Dorothee Sölle war eine feministische Theologin «avant la lettre». Welche Bedeutung hatte sie für die feministisch-theologische Bewegung? Li Hangartner zeichnet Leben und Werk der vor 18 Jahren Verstorbenen nach.
«Und in deinem Licht sehen wir das Licht». Dieser Vers aus Psalm 36 ist eingraviert auf dem Grabstein von Dorothee Sölle auf dem Nienstädter Friedhof in Hamburg. Am 27. April sind es 18 Jahre her seit ihrem plötzlichen Tod in Bad Boll. Dorothee Sölle hat mich, wie viele meiner Generation, geprägt. In den Jahren 1989 bis September 2002 war sie mehrmals Gast im RomeroHaus. Durch ihre Leidenschaft hat sie die Zuhörenden an den Tagungen nicht nur an Gedanken teilnehmen lassen, sondern auch an Gefühlen, am Lachen wie am Weinen, vor allem am Nachdenken, Klarwerden, Handeln und Widerstandleisten. Anlässlich eines Zwiegesprächs zwischen Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky am 7. Mai 1999 im RomeroHaus schrieb Dorothee ins Gästebuch: «Wir sind gern im RomeroHaus, an einem Ort des Geistes, der Freiheit (und des guten Weines!).»
«Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit»
Es gibt kaum eine Theologin, deren Werk so eng mit ihrer Gegenwart verknüpft ist, wie Dorothee Sölle. Nichts lag ihr ferner als eine Theologie im Elfenbeinturm, ein Glasperlenspiel fernab von Schmerz und Ungerechtigkeit der Welt. Von ihr zu lernen heisst, ganz gegenwärtig zu sein – in der mehrfachen Bedeutung dieses Wortes: Gegenwärtig Zeitgenossin sein, politisch und gesellschaftlich engagiert. Dabei die Welt nicht akzeptieren, wie sie ist. Stattdessen das für möglich halten: dass Jesu Seligpreisungen heute gelten, genau jetzt – nicht den Etablierten, den Gebildeten, Privilegierten, nicht der Kirche in ihrer verfassten Form, sondern denen am Rand.
Die Welt nicht akzeptieren, wie sie ist.
Und schliesslich: im Augenblick gegenwärtig sein und Gott darin finden, verbunden sein mit allem. Dorothee war sensibel, klar, zäh, unbequem, streitbar und konsequent (manche sagen auch: ideologisch und aggressiv) – und inspirierend, die Dinge neu zu sehen, Neues zu sehen und das eindrücklich und eindringlich zu formulieren. Sie schlug Brücken: zwischen dem, was war, und dem, was noch nicht ist, zwischen dem, was uns droht, und dem, was die Hoffnung nähren kann – trotz allem. Die Fragen, das Leben und die Welt des Menschen sind der Ausgangs- und der Zielpunkt ihrer Theologie. Darin liegt eine Umkehrung jener theologischen Tradition, die von Gott und seiner Herrschaft ausgehend die Rolle des Menschen zu beleuchten versucht.
«Wir haben keine Zeit mehr, Gott zu verschweigen»
Den Texten von Dorothee Sölle bin ich erstmals im Studium begegnet. Die Auseinandersetzung mit «Die Hinreise», ein mittlerweile zerfleddertes Buch, «Leiden» und «Stellvertretung» hat mir eine völlig neue und andere Sicht auf Theologie eröffnet. In Letzterem räumte sie mit dem Sühnegedanken eines Gottes auf, der seinen Sohn an unserer Stelle straft, und machte die Liebe und die Gerechtigkeit zum Mittelpunkt einer Theologie, die sich an Jesus orientiert. «Die Menschwerdung Gottes war für sie kein einmaliger, abgeschlossener Vorgang, sondern ein weiter wirkender Prozess. Gott wird immer mehr Mensch – und Gott wird immer wieder Mensch.»[1] Ohne diese Bücher hätte ich aufgehört mit dem Theologiestudium.
Gott ist abhängig von uns.
Hier bin ich auch erstmals dem Satz begegnet: Gott hat keine anderen Hände als unsere. Gott ist abhängig von uns. Ein Satz, der mich für viele Jahre nicht mehr losgelassen hatte. «Gott stirbt, wenn der Mensch umgebracht wird.»[2] Dass es «nach Auschwitz» noch möglich ist, von Gott zu reden, das habe ich von Dorothee Sölle gelernt. Ihre theologischen Überlegungen waren der Grundstein für meinen weiteren Weg als feministische Theologin, auch wenn sich Dorothee selber zu jener Zeit nicht als feministische Theologin bezeichnete. Darüber hinaus begleiten mich ihre Gedichte seit den Anfängen meines Studiums. In ihnen, sagt Fulbert Steffensky, sei Dorothee noch «viel weiter gesprungen» als in ihren theologischen Texten. Sie waren und sind mir «Brot der Ermutigung».
«Feministin avant la lettre»
Ist Dorothee Sölle überhaupt eine feministische Theologin? Gehört die feministische Theologie eigentlich nur in ihre spätere Entwicklung? So haben sich viele gefragt. Ihr erstes Buch veröffentlichte Dorothee Sölle bereits 1965, die feministische Theologie entstand zu Beginn der 70er-Jahre. Sich selbst bezeichnete sie erst Anfang der 80er-Jahre als Feministin. Rückblickend konnte sie sagen, dass alle ihre Bücher und Entwürfe auch vor der Beschäftigung mit dem Feminismus unbewusst feministisch waren – «avant la lettre». «Mein Weg ist vielleicht etwas anders gegangen als der vieler jüngerer Frauen, bei denen der Feminismus zuerst und die Politisierung erst dann kommt. Für mich sehe ich das ganz verwoben miteinander.»[3]
„…, wie sich politische und religiöse Erfahrungen in meiner Biographie niedergeschlagen haben.“
«Das Christentum wuchs langsam in mir. Wenn ich davon erzählen soll, was mich heute als Theologin bewegt, dann kann ich es nur tun, indem ich davon erzähle, wie sich politische und religiöse Erfahrungen in meiner Biographie niedergeschlagen haben. Was ich heute als ‘Feministische Theologie’ zu formulieren suche, wurzelt in diesen positiven und negativen Erfahrungen, die bis in meine Kindheit zurückreichen und die meine Entwicklung auch jetzt noch bestimmen.»[4]
Auf ihrem theologischen Weg als Frau, schreibt Dorothee Sölle weiter, hätten ihr die Erfahrungen geholfen, die sie in den USA gemacht habe. Zum Feminismus sei sie durch ihre amerikanischen Freundinnen gekommen. 1975 bekam sie den Ruf an das Union Theological Seminary in New York, wo sie 12 Jahre lang lehrte. Dass sie den Ruf erhielt, sei Beverly Harrison zu verdanken, der Professorin für Sozialethik am Union. Sie sei von Beverly, aber auch von vielen jüngeren Frauen am Union immer wieder gefragt worden: «Was hat deine Theologie mit deinem Frausein zu tun? Mir fiel nicht viel dazu ein. Dann ist mir aber, je mehr ich darüber nachgedacht habe, sehr, sehr viel klarer geworden, dass etwa mein theologischer Widerstand gegen ein von männlichen Zügen bestimmtes Gottesbild und mein Protest gegen einen Gott, der im Wesentlichen Macht verkörpert, im Grunde ein feministischer Protest war.»[5]
„Was hat deine Theologie mit deinem Frausein zu tun?“
Unter Feminismus verstand Dorothee Sölle den Widerstand von Frauen und Männern gegen die Kultur des Gehorsams und gegen jede Form von Patriarchat. Sie verstand die Frauenbewegung verbunden mit der Befreiungsbewegung in Lateinamerika, der Friedensbewegung und der ökologischen Bewegung als Ruf nach Freiheit, als Protest und Widerstand. Für sie bedeutete Feminismus nicht nur Frauenförderung, wie der Kampf für mehr Professorinnen oder für eine grössere Macht von Frauen. Er bedeutete für sie die Änderung aller herrschaftlichen Strukturen und die Befreiung der gesamten Gesellschaft.[6]
Femnismus als Widerstand von Frauen und Männern gegen die Kultur des Gehorsams und gegen jede Form von Patriarchat
Ich stimme Renate Jost zu, die es nicht für sinnvoll erachtet, «zwischen der linkskritischen befreiungstheologischen Dorothee Sölle einer bestimmten Zeit und der feministisch-theologischen Dorothee Sölle der späteren Zeit zu unterscheiden.[7] Ihre theologischen Entwürfe sind in Wirklichkeit keine Chronologie, sondern ein Ineinandergreifen von Analysen und Ergebnissen, Weiterentwicklungen und Veränderungen, Wiederaufnahmen und Neuformulierungen von Einsichten, um religiöse Themenstellungen besser zu verstehen und zu vermitteln. Die Erkenntnisse, die sie aus diesem dialogischen Prozess gewinnt, führen nicht zu einer einheitlichen dogmatischen Konstruktion, sondern zielen auf schlichte, nachvollziehbare Einsichten.
«Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden»
Die Entdeckung selbstständig handelnder Frauen in der Bibel ist für eine feministische Befreiungstheologie zentral. Die Bibel in ihrer Parteilichkeit für die Unterdrückten ist für Dorothee Sölle unverzichtbar. Dass dabei der feministische Blick Teil einer umfassenden befreiungstheologischen Sicht sein muss, machen Dorothee Sölle und Luise Schottroff in der Einleitung zur ersten Ausgabe ihrer Bibelarbeiten deutlich: «Grundlage unserer Bibelarbeiten ist – um es im Fachjargon zu sagen – eine befreiungstheologische Hermeneutik, d.h. eine historische und theologische Methode, die mit der Befreiungstheologie und der Feministischen Theologie zusammengehört.»[8]
«Zur Umkehr fähig»
Dorothee Sölle findet immer wieder eine neue Sprache für die alten grossen Begriffe. Was traditionell Sündenvergebung heisst, übersetzt sie mit dem Satz: Das Recht, ein anderer zu werden. Peter Bichsel hat einmal geschrieben: «Der Satz, der mich in meinem Leben am tiefsten betroffen gemacht hat, ist der Satz von Dorothee Sölle: ‘Christsein bedeutet das Recht, ein anderer zu werden.’»[9]
Sündenvergebung: „Das Recht, ein anderer zu werden.“
Sie hat von Gott nicht in statischen Begriffen geredet, sondern in Tätigkeiten: Gott denken, Gott suchen, Gott lieben. Mit dieser sinnlich, poetisch und kämpferischen Art, Theologie zu treiben, hat sie provoziert. Sie glaubt nicht – wie man so sagt – «an Gott», sondern sie glaubt IHM. Auf diesen Dativ kommt es an; jemandem vertrauen und sich aus diesem Vertrauen heraus seiner Welt zuwenden, wo die Träumenden zum Handeln und die Handelnden zum Träumen kommen. Dorothee riss mit, richtete auf, ermutigte.
«Mystik und Widerstand»
Ein Nachtrag: Ich habe versucht, etwas über Dorothee Sölle und ihre Bedeutung für die feministisch-theologische Bewegung zu sagen. Ich habe etwas Grundlegendes ausgelassen: ihr Verhältnis zur Mystik. Es ist nicht nur ein Thema am Ende ihres Lebens. Ihr Tagebuch von 1944 beginnt mit einem Text der Mystikerin Mechthild von Magdeburg. Heinrich Seuse, der Mönch und Mystiker aus dem 14. Jahrhundert wird bedacht in ihrem Buch «Die Hinreise» von 1975.
Könnte es sein, dass wir für diese mystische Grundfarbe von Dorothee blind sind? Sie liebte die Überlieferungen der Gotteserfahrenen. Sie liebte die mystische Schönheit des Alltags. In einem Brief an ihre Enkelkinder warb sie für Augen, die seinen Glanz sehen und Gott darin preisen.
„Das Schöne zieht uns zu Gott.“
«Das Schöne zieht uns zu Gott, bringt uns in einen Zustand, der mit Kaufen und Verkaufen nichts zu tun hat, aber mit Staunen und Stillwerden, mit Sich-Wundern und vielleicht Summen, mit Sich-Vergessen und mit Glück. Siehe da! Toll! Halleluja! Ich bin ein Teil des grossen, wunderbaren Ganzen, das wir ‘Schöpfung’ nennen. Vergesst das nicht, es kann sich an ganz gewöhnlichen Dingen entzünden, an einer Pfütze am Strassenrand oder an einem Kieselstein, der rötlich glänzt. Ich wünsche euch jedenfalls viele Kieselsteine, immer wieder.»
Dorothee hat mit ihren Enkeln gespielt. Sie hat Gedichte gelesen und geschrieben. Zuhause war sie in jenen nutzlosen Köstlichkeiten der Lieder, der Gedichte, des Gebets und der Gottesdienste. Ihre Gelassenheit in allem Zorn hatte einen Grund, den sie in ihrem letzten Vortrag so formulierte: «Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.»[10] Das ist die köstliche Formulierung dessen, was wir Gnade nennen.
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Li Hangartner, freischaffende feministische Theologin, von 1989 bis 2008 Leiterin Fachstelle Feministische Theologie Luzern; von 1989 bis 2017 Bildungsverantwortliche im RomeroHaus Luzern
Bild: Fulbert Steffensky
[1] Li Hangartner, «Feministin avant la lettre». Dorothee Sölles widerständige Theologie, in FAMA 1/21, S. 15.
[2] Dorothee Sölle in Publik-Forum, 16.10.1981, Nr. 21.
[3] Dorothee Sölle, Gegenwind. Erinnerungen, München/Zürich, 1995, 145.
[4] Ursula Baltz-Otto/Fulbert Steffensky, Dorothee Sölle, Gesammelte Werke 2. Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, Stuttgart 2006, 188; ursprünglich aus: Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Stationen Feministischer Theologie, München 1987.
[5] Ebd. 191.
[6] Gegenwind, 146.
[7] Helga Kuhlmann (Hg.), Eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Resonanzen der Theologie Dorothee Sölles, Stuttgart 2007, 110.
[8] Dorothee Sölle/Luise Schottroff, Die Erde gehört Gott. Ein Kapitel feministischer Befreiungstheologie, Wuppertal 1995, 10.
[9] Das Recht, ein Anderer zu werden, Dorothee Sölle und Peter Bichsel im Gespräch, in: Dorothee Sölle/Peter Bichsel/Klara Obermüller, Teschuwa. Zwei Gespräche, Zürich 1989, 70.
[10] Dorothee Sölle/Fulbert Steffensky, Wenn du nur Glück willst, willst du nicht Gott, https://shop.auditorium-netzwerk.de, CD 2003.
Von Li Hangartner auf feinschwarz.net u.a.: