Der Analyse der leiblichen Existenz von Maurice Merleau-Ponty geht Frank Vogelsang nach. In Absetzung vom hegemonialen Diskurs des Liberalismus zeigt er dabei die weitreichende Bedeutung sozialer Verbundenheit auf.
Zurzeit gibt es eine Vielzahl gesellschaftspolitischer Debatten, die eng mit der Zielvorstellung der freien Selbstentfaltung des Individuums verknüpft sind. Diese Debatten haben zwei Seiten, eine positive und eine negative. Auf der positiven Seite melden sich Menschen mit bestimmten Eigenschaften oder Lebensentwürfen zu Wort und klagen Anerkennung und eine Berücksichtigung ihrer Anliegen in gesellschaftlichen Debatten ein. Sie stehen in einer längeren Tradition: Vielfältige emanzipatorische Bewegungen haben Rechte für jene Menschen einfordern können, die in den traditionellen Gesellschaften eine marginalisierte Stellung hatten und deren Rechte beschnitten wurden. Diese Förderung der Individualisierung ist eng verknüpft mit einem zentralen Wert der Französischen Revolution, dem der Freiheit.
Eine solidarisch gerahmte Freiheit
Auf der anderen Seite geraten große gesellschaftliche Institutionen zunehmend unter Druck. Das betrifft sowohl politische Parteien wie auch Gewerkschaften, Kirchen, traditionelle Vereine. Es ist auf erstem Blick wenig plausibel, warum in einer hochindividualisierten Gesellschaft größere und langlebige gesellschaftliche Institutionen Bestand haben sollten. Doch sind mit der Französischen Revolution noch zwei weitere, fundamentale Werte verbunden, der Wert der Gleichheit und der Wert der Solidarität. Das Verhältnis der neueren gesellschaftspolitischen Debatten zu diesen Werten ist zumindest ambivalent. Wird das Ziel der Freiheit ins Zentrum gestellt, entsteht unter den gegebenen wirtschaftspolitischen Randbedingungen zugleich gesellschaftliche Ungleichheit. Ob sich eine die Gesellschaft verändernde Solidarität unter diesen Bedingungen einstellen kann, ist ebenso fraglich.
Liberalismus als hegemonialer Diskurs
der Moderne
Was hat die Zentralstellung des Wertes der Freiheit in den gesellschaftspolitischen Debatten ermöglicht, wieso ist der der Diskurs, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt, in unserer Zeit kulturell hegemonial geworden? Für diesen Diskurs lassen sich mehrere Quellen nennen. Eine wichtige Quelle ist die wirtschaftliche Entwicklung, die dem Kürzel „Neoliberalismus“ verbunden wird. Mit ihr war eine weltweite Öffnung der Finanzmärkte, eine Intensivierung der Globalisierung, eine Senkung der Sozialstandards, eine Bevorzugung von mobilen und polyglotten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und eine Betonung des individuellen Konsums verbunden. Zugleich wechselte die Produktion von großen Fabriken zu kleinen und flexiblen Unternehmen. Die Berufsbiographien verloren einen standardisierten Verlauf. Lebenslange Flexibilität war und ist das Gebot für viele Arbeitnehmer:innen. Weitere wichtige Quellen des heute hegemonialen Diskurses sind die Hochschätzung der Authentizität in der Folge des Kulturwandels nach 1968 und die Bevorzugung individueller Ausdrucksformen in den digitalen Medien (Selfie-Kultur). All diese Quellen unterstützen den herrschenden Eindruck, Menschen seien in erster Linie als sich selbst verwirklichende Individuen zu beschreiben, die sich gegebenenfalls bei Bedarf sozial zusammenschließen können.
Menschen als verbundene Wesen
Doch unterliegt dieser Eindruck selbstständiger Individuen einer erheblichen Verzerrung. Dies kann anhand der Analysen des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty deutlich werden, dessen Todestag sich in diesen Tagen zum 60sten Mal jährt. Merleau-Ponty hat in seiner Philosophie die Bedingungen der leiblichen Existenz von Menschen in immer wieder neuen Anläufen untersucht. Eine zentrale Aussage seiner Arbeiten ist: Menschen sind als leibliche Wesen nicht isolierte Entitäten, sondern müssen als verbundene Wesen verstanden werden, verbunden mit anderen Menschen und verbunden mit der sie umgebenden Umwelt.
Angewiesen auf die umgebende Wirklichkeit
In der heutigen hochtechnisierten Umgebung wird schnell vergessen, dass wir nach wie vor als leibliche Wesen auf elementare Weise mit der uns umgebenden Wirklichkeit verbunden sind. Richtet sich die Aufmerksamkeit allein auf den Körper, so kann sich zunächst der Eindruck verstärken, ein Mensch sei ein isoliertes Wesen, jede und jeder lebt in einem eigenen Körper, unabhängig von anderen. Doch schon beim Körper stimmt die Isolierbarkeit bei genauerem Hinsehen nicht. Der Austausch mit der Umwelt ist lebensnotwendig: eine kurze Zeit ohne Sauerstoff, Flüssigkeit, Nahrung oder Wärme und unsere leibliche Existenz ist vom Tode bedroht. In der Diskussion um das Klima zeichnet sich ab, dass wir die Probleme nicht einfach mit einem Wechsel der Technik lösen können.
Von Geburt an sozial verbunden,
nicht erst durch freie Entscheidung
Noch weniger als auf den Körper trifft die Reduzierbarkeit auf die individuelle Existenz für die umfassendere leibliche Existenz zu. Sie umfasst auch Sprachfähigkeit, kulturelle Dimensionen der Existenz und der ständige soziale Austausch über Handeln und Wahrnehmen. Nach Merleau-Ponty sind wir auf elementare Weise mit den uns lebenden Menschen verbunden, es gibt eine soziale Dimension, die der Philosoph „Zwischenleiblichkeit“ nennt. Soziale Beziehungen entstehen nicht, indem sich zunächst unabhängige Individuen aufeinander beziehen. Diese Vorstellung ist ein Kernelement liberaler Traditionen und hat eine lange Tradition. Sie ist zum Beispiel schon in der frühen Neuzeit, in der Staatstheorie von Thomas Hobbes zu finden: Einzelne Menschen tun sich zusammen, um den Krieg eines jeden gegen jeden zu beenden. Doch führt diese Ursprungserzählung menschlicher Gesellschaften in die Irre. Menschen sind von ihrer evolutionären Herkunft und von ihrer Geburt an sozial verbundene Wesen. Darauf weist der Begriff der Zwischenleiblichkeit. Erst auf dieser Basis einer ausdifferenzierten Kultur können Menschen individualisieren, das Individuum ist eine kulturelle Errungenschaft, kein Naturzustand. Die Aspekte der Verbundenheit sind ein wichtiges Korrektiv gegenüber dem hegemonialen Diskurs.
Radikale Abhängigkeit
als Basis menschlichen Lebens
Den allgemeinen Einspruch kann man in einzelnen Themen vertiefen. Im hegemonialen Diskurs wird die Phase der Kindheit als eine Randgröße behandelt. Entscheidend ist, wie sich ein Mensch danach autonom zu sich selbst entwickelt. Doch würde kein erwachsener Mensch existieren, wenn nicht in den ersten Lebensjahren andere Menschen die Pflege und Versorgung übernommen hätten. Es geht in diesem Argument nicht um eine heile Familienerfahrung, sondern schlicht um die unumgängliche biologische und soziale Tatsache, dass Menschen erst nach einigen Jahren der Lebenszeit in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Die Abhängigkeit in der Anfangsphase ist aber keine Marginalie menschlicher Existenz. Vielmehr weist sie auf eine Dimension der Leiblichkeit, die das ganze Leben über präsent ist.
Soziale Verbundenheit auch durch Sprache
Die Verbundenheit zeigt sich insbesondere im Bereich der Kultur. Individualisierung geschieht zu einem erheblichen Teil über sprachliche Ausdrucksformen. Sprache aber ist keine Fähigkeit, die ein Individuum aus sich heraus generieren kann, sondern die nur in einem langjährigen Austausch mit anderen Menschen möglich wird. Das zeigt: Soziale Verbundenheit geht der Fähigkeit zur Individualisierung voraus. Die amerikanische Philosophin Judith Butler hat jüngst ein Buch zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit geschrieben. Ihre zentrale Botschaft: Gewaltlosigkeit lässt sich nicht mit Ansätzen fördern, die bei der Existenz von Individuen ansetzen. Vielmehr muss man die immer schon vorgängigen sozialen Beziehungen in den Blick nehmen.
Suche nach langfristigen Formen der Verbundenheit
Was heißt das für die gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskussionen? Es kommt darauf an, die Einseitigkeit des hegemonialen Diskurses zu vermeiden. Wenn Menschen auf elementare Weise miteinander verbundene Wesen sind, dann braucht es gerade für einen wirksamen gesellschaftspolitischen Veränderungsprozess längerfristige Formen der Verbundenheit, die auch gesellschaftsverändernde Kraft entfalten können. Ohne sie bleibt es bei kurzfristigen Kampagnen frei assoziierter Individuen, die keine nachhaltige gesellschaftliche Wirkung erzeugen. Die ist nur möglich, wenn es auch starke langfristige Formen der Verbundenheit gibt, etwa in Parteien, Gewerkschaften und Kirchen. Doch Formen langfristiger Verbundenheit werden aber im hegemonialen Diskurs, der auf die Selbstentfaltung des Individuums schaut, gerade problematisiert. Jede soziale Bindung steht im Zweifel im Konflikt mit der Selbstverwirklichung.
Solidarität als bloße Geste?
Ein Hinweis auf die bestehende Schwachstelle im hegemonialen Diskurs ist die oft leichtfertige Rede von Solidarität. So wurde etwa zu Beginn der Pandemie gesagt, man müsse mit den Vertreter:innen besonders exponierter Berufe solidarisch sein. Das bekannte Beifall-Klatschen auf den Balkonen war ohne Zweifel eine nette Geste, aber mehr auch nicht. In dem hegemonialen Diskurs gilt Solidarität als eine unproblematische Größe, die man unter gut gesinnten Menschen schnell aktivieren kann.
Soziale Strukturen als Netzwerke
Vielleicht tut sich aber auch künftig ein Ausweg aus dem Dilemma der fundamentalen Bedeutung von sozialer Verbundenheit und der Bedeutung von Individualität auf. Digitale Medien befördern nicht nur die Individualisierung, sondern stärken zugleich auch soziale Netze. Insofern können sie nicht nur ein Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung sein. Jede längerfristige soziale Struktur wird in der Zukunft in der einen oder anderen Weise auch durch digitale Medien gestaltet sein. Die sozialen Strukturen, die digitale Medien ermöglichen, haben eine Eigenschaft, die traditionellen Institutionen nicht gegeben war: Sie erleichtern Ein- und Austritte. Diese sozialen Strukturen lassen sich am besten als Netzwerke beschreiben. Nun wird auch die künftige Kommunikation nicht ausschließlich über digitale Medien stattfinden. Die lokale Anbindung sozialer Strukturen bleibt eine unverzichtbare menschliche Ressource. Darauf weist eben auch die Analyse der leiblichen Existenzbedingungen. Also wird es wahrscheinlich Mischformen geben, hybride Netzstrukturen, die lokale und digitale Formen miteinander verbinden, die auch längerfristige Bindung und Verpflichtung ermöglichen.
Wider die Verabsolutierung der Individualisierung
Kulturell ist also ein Korrektiv des hegemonialen Diskurses zu fordern. Eine Verabsolutierung der Freiheit führt auf Dauer zu einer Auflösung der gesellschaftlichen Ressourcen. Politische und kulturelle Instabilitäten sind die Folge. Anhand der Analysen des Leibes durch Merleau-Ponty kann man lernen, was aus dem Blick gerät, wenn die menschliche Existenz als Ausdrucksform von Individuen reduziert wird. Menschen sind genuin soziale Wesen. Soziale Verbundenheit wie auch die Verbundenheit mit der uns umgebenden Wirklichkeit macht jede menschliche Existenz aus. Es wäre ja ein erster Schritt, wenn wir stets auch darauf achteten, was uns mit anderen verbindet.
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Autor: Frank Vogelsang, Dipl.-Ing. und ev. Theologe, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland.
Weitere Informationen: www.frank-vogelsang.de
Foto: United Nations COVID-19 Response / unsplash.com
Literatur:
Butler, Judith, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen, Berlin 2020.
Merleau-Ponty, Maurice, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (hg. von Christian Bermes), Hamburg 2003.
Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main, 2006.
Vogelsang, Frank, Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne, Freiburg, München 2020.