Geschlechtergerechtigkeit ist ein viel diskutiertes Thema in der katholischen Kirche. Amanda Ruf analysiert Geschlechterbeziehungen auf das Verhältnis von hierarchischen und solidarischen Schwerpunkten. Daraus entstehen vier verschiedene Standpunkte, die sich in den Diskussionen wiederfinden.
Von wegen göttliche Ordnung. Seit jeher erinnere ich mich, wie Frauen in der katholischen Kirche Veränderungen fordern. Leicht war das noch nie, das weiß auch ich. Kurz vor meiner Erstkommunion habe ich, meine noch kleinen platten Füße laut aufstampfend, wütend die Frage gestellt, warum um alles in der Welt ich im Gegensatz zu meinem Bruder als Ministrantin nicht geeignet sein sollte. Ich war wohl damals schon recht ausdauernd in meinen Forderungen nach für mich nachvollziehbarer Argumentation. So haben sich der Pfarrer meiner Heimatgemeinde, meine Religionslehrerin und meine Eltern, auch das weiß ich noch, dann wirklich redlich um Antworten bemüht. Doch damals wie heute habe ich ihre Begründungen nicht verstanden. Und, ja, meine Erstkommunion habe ich dennoch gerne gefeiert. Die Situation hat sich seither zum Positiven gewandelt. Meine Nichten als Ministrantinnen vor dem Altar gehören seit langem zum Kirchenbild meiner Heimatgemeinde dazu. Das ist wirklich schön. Es tut sich einiges in Sachen Gendergerechtigkeit in der Kirche, lässt ein erster Blick vermuten.
„Zornig“
Im Mai 2019 stellte die Initiative Maria 2.0 geltende kirchliche Machtstrukturen infrage. Eine überwältigende Vielzahl von Mädchen, Frauen und auch Männern unterschiedlichen Alters oder Herkunft sah sich aufgrund der vielen Vorfälle von sexueller Gewalt in der katholischen Kirche aufgefordert, endlich aufzustehen. Nun jährt sich dieser Mai zum dritten Mal. „Zornig“ mache es sie, sagt Andrea Keber aus dem deutschen Nieder-Olm, die im SWR Fernsehen in „Kirchen-Kämpferin in Marias Namen“ Ende April 2021 Stimme erhält. Ja, zornig mache es sie, wie eine von Männern getragene Amtskirche Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung ausschließe. Das sei „unmenschlich“. Das, sagt sie, wolle sie so nicht mehr hinnehmen. Gemeinsam mit Mitstreiter:innen fordert sie mehr Gleichberechtigung, die Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen und die Abschaffung des Pflichtzölibats, um – wie es eine der Unterstützer:innen trefflich formuliert – eine Kirche zu gestalten, die auch noch für alle Enkel:innen glaubwürdig erscheint.
Unzufriedenheit mit der Institution
Anlässlich der aktuellen Zahlen, das zeigt ein zweiter Blick, ist es für die Umsetzung von Maria 2.0 wohl kurz vor Zwölf. Allein im Jahr 2019 haben laut Kirchenaustritt.de in Österreich mehr als 67.500 Menschen der Kirche den Rücken gekehrt. Knapp 40 Prozent geben als Grund dafür die Unzufriedenheit mit der Institution oder ihren Amtsträgern an. Den männlichen, mag ich hinzufügen. Denn Frauen in Leitungspositionen waren und sind in der Kirche absolute Randphänomene.
Das verwundert kaum. Denn, wie ein dritter Blick zeigt, scheint die katholische Kirche seit Jahrhunderten recht bemüht, Diskurse zu etablieren, die der Gleichstellung der Geschlechter entgegenwirken. Beispiele finden sich viele. So erhält erst vor ein paar Jahren der Regensburger Bischof Müller offen Beifall aus Kirchenreihen, als er Reformgruppen in der katholischen Kirche als „parasitäre Existenzform“ bezeichnet. Kardinal Woelki aus Köln wiederum hält über den Zeitraum von einem Jahr ein Rechtsgutachten, das Hunderten von Missbrauchsopfern Stimme gibt, rein aus formalen Gründen unter Verschluss. Und schließlich legen die letzten Veröffentlichungen aus Rom offen, wie sich essentialistische Bilder der dienenden Frau und des führenden Mannes zementieren. Zwar dürfen Frauen seit Ende Januar 2021 höchstoffiziell Lesungen vortragen und Kommunion austeilen. Indem sich, so meine ich, jedoch formalisiert, was vielerorts längst gelebt wird, schließt sich die Tür für das Diakonat der Frauen.
Widerstände gegenüber Frauen
Unter dem Vorzeichen von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung scheinen sich in der Kirche die Widerstände gegenüber Frauen und den Anliegen von Maria 2.0 auszuweiten. Hat der Einsatz für Gendergerechtigkeit in der katholischen Kirche überhaupt einen Sinn? Wo kommen sie her und wie halten sie sich, diese Barrieren gegen eine tatsächliche Teilhabe aller an der Kirche Beteiligten?
Diese Frage führt mich zur Sozialanthropologin Mary Douglas. Nach Ansicht von Douglas hängt unser Blick auf die Welt grundlegend davon ab, wie wir zusammenleben, also von den Beziehungen der Menschen zueinander. Diese Beziehungen sieht sie abhängig von den beiden schematisch verknüpften Größen Grid und Group. Das vertikale Grid gibt Aufschluss darüber, wie sich Menschen in ihrem Tun über Hierarchiezwänge beeinflusst fühlen. Das horizontale Group wiederum beleuchtet, wie sich Menschen darin auf die Solidarität in ihrer Gruppe verlassen können. Je nach Zusammenhang von Grid und Group, so Douglas, entwerfen sich vier Normalzustände gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Geschlechterhierarchie und Gendersolidarität
In der Debatte um Gendergerechtigkeit in der katholischen Kirche bringt uns das Grid und Group Schema ein gutes Stück weiter. Denn abhängig davon, wie sich Geschlechterhierarchie und Gendersolidarität in kirchlichen Beziehungen in Verhältnis bringen, zeigen sich vier gänzlich unterschiedliche Vorstellungen eines normalen Zusammenlebens der Geschlechter. Diese vier Felder an normative Konzepte der Philosophie anschließend, machen nachvollziehbar, wie und warum sich Gendergerechtigkeitsfragen in der katholischen Kirche höchst widersprüchlich ausdeuten. Im Folgenden möchte ich die vier Felder kurz näher erläutern.
steil hierarchisch, gering solidarisch
Im Grid und Group Schema links oben findet sich erstens das Feld mit steil hierarchischen und gering solidarischen Geschlechterbeziehungen. Es gilt das Wort des erhabenen Mannes. Das Wort der Frau erscheint hier gänzlich unwürdig. Diese Annahmen schließen an den Kirchengelehrten Thomas von Aquin an. Der Aquinate geht davon aus, dass Gott Gerechtigkeit auf Erden höchstselbst gestaltet und über die Instanz des Gewissens in Erscheinung tritt. Von Natur aus als Mängelwesen betrachtet, sind Frauen dazu nicht geeignet. Nach diesem Verständnis sind Männer vor allem auch aufgrund ihres Geschlechts zum Herrn und Haupt auch der Kirche vorbestimmt. Und der Anspruch von Frauen und Lai:innen auf aktive Mitwirkung wird so als Geringwertung der Kirche selbst interpretierbar. Unter diesen Bedingungen, so vermute ich, lässt sich Bischof Müllers Ansicht einer von Parasiten befallenen Kirche als eine, zugegeben etwas schräge, Sorge um die Institution selbst verstehen.
steil hierarchisch, hoch solidarisch
Rechts oben im Grid und Group Schema findet sich zweitens das Feld mit steil hierarchischen und hoch solidarischen Geschlechterbeziehungen. Wieder gilt das Wort des erhabenen Mannes, das hier jedoch gleichermaßen auch von Frauen und Lai:innen mitgetragen wird. Diese Idee schließt konzeptuell an den griechischen Philosophen Platon an. Platon sieht Gerechtigkeit an für die Menschen vorbestimmte Positionen geknüpft. Wird Gerechtigkeit über solch substanzielle Grenzziehungen zwischen Männern und Frauen, Kirchenmännern und Lai:innen gestaltet, werden Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen in der Kirche zwar anerkannt, soziale Ungleichheiten jedoch tabuisiert. Denn von Natur aus sind Frauen hier Männern untergeordnet und somit nicht auf bestimmte Kirchenämter berufbar. In diesen Zusammenhang gesetzt, werden jene Weiblichkeit prinzipiell würdigenden und Frauen vom Diakonat ausschließenden Worte von Papst Franziskus tatsächlich als gelungene Kirchenreform lesbar.
flach hierarchisch, gering solidarisch
Links unten im Grid und Group Schema findet sich drittens das Feld mit flach hierarchischen und gering solidarischen Beziehungen. Hier gilt das Wort ehrenhafter Kirchenmänner ebenso wie das Wort einfacher Lai:innen. Dieses Bild setzt sich normativ in Verhältnis zum Staatsphilosophen Thomas Hobbes. Begegnen sich, wie Hobbes es versteht, an sich gleichgestellte Individuen in einem Naturzustand von Angst und Gefahr, ist ein friedfertiges Zusammenleben nur über verschriftlichte Verfahren möglich. Kirchliche Machtkalküle und Strukturbarrieren, die eine Hörbarmachung oder Sichtbarmachung verschiedener Stimmen oder Menschen verhindern, werden jedoch ausgeblendet. Als ein, nun ja, auch etwas komisch anmutender Beitrag zur Herstellung von Gerechtigkeit erscheint nach dieser Sicht also, wie Kardinal Woelki Veröffentlichungen zum kirchenamtlichen Umgang mit Missbrauchsvorwürfen mit Blick auf eventuelle rechtliche Fehler im entsprechenden Gutachten zu verhindern versucht.
flach hierarchisch, hoch solidarisch: zukunftsweisend
Schließlich findet sich viertens im Grid und Group Modell rechts unten das Feld mit flach hierarchischen und hoch solidarischen Beziehungen. Hier gilt das Wort von allen an Kirche und Gesellschaft Beteiligten. Männern, Frauen und auch Lai:innen wird gleichermaßen Stimme gegeben. Und alle sind auch gleichermaßen dafür verantwortlich, Barrieren und Widerstände abzubauen. Diese Vorstellung verknüpft sich normativ mit dem Gerechtigkeitskonzept der Philosophin Martha Nussbaum. Die „intuitive Idee“ der Menschenwürde zentral gesetzt, sind nach Nussbaum Menschen in all ihren sozialen Bezügen wahrzunehmen und darin von allen zu einem guten Leben in Gemeinschaft zu befähigen. Andrea Kerber und Maria 2.0 leben Gerechtigkeit auf diese Weise; umfassend, nachhaltig und mit Blick auf das, was eine menschenwürdige Kirche von heute braucht. Dass hier sowohl das normative Konzept als auch die gesellschaftliche Praxis von Frauen ausgestaltet werden, ist auffallend genug. Und so versteht es sich wohl fast von selbst, welchen der vier Zugänge zu Gerechtigkeit ich als den zukunftsweisenden ansehe. Die männlichen Amtsträger der katholischen Kirche tun meines Erachtens gut daran, sich diesem Weg immer weiter zu öffnen.
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Dr.in Amanda Ruf ist Soziologin und Organisationsethikerin. Wie Organisationen ethische Grundwidersprüche in ihrer Alltagspraxis bearbeiten, beschäftigt sie seit Jahren. Das hier vorgestellte 4 Felder Schema hat sie von 2014 bis 2020 im Rahmen ihrer Dissertation erarbeitet. Es zeigt, wie und unter welchen Bedingungen sich gegensätzliche Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit hervorbringen. Mit Fokus auf technische Unternehmen erstellt, erscheint es auch auf kirchliche Organisationen anwendbar.
Bild: Lance Anderson / unsplash.com