Kein Text von Papst Franziskus hat so hohe Wellen geschlagen wie sein postsynodales Lehrschreiben Amoris Laetitia über die Freude der Liebe (2016).1 Und bei keinem anderen seiner Texte sorgt er sich derart engagiert um die ortskirchliche Wahrnehmung und Implementierung der darin festgehaltenen doktrinären und pastoralen Perspektiven. Von Hanspeter Schmitt.
Dieser Prozess kirchlicher Verortung begann schon im Vorfeld des Schreibens: Franziskus berief diesmal sogar eine zweiteilige Bischofssynode (2014/2015) ein, um die Lage, Bedeutung und Praxis von Ehe, Familie, Sexualität und Partnerschaft menschlich wie theologisch zu beraten. Die Basis dafür war eine weltweit angelegte Recherche vor Ort greifbarer Äußerungen, Erfahrungen und Nöte.2
Papst forderte die Ortskirchen zu einer eigenständigen Umsetzung auf.
Im Nachfeld seines Schreibens trieb er die Konkretion dieser synodal erarbeiteten Erkenntnisse in Sinne der besagten Implementierung konsequent voran3: Er forderte die Ortskirchen im Blick auf ihre kulturellen und regionalen Gegebenheiten zu einer eigenständigen Umsetzung auf; bestätigte teils ausdrücklich ihre Interpretationen; erklärte die kirchliche Reform des Sakramentenempfanges von wiederverheirateten Geschiedenen für amtlich entschieden; weitete die Debatte über Amoris Laetitia aber immer wieder auf das gesamte Spektrum der darin enthaltenen Aspekte einer Pastoral der Ehe und Familie aus.
Auch das nun eröffnete Jahr der Familie dient der ungeteilten Wahrnehmung dieses Programms und seiner Umsetzung.4 Dies geschieht mittels zahlreicher welt- und ortskirchlicher Angebote und Ereignisse. Ihr Sinn sei, den mit Amoris Laetitia begonnenen Weg fortzusetzen und „in Bezug auf die Realität der Familie zu einem neuen pastoralen Ansatz zu ermutigen.“5 Es reiche, so Franziskus, nicht, „die Gültigkeit und Bedeutung der Lehre zu wiederholen“; vielmehr sei das „Evangelium (zu) verkünden, indem man Menschen begleitet und sich in den Dienst ihres Glücks stellt“.6
Bei allem ist bezeichnend, dass Papst Franziskus auch im Zuge dieser Implementierung seinem subsidiären Lehr- und Leitungsstil treu bleibt.7 Nicht von oben herab dekretiert er konkrete pastorale Lösungen und Wege. Vielmehr spielt er den Ball im Anschluss an die von ihm inspirierten und moderierten synodalen Prozesse an die Ortskirchen zurück. Ihre Aufgabe ist es, kraft ihrer Kompetenzen und Kenntnisse in der Perspektive synodaler Einsichten für angemessene Konzepte kirchlichen und gemeindlichen Handelns zu sorgen.
Subsidiäre Implementierung eines neuen Stils und Willkommenskultur der Pastoral.
Die Schweizer Bischöfe Felix Gmür (Basel) und Markus Büchel (St. Gallen) haben diesen Ball subsidiärer Implementierung von Amoris Laetita aufgenommen und gespielt, schon bevor das Jahr der Familie angekündigt war. Ihre „Pastoralen Orientierungen“ (2020), die von der Pastoralkommission ihrer Bischofskonferenz erarbeitet wurden, stellen eine regional relevante, sachlich vertiefte sowie theologisch bedeutsame Umsetzung dessen dar, was Amoris Laetitia konzeptionell vorgegeben hat. Im Titel dieses Textes zeigt sich bereits sein human wie theologisch voranschreitendes Potential: „Paare und Familien. Kirche und Pastoral betreten ‚Heiligen Boden‘“8. Meines Erachtens hat dieses bischöfliche Schreiben das Potential, für weitere lehramtliche und ortskirchliche Adaptionen rund um die Thematik und Perspektiven von Amoris Laetitia ein Modell zu sein.
Zuvor aber zu einem zentralen Bezugspunkt dieser Orientierungen, der in der Botschaft der Schweizer Bischofskonferenz zu Amoris Laetitia von 2017 zu finden ist9. Hier wird die gesamtkirchliche Lehrperspektive des Papstes in den landeskirchlichen Horizont eingetragen und für ihn fruchtbar gemacht. Die ehe- und familienpastorale Umkehr und Zuwendung, die Franziskus anmahnt, wird als neuer Stil und Willkommenskultur der Pastoral interpretiert, die vom Geist der Gnade und Anerkennung gerade auch schwieriger Situationen und Lagen dieses Bereiches geprägt ist. Es gehe darum, die vorhandenen Wertigkeiten und ehrliches Bemühen zu würdigen und pastoral einladend zu fördern. Erst pastorales Umdenken als stets nötige Barmherzigkeit und graduelle Einbeziehung gegebener Umstände führe die kirchliche Doktrin auf einen sich praktisch gut entwickelnden Weg.
Wahrnehmen, Begleiten, Unterscheiden, Integrieren.
Damit wird bereits die Begrifflichkeit von Amoris Laetitia aufgenommen, was sich danach in allgemeinen Perspektiven des pastoralen Handelns fortsetzt. Auch für die Schweizer Bischofskonferenz ist jene Schrittfolge prägend, die Franziskus nicht nur für diesen Bereich lehramtlich nahelegt: differenziertes, sensibel und aktiv hörendes Wahrnehmen; engagiertes nahes Begleiten; situativ angemessenes gewissensgetragenes Unter- und Entscheiden; sowie auf allen Ebenen das Prinzip, niemanden auszugrenzen, sondern alle pastoral umfassend einzubeziehen und zu integrieren.
Die besagten pastoralen Orientierungen der Schweizer Bischöfe Gmür und Büchel wollen die in Amoris Laetitia und auf Ebene ihrer Konferenz „begonnene Lernbewegung in der Paar- und Familienpastoral“ (Seite 09) ortskirchlich vorantreiben. Sie sprechen von einer ersten Konkretisierung, die sich an alle richtet, die in diese Pastoral involviert sind. Der gemeinsame inhaltliche Nenner ihrer Vorstellungen ist die skizzierte „erneuerte Grundhaltung der katholischen Kirche (…) gegenüber Paaren und Familien. Von dieser Grundhaltung ausgehend lassen sich konkrete Aufgaben für die katholische Kirche und Folgen im Blick auf personelle und finanzielle sowie strukturelle Schwerpunktsetzungen ableiten.“ (09)
Schweizer Bischöfe treiben Implementierung voran.
Für die sich hier fortsetzende subsidiäre Implementierung von Amoris Laetitia bedeutsam ist zunächst, dass der Text auf eine detaillierte Kasuistik gebotener Pastoral verzichtet. Stattdessen werden mögliche Wege und Empfehlungen für verschiedene Ebenen und Bereiche solcher Pastoral umrissen und konzeptionell abgestimmt. (30-43) So erst öffnet sich die Türe für die gewünschte schöpferische Anwendung dieser Maßgaben. Außerdem werden sie von einer breiten Hermeneutik partnerschaftlichen und familiären Lebens begleitet. (11-29) Damit lösen sie den Anspruch ein, rational transparente Orientierungen für die Konkretisierung künftiger Praxis zu sein.
Folgende Flächen werden zu diesem Zweck in den Text inhaltlich eingespielt:
- Soziologisch (11-14) geht es zuerst um den Stellenwert, den Familie, Ehe und Partnerschaft genießen. Dabei kommt die Vielfalt von Lebens- und Familienformen ohne subtile Abwertung in den Blick, was für einen amtlichen Text der katholischen Kirche keineswegs selbstverständlich ist. Gleichwohl werden neben den Chancen auch Herausforderungen benannt, besonders jene, die mit der Privatisierung partnerschaftlichen und familiären Lebens verbunden sind. Aus den Erwartungen und Lasten, denen Paare und Familien kulturell und gesellschaftlich ausgesetzt sind, leitet der Text Impulse für das diakonische und anwaltschaftliche Handelns der Kirche zugunsten aller Betroffenen ab. (13)
- Institutionenkritisch (15-18) geht es um den immensen Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche in diesem Bereich: Er resultiert historisch aus einer falschen, eigennützigen Idealisierung und Vereinnahmung von Paaren und Familien sowie aus der respektlosen kirchlichen Einmischung in ihren inneren Raum, vor allem was Sexualität und Elternschaft betrifft. Offen eingeräumt wird zudem, dass die annehmende Pastoral, die nun lehramtlich greift, schon lange Praxis vieler Seelsorgenden war. Diese Perspektive jetzt offiziell fortzusetzen, trifft aber auf das große „Misstrauen gegenüber der Kirche und ihrer Pastoral als Folge der bekannt gewordenen Fälle des Missbrauchs durch Priester und der dahinter liegenden Macht- und Vertuschungsstrukturen.“ (17)
- Pastoraltheologisch (18-29) ist das umso mehr Anlass, „in Paar- und Familienbeziehungen (…) einen ‚Heiligen Boden‘ (Exodus 3,5) zu erkennen.“ (19) Diese Metapher der Gottesbegegnung Mose ist bereits von Papst Franziskus für die sensible respektvolle Begegnung von Menschen genutzt worden10. In diesem Text sichert und vertieft sie sämtliche darin leitenden Intentionen: Paare und Familien werden als Orte spiritueller, lebens- und sinnträchtiger Erfahrungen entdeckt; sie sind unverzichtbare Gesprächspartnerinnen kirchlicher Pastoral; hier tragen sie ihre Erfahrungen, Potentiale, Herausforderungen und Grenzen ein und werden entlang ihrer Möglichkeiten begleitet und gefördert; das geschieht auf ihre Realität bezogen, würdigend, unterstützend und stets so, dass sie Subjekte dieser Pastoral bleiben. Dafür können Kirche und Glaube Ressourcen sein: diakonisch, katechetisch, für die Entdeckung und Pflege der heiligen wie heilsamen Momente dieses „Heiligen Bodens“. Vor allem lernt die Kirche durch diese Pastoral von Paaren und Familien, „welche bislang noch nicht erkannten Lebens- und Hoffnungskräfte im Evangelium verborgen sind.“ (29)
- Normativ (30-43) folgen die schon erwähnten Maßgaben und spornen zu ihrer weiteren Implementierung an: Dabei wird in den unterschiedlichen landes-, regional- und lokalkirchlichen Formaten gedacht und auch die duale Struktur des Schweizer Kirchensystems konstruktiv einbezogen. Innerhalb dieser Vorgaben entwirft der Text organisatorische, finanzielle und personelle Konturen dieser von Grund auf erneuerten Paar- und Familienpastoral. Das reicht bis zu Impulsen für entsprechende Fachstellen, Bildungsangebote und Ausbildungswege oder für die spezifische Wahrnehmung besonders verletzlicher Gruppen wie Kinder, Jugendliche und Migrantenfamilien. Zweifelsfrei klärt sich, dass diese Pastoral Anliegen und Merkmal aller kirchlichen Vollzüge ist. Dabei sollen Sozialraumorientierung, Ökumene, Kooperation sowie die subsidiäre Förderung vor Ort wirksamer Akteure und Kompetenzen Grundzüge aller weiteren Umsetzungsschritte sein.
Lehramtliche Innovation bei der Würdigung von Paaren und Familien.
Diese Strategie ortskirchlicher Implementierung von Amoris Laetitia hat wegen ihrer sachlichen, theologischen und praktischen Substanz Modellcharakter. Die eigentliche Innovation des bischöflichen Textes aber liegt auf der doktrinären Ebene: Denn die darin gezeigten Perspektiven neuer Pastoral sind ausnahmslos auf sämtliche Formen partnerschaftlich orientierten Liebens und Familieseins bezogen. Bei der Würdigung, Akzeptanz und lernoffenen Begleitung von Paaren und Familien gibt es keine prinzipiellen Unterschiede. Das geht wohlgemerkt nicht auf Kosten einer Wertschätzung der klassischen sakramentalen Ehe. Sie wird aber nicht als absoluter Maßstab für die Be- und Abwertung anderer Formen des Liebens eingeführt, sondern als Verdeutlichung und Verdichtung möglicher Gemeinschaft und Nähe Gottes, „zu der alle Menschen in ihrem Leben und in ihren Beziehungen gerufen sind.“ (23-24)
Das ist keine Marginalie im Rahmen lehramtlicher Diskurse! Diese sind – trotz gesteigertem Reformwillen – vom Klima einer „Anerkennung unter Vorbehalt“11 geprägt, was liebende Partnerschaft jenseits der auf Zeugung bezogenen Ehe von Mann und Frau betrifft. Das dabei greifende, vermeintlich natürliche Ideal ist bis dato lehramtlich leitend. Es wirkt – inmitten einer im Geist von Amoris Laetitia integrationsfördernden Pastoral – für die personale Identität und Werthaltigkeit alternativen Liebens faktisch ausgrenzend und abstufend.
Die Bischöfe Gmür und Büchel wählen hier einen anderen Ansatz. Sie öffnen in ihrer Implementierung von Amoris Laetitia den Horizont für eine wirklich ungeteilte, ausschließlich auf die Qualität personalen Liebens bezogene pastorale Praxis und Anerkennung. Wenn dabei aktuelle Fragen wie der Sakramentenempfang oder Segnungsformen unerwähnt bleiben, ist das der Beachtung vor Ort liegender Kompetenzen für die weitere angemessene Implementierung geschuldet. Der pastoraltheologische Horizont dafür ist jedenfalls eröffnet. Vor allem aber wird in diesem Horizont deutlich, dass eine Pastoral, die im Dienst der ungeteilten Wahrnehmung und Respektierung humaner Liebe und der von Gott geliebten Geschöpfe steht, die erste und eigentliche Lehrmeisterin kirchlicher Akteure und kirchlicher Doktrin ist.
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Text: Hanspeter Schmitt war lange in der Jugend-, Klinik- und Berufungspastoral tätig und ist Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur (Schweiz).
Bild: Chirografo-Esortazione-Apostolica
- Vgl. aus der Vielzahl an Titeln: Stephan Goertz / Caroline Witting (Hrsg.), Amoris laetitia – Wendepunkt für die Moraltheologie? Freiburg i.Br. 2016; Paul M. Zulehner, Vom Gesetz zum Gesicht. Ein neuer Ton in der Kirche: Papst Franziskus zu Ehe und Familie – Amoris laetitia, Ostfildern 2016. ↩
- Vgl. Julia Knop / Jan Loffeld (Hrsg.), Ganz familiär. Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte, Regensburg 2016; Themenheft „Die Freude der Liebe“. Von der Bischofssynode zum postsynodalen Schreiben Amoris laetitia, in: Lebendige Seelsorge 67 (2016) 230–281. ↩
- Vgl. exemplarisch: Roland Müller, Fünf Jahre „Amoris Laetitia“. Viel mehr als eine Fußnote; Radio Vatikan (30.03.2017), Papst an Familien. Vertiefte Beschäftigung mit Amoris Laetitia; Papst Franziskus, „Es gibt keine anderen Interpretationen“; Ders., Schreiben zum 9. Weltfamilientreffen; Mario Galgano, Weltfamilientreffen. Hoffnung auf Impulse für Familienpastoral. ↩
- Vgl. zur Einordnung: Roland Juchem, „Amoris laetitia reloaded“. Kirche beginnt Aktionsjahr zu Familie. ↩
- Papst Franziskus, Botschaft an die Teilnehmer am Online Kongress zur Eröffnung des „Jahres der Familie Amoris Laetitia“ vom 19. März 2021. ↩
- Ebd. ↩
- Vgl. Hanspeter Schmitt, Dialogisches Lehramt. Amoris Laetitia: feinschwarz.net vom 9. Mai 2016; Ders., Subsidiarität statt Subordination. Leitbegriff und Reflexion einer erneuerten kirchlichen Moralkommunikation, in: Michael Durst / Birgit Jeggle-Merz (Hrsg.), Familie im Brennpunkt, Freiburg (Schweiz) 2017, 75-115. ↩
- Hrsg. Bistum Basel / Bistum St. Gallen (Edition SPI, St. Gallen 2020). Die Seitenzahlen der zitierten Stellen werden in Klammern angegeben. ↩
- Schweizer Bischofskonferenz (SBK), Für eine Erneuerung der Ehe- und Familienpastoral im Lichte von Amoris Laetitia: eine gute Nachricht für alle (St. Niklausen 2017). ↩
- Exemplarisch: Evangelii Gaudium 169. ↩
- Hanspeter Schmitt, Familien- und Beziehungsvielfalt würdigen, in: Arnd Bünker / Hanspeter Schmitt (Hrsg.), Familienvielfalt in der katholischen Kirche. Geschichten und Reflexionen, Zürich 2015, 137-151, 143. ↩