass wir sie kaum als solche wahrnehmen. Wenn es um die Deutung von Missbrauch in der katholischen Kirche und das Sprechen darüber geht, stehen betroffenen Frauen diese Praktiken aber häufig nicht zur Verfügung. Magdalena Hürten geht diesem Problem mit Hilfe des Konzepts der epistemischen Ungerechtigkeit von Miranda Fricker auf den Grund.
Erfahrungen zu machen, diese zu deuten und uns mit anderen darüber auszutauschen, ist eine so alltägliche Praxis, dass wir sie kaum als solche wahrnehmen. Wenn es um die Deutung von Missbrauch in der katholischen Kirche und das Sprechen darüber geht, stehen betroffenen Frauen diese Praktiken aber häufig nicht zur Verfügung. Das machen ihre Berichte sehr deutlich.
Epistemische Ungleichheiten entstehen, wenn Personen daran gehindert werden, selbstständig Wissen zu bilden – z.B. in dem sie ihre eigenen Erfahrungen deuten – und sich mit anderen darüber austauschen. Werden Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von diesen Praktiken ausgeschlossen, ist von epistemischer Ungerechtigkeit zu sprechen. Fricker bewertet sie als eine gravierende Beschränkung einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit und damit als Verletzung der persönlichen Würde.[1] Dieser Ausschluss deutet sich auch in vielen Erzählungen von Frauen über Missbrauch in der katholischen Kirche an.[2]
Nicht gehört, nicht ernst genommen
Ihnen ist die Erfahrung gemein, nicht gehört oder nicht ernst genommen worden zu sein, wenn sie von ihrem Missbrauch berichteten. Das patriarchale Gefüge der katholischen Kirche, durch das Frauen strukturell von bestimmten Ämtern und Praktiken ausgeschlossen sind, legt den Verdacht nahe, dass es sich bei den Erfahrungen der Betroffenen um epistemische Ungerechtigkeit handeln könnte. Dieser Verdacht soll im Folgenden überprüft werden, indem die Erfahrungen Betroffener mit den zwei Dimensionen epistemischer Ungerechtigkeit abgeglichen werden, die Fricker definiert.
Ungerechtigkeitsdimension 1: Zeugnisungerechtigkeit
Die Berichte der Betroffenen machen deutlich, dass jede Form des Missbrauchs eine Verletzung der menschlichen Würde ist. Sie besteht in der Missachtung der Selbstbestimmung der Betroffenen und der Beeinträchtigung ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit. Mit der UN-Weltkonferenz 1993 in Wien wurde Gewalt an Frauen ausdrücklich als Menschenrechtsverletzung anerkannt. Die Betroffenenberichte zeigen aber, dass diese theoretische Einordnung von Gewalt gegen Frauen nicht automatisch zu einer Anerkennung ihrer konkreten Missbrauchserfahrungen führt. Häufig werden die Erzählungen der Betroffenen nicht verstanden bzw. missverstanden: Deutlich wird dies zum Beispiel an den Erfahrungen Ellen Adlers und Edith Schwarzländers.[3] Sie vertrauten die sexuellen Übergriffe, die sie erlebt hatten, Dritten an. Diese reagierten aber mit völligem Unverständnis. Eine Gesprächspartnerin stritt ab, dass es sexuellen Missbrauch erwachsener Frauen überhaupt geben könne, der andere gab der Betroffenen eine Mitschuld an den Vorfällen.
Im Status als Subjekte des Wissens nicht vollständig anerkannt
Solche Reaktionen sind Anzeichen dafür, dass den Betroffenen nur eine verminderte Glaubwürdigkeit beigemessen wird. Mit den Begriffen Frickers ausgedrückt: Sie werden in ihrem Status als Subjekte des Wissens nicht vollständig anerkannt.[4] Strukturelle Ursachen dafür sind in den patriarchalen Denkstrukturen, Praktiken und Vorurteilen zu sehen, die in der Kirche seit Jahrhunderten am Werk sind. Diese Strukturen schließen Frauen systematisch von der Wissensproduktion aus und führen im Fall des Missbrauchs dazu, dass sie nicht als glaubwürdige Zeuginnen ihrer eigenen Erfahrungen gesehen werden. Nach Miranda Fricker liegt hier eine Zeugnisungerechtigkeit vor. Die Erfahrung, nicht als vertrauenswürdige Zeugin anerkannt zu werden, kann eine tiefe Demütigung für die Betroffenen bedeuten und raubt ihnen die Möglichkeit, ihre Rechte einzuklagen.
Ungerechtigkeitsdimension 2: Hermeneutische Ungerechtigkeit
Frauen machen in der katholischen Kirche aber nicht nur die Erfahrung, dass sie nicht gehört bzw. verstanden werden, wenn sie die Verletzung ihrer Rechte und ihrer Würde anklagen. Vielfach erleben sie auch, dass das, was sie als Missbrauch bewerten, nicht als solcher anerkannt wird. Denn Missbrauch ist kein statischer Begriff, im Gegenteil: Der Begriff ist noch relativ jung und nach wie vor definitionsbedürftig. Er kann von unterschiedlichen Akteur:innen zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder neu gefüllt werden. In der katholischen Kirche waren es jahrhundertelang Männer, die den offiziellen lehramtlichen Diskurs bestimmten und dadurch die Rolle und das Bild der Frau sowie Recht bzw. Unrecht definierten.
Wissens- und Rechtsbildung
allein in der Hand des Klerus
Die Wissens- und Rechtsbildung lag allein in der Hand des Klerus. Frauen hatten keine Möglichkeit ihre Erfahrungen und ihre Gerechtigkeitsvorstellungen in den Diskurs miteinzubringen. Mit Fricker kann hier ein Gerechtigkeitsdefizit im Sinne einer hermeneutischen Ungerechtigkeit diagnostiziert werden. Der Ausschluss von Betroffenen aus dem Diskurs hat zum Beispiel zur Folge, dass die Bedeutung von Machtstrukturen bis heute oft unerkannt bleibt: „Frauen könnten ja einfach nein sagen.“[5] Die Berichte betroffener Frauen machen aber deutlich, dass die Autorität und die Macht der Täter oft so groß sind, dass die Betroffenen ihrem eigenen Urteil nicht mehr trauen und sich außer Stande fühlen, der Situation zu entgehen.
unfairer Nachteil
Hier ist ein unfairer Nachteil zu erkennen, wenn es darum geht, die eigenen Erfahrungen zu deuten. Dass Frauen aus dem Prozess, in dem die Bedeutung sozialer Erfahrungen ausgehandelt wird, aufgrund ihres Frauseins ausgeschlossen werden, ist mit Fricker allein schon als Ungerechtigkeit zu bewerten. Zusätzlich verhindert der Ausschluss die Aufklärung des Unrechts in Form des Missbrauchs und damit die Anerkennung des Leids, das den Betroffenen widerfahren ist.
Anerkennung und Aufarbeitung
Blickt man mit Fricker auf die Berichte der betroffenen Frauen, wird das Unrecht offenbar, das den Betroffenen auf verschiedenen Ebenen widerfahren kann und häufig widerfährt, wenn sie über ihre Missbrauchserfahrungen sprechen. Zur Verletzung durch die Täter (oder Täterinnen) gesellt sich die Verletzung durch Vertrauenspersonen und die Institution, die eigentlich für die Rechte der Betroffenen eintreten sollten. Stattdessen müssen Betroffene erleben, dass nach der Verletzung von Selbstbestimmung, Körper und Seele auch ihre Fähigkeit, als Subjekt von Wissen zu agieren, übergangen wird. Die Tatsache, dass ihnen zwei der alltäglichsten epistemischen Praktiken – das Deuten der eigenen Erfahrungen und der Wissensaustausch – verweigert werden, kann eine weitere Demütigung bedeuten.
den Weg frei machen für die Anerkennung erlebten Leids
Dieser Ausschluss verweist auf eine epistemische Ungerechtigkeit mit strukturellen Wurzeln und offenbart in der Kirche eine sowohl in epistemischer als auch in ethischer Hinsicht defizitäre Kultur.[6] Dieses Defizit in der kirchlichen Praxis zu erkennen, ist bereits der erste Schritt, um ihm entgegenzuwirken. Erst durch die Anerkennung der Ungerechtigkeit kann der Benachteiligung von Frauen auf epistemischer Ebene entgegengewirkt werden. Wo die Unrechtserfahrung des Missbrauchs den Betroffenen nicht mehr genommen werden kann, wird so wenigstens der Weg frei, auf dem sie ihre Rechte und die Anerkennung des erlebten Leids einklagen und nachträgliche Gerechtigkeit erwirken können.
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Autorin: Magdalena Hürten, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Universität Regensburg.
Foto: Kristina Flour / unsplash.com
[1] Vgl. Fricker, Miranda, Epistemic Injustice. Power and the ethics of knowing, Oxford 2007, 5.
[2] Wie im deutschsprachigen Raum u.a. veröffentlicht in: Wagner, Doris, Nicht mehr ich, Wien 2014; Haslbeck, Barbara/Heyder, Regina/Leimgruber, Ute/Sandherr-Klemp, Dorothee (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über sexuellen und spirituellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche , Münster 2020.
[3] Namen sind Pseudonyme; Berichte veröffentlicht in: Haslbeck, Barbara/Heyder, Regina/Leimgruber, Ute/Sandherr-Klemp, Dorothee (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über sexuellen und spirituellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche , Münster 2020, 29-33; 165-172.
[4] Vgl. Fricker, Miranda, Epistemic Injustice. Power and the ethics of knowing, Oxford 2007, 5.
[5] Haslbeck, Barbara/Heyder, Regina/Leimgruber, Ute/Sandherr-Klemp, Dorothee (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über sexuellen und spirituellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche , Münster 2020, 31.
[6] Vgl. Fricker, Miranda, Epistemic Injustice. Power and the ethics of knowing, Oxford 2007, 58f.