«Es ist keine Frage des Ortes, wo man sich zuhause fühlt» (Hape Kerkeling). Das kann auch nur einer sagen, der noch fit genug dafür ist, eine mehrwöchige Pilgerreise unter die Füsse zu nehmen. Was es mit der Frage nach dem Zuhause im Blick auf Leben und Sterben im Hospiz auf sich hat, schildert die Hospizseelsorgerin Karin Klemm.
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Am Lebensende in der vertrauten Umgebung
Die meisten Menschen im deutschsprachigen Raum wünschen, zuhause zu sterben. Da, wo sie die letzten Jahre oder Jahrzehnte geliebt, gestritten, gefeiert und getrauert, gehofft und geweint haben. Zuhause zu sein, bedeutet auch, sich in der eigenen Würde mehr geachtet zu erfahren, gemäss einer Umfrage aus Kanada[1]. Wer häufiger im Krankenhaus war, fürchtet sich mehr vor dem Würdeverlust.
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Max und seine Geschichte…
… mit einem Krankenhaus, einem ambulanten Pflegedienst und seiner letzten Lebensphase soll uns leiten. Max M.[2] kam mit der Diagnose Hirntumor ins Spital. Die Operation wurde wegen quälender Schmerzen, die dem zunehmenden Hirndruck geschuldet waren, dringend. Energisch kämpfte sich Max wieder in sein altes Leben, konnte sogar in reduziertem Mass seinen geliebten Lehrerberuf ausüben, nachdem er die kräfteraubende Strahlentherapie bewältigt hatte.
Kurz nach seinem 40. Geburtstag überfielen ihn massive Sehstörungen mit Brechreizattacken. Max willigte in eine zweite Operation ein, trotz des hohen Risikos bleibender Schäden. Er hatte wegen des steigenden Hirndrucks keine Wahl. Als er erwachte, war er für lange Zeit erschöpft, auch von den schweren Entscheidungen, die hinter ihm lagen. Und von denen, die noch kamen: Welche Therapie, an welchem Ort. Wie sehr will er seine Partnerin und seinen eigentlich noch rüstigen Vater belasten?
erschöpft, auch von den schweren Entscheidungen
Der Onkologe riet zu weiteren Therapien. Max nahm alle Kraft zusammen und entschied sich für eine Reha. Seine Partnerin unterstützte ihn. Die Reha, weit weg von Chemotherapie und Operationssaal, hatte er genossen. Vor allem war es eine entscheidungsfreie lange Woche. Dann nahmen die Beschwerden massiv zu: Sehstörungen, Brechreiz, Immobilität und Wortfindungsstörungen.
Er fällte eine letzte Entscheidung: Nicht zurück ins Spital. Seine Partnerin erfüllte diesen Wunsch, fraglos. Mit Unterstützung von Max’ Vater. Nach 8 Tagen aber waren beide total erschöpft und alle drei verzweifelt.
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Warum auf keinen Fall zurück ins Krankenhaus?
Nein, an dieser Stelle wird nicht eingestimmt in den Chor derer, die den Krankenhäusern Respekt vor der Würde eines sterbenden Menschen absprechen. Dafür habe ich zu lange (19 Jahre) als Seelsorgerin in einem Krankenhaus gearbeitet und gesehen, mit wieviel Herzblut, Respekt und professioneller Beziehungsfähigkeit Pflegende und ÄrztInnen schwerkranke Menschen begleitet haben. Schon vor der Implementierung der Palliative Care als Standard in Ausbildung und Praxis in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gab es HausärztInnen, Spitalpersonal und Hauspflegedienste, die kranke Menschen respektvoll, professionell und mit Zuwendung auf ihren letzten Weg begleiteten.
Palliative Care als Standard in Ausbildung und Praxis
Die Palliative Care scheint den guten Weg zu weisen: «Sie hat die biologische, die soziale, die psychologische und spirituelle Dimension des Menschseins im Blick»[3]. Für die Würde sterbender Menschen besonders besorgt zu sein, dafür stehen heute alle Palliativstationen und palliativ arbeitenden Pflegeheime.
Trotzdem: Kaum jemand will dort die letzte Lebensphase verbringen. Auch Max nicht. So kam er ins Hospiz.
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Vom Zuhause ins Hospiz
Nie mehr werde ich diese beiden hohlwangigen Angehörigen vergessen: Verzweifelt darüber, dass sie den letzten Wunsch ihres geliebten Max nicht erfüllen konnten, erschöpft von der Sorge und der überfordernden Pflege. So kamen sie ins Hospiz. Sie stellten ohne Unterbrechung ihre Fragen: Ob es diese Teesorte und jenes Schmerzmittel gäbe, und feste Ruhezeiten, und freien Zugang für sie, und die Möglichkeit immer anzurufen und angerufen zu werden. «Und Zeit und Ruhe zum Durchschnaufen für Sie beide haben wir auch», konnte ich kurz dazwischen sagen. Und holte gleich danach laut und tief Luft. Sie war mir ganz knapp geworden beim Zuhören und Spüren dieser erdrückenden Not. «Darf ich Ihnen einen Tee bringen und wir lassen Ihren Max in aller Ruhe ankommen?». Partnerin und Vater wogen ab, wollten den Schrank einräumen. Max rief von seinem Bett aus: «Geht, bitte».
verzweifelte und erschöpfte Angehörige
Beim Tee erzählten die Beiden, wie bitter es schmeckte, dass sie es zuhause nicht geschafft hatten, trotz der tollen Hausärztin und der externen Pflege, die zwei Mal am Tag gekommen war. Sie waren gescheitert und so enttäuscht von sich. Viele Situationen hatten sie dramatisch erlebt: Schmerzattacken, drei Tage ständiges Erbrechen, Windeln wechseln – als Partnerin oder als Vater.
«Das machen ab jetzt wir», sagte die Pflegende, die sie empfangen hatte. «Das ist jetzt nicht mehr Ihre Aufgabe. Sie dürfen wieder Partnerin und Vater sein». Beide weinten bitterlich: Genau das hatten sie vermisst.
„Sie dürfen wieder Partnerin und Vater sein.“
Alle drei kamen im Hospiz an, wurden immer langsamer. Dabei merkten sie, dass es nicht die Häufigkeit der Besuche war, die Max erfreute, sondern die Wahl, die er hatte: Alleine sein oder Besuch haben von der Partnerin, dem Vater oder von FreundInnen.
Und sie fand sich wieder als Partnerin, die zärtlich die Füsse von Max streichelte, während ein Freiwilliger den Nachmittagstee brachte.
Und er fand sich wieder als Vater, der neben der Vaterschaft doch längst sein eigenes Leben hatte, mit Kollegen wandern ging und Kraft schöpfte für diesen schmerzlichen Abschied von seinem sterbenden Sohn.
Dazwischen gab es immer wieder stille Momente am Cheminée im Hospiz, allein, mit der Seelsorgerin oder einer Hospizkatze. Es gab eine kleine Feier zum Wochenschluss im Raum der Stille oder ein ausführliches Gespräch mit der Pflegenden. Das alles half einzuwilligen in das, was in grosser Langsamkeit geschah: Max starb. Vor allem aber: Max lebte, immer noch. Und das konnten sie immer mehr mit ihm teilen: Sein Leben, seine Freude am Dessert oder an Musik oder an einer Massage…
Max lebte sich ins Sterben hinein.
Immer mehr wurde deutlich: Max lebte sich ins Sterben hinein. Und die Angehörigen warteten nicht aufs Sterben, sondern teilten sein Leben. So eingeschränkt es war, so bitter die Momente, in denen er trauerte. Sie hatten Kraft, für ihn da zu sein. Und für die schweren Momente fanden sie Menschen im Hospiz, die mit ihnen waren.
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Auch ein Hospiz ist nicht das Zuhause
Aber es ist ein Ort, an dem der dicht gewobene Mantel aus Fürsorge und pflegerischer, ärztlicher und seelsorgerlicher Kompetenz wirken kann, Unterstützung anzunehmen. Und an dem Hape Kerkeling recht gegeben werden kann: Zuhause bin ich da, wo ich sicher und geborgen bin und angenommen, in dem was ist.
der dicht gewobene Mantel aus Fürsorge und pflegerischer, ärztlicher und seelsorgerlicher Kompetenz
Arbeiten im Hospiz die besseren Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen? Natürlich nicht. Aber das System unterscheidet sich: Die vier Dimensionen des Menschseins bekommen eine andere Aufmerksamkeit durch die institutionalisierte multiprofessionelle Zusammenarbeit. Wir leben das Aufeinander-angewiesen-sein, also das, was unsere PatientInnen leben müssen: Wir suchen die Meinung der anderen Professionen, brauchen die Wahrnehmung und das Teilen der Erfahrung der anderen. Das kostet Zeit und Geld. Im Hospiz, wo ein Teil des Betriebs von Spenden finanziert wird, ist dafür Zeit eingeplant!
Hospize sind Kompetenzzentren für Langsamkeit.
Von Hospizen geht der starke Impuls für einen Systemwechsel aus. Damit das Sterben nicht allein vom riesigen Engagement einzelner ÄrztInnen und Pflegenden abhängt. Hospize sind Kompetenzzentren für Langsamkeit, für die multiprofessionelle Palliative Care auf Augenhöhe. Sie sind die Asyle für schwerkranke entscheidungsmüde Menschen, denen Einwilligen mehr hilft als das berühmte Loslassen. Auch das gehört zum Hospiz: Wir begleiten Angehörige nach dem Tod ihrer Lieben, solange es gewünscht ist. Auffällig dabei ist: Wer in der letzten Lebensphase seiner Angehörigen ausreichend Unterstützung hatte, braucht danach weniger!
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Warum spirituelle Unterstützung im Hospiz?
Im Hospiz Zentralschweiz gibt es 60 Stellenprozent für eine Seelsorgerin und 30% für eine in Spiritual Care ausgebildete Psychologin. Wir fragen nach und reden mit, wir suchen mit den Pflegenden und der Ärztin, der Reinigungsfachfrau und den Ehrenamtlichen, den PatientInnen und ihren Angehörigen den Weg, auf dem Fürsorge angenommen und Lebendigkeit gehütet bleiben. Spiritual Care praktizieren wir zuerst als Haltung und weniger als Fachwissen. Damit es möglich bleibt, sich als Mensch betreffen zu lassen von Angst und Trauer und der Suche nach Sinn. Ohne Lösungen oder Antworten anzubieten, sondern das Dasein, als Mensch[4].
Wir nehmen uns Zeit fürs Hinhören, mehr noch fürs Hinspüren und Reflektieren und immer wieder Austauschen.
Zeit fürs Hinhören, mehr noch fürs Hinspüren
Wenn auf diesem Weg Türen aufgehen, dann betreten wir mit unseren PatientInnen diese manchmal alten und manchmal ganz neuen Räume. Wir finden vielleicht Quellen, vielleicht Fragen, oft winken leise Antworten.
Max fand seine Antwort. Er nickte weinend, als ich ihm Hilde Domins Worte «Ich setzte meinen Fuss in die Luft und sie trug» angeboten hatte. Ob er die Kraft, die ihn trug, GOTT nannte, bleibt ein Geheimnis. Dass er sich immer mehr tragen liess, wurde deutlich.
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Und bis zum Systemwechsel?
Max und seine Lieben konnten nicht darauf warten. Für sie war das Hospiz «eine Oase», also lebensrettend! Sie erzählen bis heute, was wir oft hören: «Wenn wir das gewusst hätten, wären wir früher gekommen. Es ist so gut, die Rolle der Pflegerin abgeben zu können, um als Partnerin die letzten Wochen Leben zu teilen. Aber: Ja, ich muss damit leben, dass ich es nicht geschafft habe, den Wunsch, zuhause zu sterben, zu erfüllen. Woher der Wunsch kam? Woher kann man schon wissen, wie köstlich es schmeckt, sich unterstützen zu lassen? Wir wussten doch nicht, wie es geht, auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein.»
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Fazit der Hospizseelsorgerin:
Ich möchte üben, den Rest meines Lebens: Die Köstlichkeit der Fürsorge durch andere zu geniessen. Immer wieder. Und dann dort sterben, wo nach mir geschaut wird und ich es annehmen kann. Auch wenn es nur fast wie zuhause ist.
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Karin Klemm ist Theologin und Hospizseelsorgerin in einem multiprofessionellen Team, das ganz oft so viel möglich macht (danke!!!) und manchmal so herausfordernd ist.
Bild: Margherita Delussu, Delussu Fotografie, Luzern
[1] Harvey M. Chochinov, Würdezentrierte Therapie, Göttingen, 2017, S. 24 ff: v.a. jüngere an Krebs erkrankte Menschen.
[2] Name und einige Eckdaten aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert.
[3] Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2002.
[4] Siehe auch das empfehlenswerte Buch von Renata Aebi und Pascal Mösli, Interprofessionelle Spiritual Care, hogrefe, 2021, S. 18 ff.
Von der Autorin auf feinschwarz.net erschienen: