Robert Mucha denkt über Glaubenskommunikation in einer trost- und rastlosen Welt nach und sieht Trost als wichtigste Aufgabe von Kirche. Impulsgeberin ist die Bibel.
In seinem Buch „Lebenszeit und Weltzeit“ beschreibt der Philosoph Hans Blumenberg den Menschen als „ein Wesen mit endlicher Lebenszeit“, das „unendliche Wünsche“ habe.1 Während man im paradiesischen Zustand von Eden noch alle Zeit zum Genießen hatte, weil dort keine Begrenzungen existierten, hätten wir nun „immer weniger Zeit für immer mehr Möglichkeiten und Wünsche.“2 Man wolle um jeden Preis Zeit gewinnen, damit man die Existenz maximal auskosten kann. Der Mensch, so entwickelt Blumenberg das Bild weiter, sei durch die Aufklärung eines schönen Mythos beraubt: Es gibt kein Paradies mehr. In einer aufgeklärten und mythenlos-rationalen Welt fange ihn nichts mehr auf. Nichts schenke ihm noch Trost. Dazu komme die Unrast, in der kurzen Lebenszeit möglichst viel erleben zu müssen.3 Ungetröstet und durch die Zeit rasend – das ist der moderne Mensch.
Ungetröstet und durch die Zeit rasend – das ist der moderne Mensch.
Trotz dieser Trostlosigkeit tun Menschen alles für ihre Existenz und erschaffen sich „außerhalb Edens“ einen überschaubaren Lebensraum, in dem sie sich selbst Sinn zu geben versuchen. Religion ist für Blumenberg etwas, das über die Grausamkeit und Ignoranz der Natur hinwegtröstet, – aber in Wahrheit nicht mehr als eine Tapete auf einer von uns selbst hochgezogenen Wand, die Menschen wie einen sicheren Kokon gegenüber der feindlichen Welt aufrechterhalten – säkulare4 ebenso wie religiöse.
Dieses traurige Bild, das Blumenberg vom Menschen zeichnet, ist nicht gänzlich falsch, aber es trifft den Kern der Sache nicht. Religion kann Gläubigen ermöglichen, sich eben nicht in Mythenerzählungen oder monokausalen Denk-Kokons zu verpuppen. Gerade ein religiöser Mensch sollte in der Lage sein, billige Trostkokons zu zerreißen und selbstbewusst auf die nackte Existenz zu schauen, das Ganze zu sehen, weil er oder sie darin Gottes Schöpfung und eben keine eigenen Konstrukte erkennt. Ein gläubiger Mensch versucht nicht, das Paradies zurückzugewinnen, in das er sich wieder einlullen kann, sondern die eigene Existenz im Lichte dieses unbegreifbaren und geheimnisvollen Gottes auszuhalten, und nimmt dabei in Kauf, an dieser Welt und der ewigen Suche nach der Wahrheit zu leiden.
Gläubige verpuppen sich nicht in monokausalen Denk-Kokons.
Nur wer derart frei aus dem eigenen Save-Zone-Kokon heraustritt, kann auf andere „Kokonierte“ zugehen, sie so ansprechen, dass das alte „Idol“, was auch immer es sein mag, zurückgelassen und die Freiheit eines erwachsenen Glaubens gewagt wird. Das ist nicht leicht in einer pluralen Gesellschaft potenzierter und vielschichtiger Kokons. Unsere mythenlose, aber narrativreiche Welt ist rastlos, weil ihr die Perspektive der Transzendenz abhandengekommen ist. Wo die Weite der Transzendenz fehlt, muss man den Himmel auf Erden suchen und so finden heute viele Menschen Erfüllung in Freizeitgestaltung, Arbeit oder Liebesbeziehungen – alles Dinge, die nur dem Schein nach unendlich sind.
Ich bin überzeugt, dass die Kirche in diese Gesellschaft der Kokons hineinsprechen kann und muss – und etwas zu sagen hat. Doch zugleich erleben wir, dass sie sich seltsamerweise selbst verkokoniert: Man genügt sich selbst, fokussiert statt auf die Kernbotschaft auf eine bizarre moralische Ratgeber-Funktion, geht nicht aktiv mit einer Botschaft auf Menschen zu, sondern versucht, die Schäfchen im eigenen engen Kokon zu halten. Bisweilen vergrätzt man sogar diese „last (wo)men standing“ noch mit lehramtlichen Bullen und paternalistischer Pseudo-Milde, dass es auch noch diese in Scharen aus dem Raum der Kirche treibt. Ja, die Kirche muss und wird immer eine Form der „Anderwelt“ sein – ist niemals vollkommen mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten deckungsgleich; doch wir werden angefragt, ob unser hehrer Gegenentwurf zur Welt nicht zu einer doppelbödigen und heuchlerischen Sache geworden ist.
Kurzum: Glaubenskommunikation funktioniert heute vor allem aus dem Grund nicht, weil wir selbst „drinnen“ bleiben – verhaftet in der eigenen Komfortzone, abgehoben von der Welt wie die griechischen Klöster Meteoras – und vermutlich auch deshalb, weil wir schlicht und ergreifend selbst nicht elementarisierend über unseren Glauben sprechen und damit Nicht-Christinnen und -Christen eine adäquate Auskunft über das geben, was uns erfüllt.
Glaubenskommunikation funktioniert nicht mehr, weil wir selbst ‚drinnen‘ bleiben.
Es ist dabei nicht nur wichtig, Glaubenskommunikation zum Zwecke der Glaubensweitergabe bzw. Katechese zu betreiben, sondern vor allem die Neu-und Erstevangelisierung im Blick zu behalten mit dem Impetus, die Seelen zu heilen und zu trösten (salus animarum). Die Bibel kennt kein rein säkulares Umfeld, dennoch lassen sich Impulse für heutige Glaubenskommunikation finden. Ich wähle dafür ein Beispiel aus der Apostelgeschichte des Lukas. Darin wird die jesuanische Botschaft von Judäa aus hinein in die reichsrömische Gesellschaft geweitet – bis an die „Grenzen der Welt“ (Apg 1,8). Das Evangelium begegnet auf diesem Weg Menschen verschiedener Couleur: Fragenden (Apg 2,37), Suchenden (Apg 8,26-40), abseitsstehenden Skeptiker:innen und Interessierten (z.B. Apg 13,7). Es sind Menschen, so im schönen Diktum von Knut Backhaus, mit „seelischem Heimweh“ und „metaphysischem Fernweh“.5
So ist es auch bei der Rede des Paulus auf dem Areopag in Athen. Er setzt mit seiner Verkündigung zunächst bei der Synagoge an (Apg 17,17), wählt aber schließlich den Areopag, den nach einem Arestempel benannten Hügel unterhalb der Akropolis. Es ist ein Ort, der sich durch Religiosität und Bildung zugleich hervorhebt.6 Athen steht für die kulturelle Mitte der Welt und so erreicht Paulus hier vor allem Menschen, die der Stoa und der Philosophie Epikurs nahe stehen. Hatte er zuvor eher mit ungebildeten Menschen Kontakt, stellt er sich hier also der Denkelite7, die die Endlichkeit des Lebens anerkennt sowie nach Wegen zur emotionalen Überwindung des Leids sucht.8
Bei der Denkelite ansetzen.
Der „lukanische Paulus“ biedert sich nicht rhetorisch an, sondern wertschätzt die geistige Umwelt, in der er sich bewegt. Er versucht zu überzeugen und geht nicht selbstverständlich davon aus, dass seine Worte direkt im Herz der Menschen landen. Nein, er will den Verstand erreichen! Denn das Evangelium konkurriert in der Öffentlichkeit mit anderen Weltanschauungen (Philosophien, Mysterienkulten, dem offiziellen Staatskult) und muss sich behaupten.9 Paulus will die Christusbotschaft10 nicht als barbarischen Aberglauben, sondern paideia verstanden wissen, eine kulturell anspruchsvolle und tiefgründige Wahrheit.11 Am Ende steht bei all der Mühe nur ein bescheidener Erfolg: wenige nur aus der großen Menge folgen diesem neuen Weg. Doch erstaunlich ist, dass diese wenigen hier individuell beim Namen genannt werden. So entpuppt sich die Geschichte des Geistes als eine Geschichte der Individuen.12
Die Geschichte des Geistes entpuppt sich als eine Geschichte der Individuen.
Den Menschen als Individuum ernst- und wahrzunehmen, ist heute in einer „Gesellschaft der Singularitäten“, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, wichtiger denn je!13 Das ist als unmittelbares Learning für die Kirche heute festzuhalten: das Individuelle bewahren und nicht aufzuheben versuchen! Von Paulus lässt sich dafür auf jeden Fall
- ein werbend-wertschätzender und zugleich kritisch-neugieriger Blick auf die Welt lernen. Er steht bildlich gesprochen mit beiden Beinen auf der Erde und ist mit dem Kopf im Himmel. Er spricht spürbar begeistert und offen. In der Antike gibt es dafür den schönen Ausdruck „parrhesia“. Auch Jesus verkündete in dieser Offenheit das Gottesreich.
- Er steht gegen eine Vereindeutigung wie auch gegen eine Verunklarung. Für ihn scheint klar: Jegliches Bedienen aus dem kultischen Gemischtwarenladen oder die Pflege einer religiösen Collage sind vorbei, wenn man Christus nachfolgt.14 Zugleich wehrt er sich dagegen, Gott zu genau zu beschreiben. Wo Menschen heute nach Konkretion rufen, sollten wir in der Verkündigung dieser Forderung nicht vorschnell nachgeben. Wir müssen wie die Glaubenden vor uns neu lernen, einen zwar sprechenden, aber „ungreifbaren“, im Letzten unfassbaren und gegenüber den Gräueln der Welt dann doch verstörend schweigsamen Gott zu verehren.
- Paulus kommuniziert im Schema von „Anknüpfung und Widerspruch“15, geht von der Glaubenswelt der Menschen aus, um ihr zu widersprechen. Glaubenskommunikation stemmt sich gegen Vereindeutigung sowie gegen Beliebigkeit, bleibt neugierig, offen der Welt zugewandt und ist auf stetige Erneuerung ausgelegt, wie sich aus dem offenen Ende der Apostelgeschichte schließen lässt.
Vor allem aber darf das Ziel nicht aus dem Blick geraten: Wir sprechen über den Glauben, damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Dieses Leben in Fülle ist da, wo Menschen existenziell von Gott und seinem Evangelium berührt werden, im vertrauten Gespräch, im geschützten Raum freundschaftlicher oder familiärer Beziehungen, der geistlichen Lektüre und im persönlichen Gebet. Glaubenskommunikation verlangt nach einem langen Atem – genauso wie der Bau einer Kathedrale, deren Fertigstellung die „Startgeneration“ nicht erlebte, aber davon träumte, dass diese Bild für den Himmel auf Erden sein wird. Wir betreiben einen unsichtbaren Kathedralbau. Die Bibel ist ein Grundstein.
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Text: Dr. Robert Mucha ist Theologe und Fachgebietsleiter für Philosophie und Religionen an der Münchner Volkshochschule. Im März ist im Katholischen Bibelwerk sein Buch „Rätselhafte Offenbarung. Das schwierigste Buch der Bibel entschlüsselt“ erschienen.
Bild: Das Kloster Agía Triáda, wikimedia.
- Blumenberg, Hans, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M.,31986, 71f. ↩
- Vgl. ebd. 73. ↩
- „Die deutsche Soziologin Marianne Gronemeyer hat das Problem des heutigen Menschen mit der Zeit darin diagnostiziert, dass wir heute zwar länger, faktisch jedoch immer kürzer leben: Früher lebten die Menschen vierzig Jahre plus ewig, heute leben sie jedoch nur noch neunzig Jahre und dies ist ungemein viel kürzer.“ Koch, Kurt, Suche nach einem gnädigen Gott auch heute. Reflexionen zur bleibenden Aktualität der Gottesfrage Martin Luthers, in: Knop, Julia (Hg.), Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch. Theologie und Pastoral unter säkularen Bedingungen (QD 297), Freiburg i.Br. 2019, 18-38; hier: 24. ↩
- Vgl. Kläden, Tobias, Pastorale Chancen der Säkularität, in: Knop, Julia (Hg.), Die Gottesfrage, 245-259; hier: 245-247. ↩
- Backhaus, Knut, Im Hörsaal des Tyrannus (Apg 19,9). Von der Langlebigkeit des Evangeliums in kurzatmiger Zeit; in: Ders., Die Entgrenzung des Heils (WUNT 422), Tübingen 2019, 417-436; hier: 422f. ↩
- Vgl. Zmijewski, Josef, Die Apostelgeschichte (RNT), Regensburg 1994, 637 und 640f. ↩
- Vgl. Zmijewski, Apostelgeschichte, 633. ↩
- Vgl. Zmijewski, Apostelgeschichte, 637. Epikuräer suchen in naturalistischem Weltbild das Glück und die Stoiker versuchen Affekte und Triebe der Vernunft zu unterwerfen und so ihre Natur zu formen; vgl. ebd. 639. ↩
- Vgl. Backhaus, Hörsaal, 419f. ↩
- Jesus wird in dieser Rede interessanterweise nicht explizit erwähnt – höchstens indirekt (Apg 17,31). Vgl. Zmijewski, Apostelgeschichte, 637. ↩
- Pervo, Richard I., Acts (Hermeneia), Minneanapolis MN, 2009, 428. ↩
- Dies ist gänzlich untypisch im Vergleich zu anderen bekannten Texten der paganen Antike; vgl. Backhaus, Hörsaal, 428f. ↩
- Wenn man Reckwitz‘ These des spätmodernen Wandels von der sozialen Logik des Allgemeinen hin zur Vorherrschaft des Besonderen (vgl. Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2019, 11) auf die Religion überträgt, ist der Schluss naheliegend. ↩
- Vgl. dazu Backhaus, Hörsaal, 430. ↩
- Vgl. dazu eingehend Zmijewski, Apostelgeschichte, 648f. ↩