Ottmar Fuchs liest Annette von Droste-Hülshoffs „Geistliches Jahr“ und eröffnet einen neuen Raum für das Verständnis der Spiritualität der Droste. Doris Krockauer wiederum hat die Monographie von Fuchs gelesen – hier ihre Eindrücke.
„Dichter sind Religionsgründer“[1], konstatierte der Schriftsteller Martin Mosebach in seiner Eröffnungsrede des neuen Lyrik-Kabinetts München unter Verweis auf passionierte LyrikleserInnen. Ob er dabei auch an Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) gedacht hat, ist nicht bekannt, doch könnte man sein Bonmot durchaus im Hinblick auf Droste-Hülshoffs Gedichtzyklus „Das Geistliche Jahr“ betrachten, der 1851 aus dem Nachlass der Dichterin herausgegeben wurde.
Die Arbeit an dieser umfangreichen Perikopendichtung, die entlang des Kirchenjahres Grundzüge des eigenen Glaubenslebens entfaltet, hatte die Dichterin nach Fertigstellung des ersten Teils 1819 unterbrochen und zwanzig Jahre später mit dem zweiten Teil vervollständigt. Die Unterbrechung wird gemeinhin damit erklärt, dass eine der ersten Leserinnen jenes ersten Teils ihre Mutter war, die jedoch das Werk kommentarlos in einen Schrank legte. Die abwehrende Haltung der Mutter resultierte wohl, so die allgemeine Lesart, aus der „Auffassung, Laien, und Frauen zumal, stehe es nicht zu, über solche Themen zu schreiben“[2].
Frauen- und Laientheologin
Der jüngste passionierte Droste-Leser ist hingegen ganz anderer Auffassung: Ottmar Fuchs, emeritierter Professor für Praktische Theologie, würdigt in eingehender Lektüre nicht nur den theologischen Gehalt der geistlichen Gedichte Droste-Hülshoffs, sondern in besonderem Maß auch die Dichterin als „Frauen- und Laientheologin“[3], in dem Bestreben, die erste theologisch orientierte Monographie zu dieser Dichtung vorzulegen, die nach eigenem Bekunden „zwischen wissenschaftlicher Recherche und persönlicher Affinität“ (10) schwankt. Dass er in Droste-Hülshoff „quer durch die Zeit eine große Theologin“ zu erkennen vermag, hat erklärtermaßen auch mit dem Wiedererkennungswert seiner Theologie zu tun, so Fuchs, da die Begegnung mit der Dichterin „auch zum Durchlauferhitzer meiner eigenen Theologien und Emanzipationsprozesse“ (10) werde.
Fuchs’ Betrachtung des „Geistlichen Jahres“ als eine „theologische Entdeckung“, wie der Untertitel ankündigt, mag zunächst überraschen, da die unbefangene Lektüre dieses lyrischen Zyklus für heutige LeserInnen nicht unbedingt mit größerer Entdeckerfreude einherzugehen vermag. Der Grundcharakter einer in den Fokus des Glaubens bzw. eigener Glaubensbemühungen gestellten, formbemühten Dichtkunst mit bisweilen lehrhaftem Stil und hohem lyrischen Ton mag auf den ersten Blick befremden. Auch die bekenntnishafte wie klagende enge In-Beziehung-Setzung zu einem transzendenten Gegenüber, die sowohl die Last als auch die schöpferische Lust des lyrischen Subjekts auszumachen scheint, tangiert ein modernes Selbst- und Autonomieverständnis. Ricarda Huch attestiert in ihrem differenziert würdigenden Nachwort zu Droste-Hülshoffs lyrischem Gesamtwerk diesen Gedichten zwar, dass sie „aus der Tiefe ihrer (d.h. Drostes) Persönlichkeit aufstiegen, in der sie zum ersten Male ihre eigene Sprache sprach“. Doch merkt sie an, dass es sich dabei um eine „merkwürdige(n) Dichtung“ handelt, von der selbst Droste-Hülshoff meinte, „dass sie neben der einfachen Größe der Heiligen Schrift künstlich und gequält wirkte(n)“[4].
Vermittlung ist notwendig
Um die Relevanz des „Geistlichen Jahres“ in die Gegenwart hinein erkennbar werden zu lassen, tut daher Vermittlung gut, um nicht zu sagen eine spezifische Hermeneutik, die neben den vorliegenden germanistischen Forschungsarbeiten (u.a. zur ‚Modernität‘ dieser Dichtung[5]) insbesondere die dominierenden glaubensweltlichen Aspekte durchleuchtet. Umgekehrt ist auch festzustellen, dass die im Denk- und Erfahrungsraum geistlicher Auseinandersetzung stehenden Gedichte durchaus gehaltvollen Stoff zu tief gehender Deutung spiritueller Aspekte bieten, wie Ottmar Fuchs’ Subkutane Revolte belegt.
Welch hochkomplexes geistliches Profil dieser Zyklus aufweist, arbeitet Fuchs textorientiert und mit intertextuellen Verweisen in einer „Begegnungshermeneutik“ (36) entlang der dominierenden Themen wie Gnade und Glaube, Schuld und Sühne, Bibel und Freiheit, Liebe und Solidarität heraus. Sie lassen sich mit dem Oberbegriff eines „paradoxen Glaubens“ umreißen. Es ist ein Glaube ohne die diesseitige Erfahrung Gottes: „Auch Droste erfährt nicht, was sie glaubt, denn diese Erfahrungen gab es nur (vielleicht) in der Vergangenheit, es gibt sie hoffentlich in der Zukunft des Jenseits, aber es gibt sie nicht jetzt in der Jetztzeit.“ (233) Dieser „paradoxe Glaube“, der ebenso mit Selbstanklagen wie mit Klagen gegen Gott einhergeht, hat daher keine unmittelbar heilbringende, Ich-stabilisierende Dimension, sondern im Gegenteil, er fungiert wie ein Brennglas der eigenen Existenzproblematik: „Ihr Glaube versagt als religiös hilfreiche Phantasie. Im Glauben lösen sich nicht ihre Probleme, sondern sie gewinnen darin eine umso unergründlichere Tiefe.“ (186)
Von welchem Gott ist hier die Rede?
Die sich daran anknüpfende Frage, wer bzw. welches (lyrische) Subjekt sich hier artikuliert, nimmt Fuchs dabei weniger in den Blick als die genauso naheliegende Überlegung, von welchem Gott und von welchem Gottesverhältnis hier die (theologische) Rede ist ‒ ein gleichfalls paradoxer Gottesbegriff zeichnet sich ab: „Gott wird für Droste als nichtnutzbarer, als nichtnotwendiger Gott notwendig. (…) So erklärt sie auf der einen Seite Gott als Felsen, der auf nichts, was sie erlebt, reagiert, doch diese niederschmetternde Diesseitigkeit macht sie nicht zum Maßstab der Gnade Gottes selbst. Sie glaubt an die Gnade, auch wenn sie sie gegenwärtig nicht erfährt.“ (188f)
Die tiefe Glaubenshoffnung auf die jenseitige Barmherzigkeit und Gnade Gottes gibt daher nicht Anlass zur Klage. Vielmehr macht die beklagte Leerstelle ihres Gottesverhältnisses die Nichterfahrbarkeit der befreienden Kraft Gottes im Hier und Jetzt aus. „Droste hat eigentlich keine Schwierigkeiten mit dem Gottesglauben über den Tod und das Ende der Welt hinaus, sondern sie hat genauere Schwierigkeit mit der Erfahrung, dass dieser Gott nicht im Diesseits das Leben befreit. Genau diese komplexe Glaubensstruktur zwischen Nichterfahrbarkeit und kontrafaktischer Glaubenshoffnung weiß Droste dann allerdings mit einer ganz bestimmten Gegenwart Gottes in dieser Welt zu verbinden, nämlich Christus, in dem sich genau diese Problematik spiegelt, durch den sie erlebt wird und mit dem sie durchgetragen werden kann.“ (196f)
Keine erfahrungsbezogene Verbindung zwischen Gott und Welt
Das Glaubensprofil der Katholikin Droste-Hülshoff, in dem es keine erfahrungsbezogene Verbindung zwischen Gott und Welt gibt, aber die Existenz Gottes über die Welt und das Lebensende hinaus elementare Glaubensüberzeugung ist, berührt, so Fuchs, den Kern katholischer Glaubenslehre: Da die Verbindungen zwischen diesseitiger Glaubenserfahrung und jenseitiger Hoffnung gelöst sind, „pflanzt Droste dem Katholischen selber mit dessen sprachlicher Ausdruckskraft eine radikale negative Theologie ein, wie sie kaum radikaler sein kann. Die einzige Verbindung ist die Christologie oder besser eine ganz bestimmte Christopraxie, die, um dies trinitätstheologisch weiterzudenken, diese radikale Differenz in die zweite göttliche Person selber hineintreibt. Mit Droste darf man theologisch also so weiterdenken: Gott ist selber in sich derart zerrissen, dass es in ihm diesen unendlichen Hiatus zwischen Diesseits und Jenseits gibt.“ (233)
Innerhalb dieser Konstellation, letztlich einem gescheiterten „Analogieprogramm zwischen Himmel und Erde“ (197), tritt die Liebe als die treibende und notwendige Kraft hervor, die den Glauben und seine verlebendigende Wirkung begründet. Die Liebe überwindet die diesseitige Nicht-Erfahrbarkeit Gottes in der Welt und beglaubigt zugleich Gottes Existenz über den Tod hinaus. „Was für sie bleibt, ist die Sorge um die Verwundbarkeit aus Liebe zu den Menschen und zu dem Gott, der jenseits als Liebe geglaubt wird und diesseits als Christus die abgründige Differenz zu ihm selbst mitaushält.“ (197)
Sehnsucht nach der überpersonalen Wirklichkeit der Liebe
Dieser Paradigmenwechsel löst die Sehnsucht nach der diesseitigen Nähe Gottes durch die Sehnsucht nach der überpersonalen Wirklichkeit der Liebe ab, die dem Glauben an die jenseitige Offenbarung der Liebe Gottes vorangeht. „Wir leben hier als wenn es Gott nicht gäbe, Droste würde sogar sagen: wir leben hier in dieser Welt, in der es Gott als Gott nicht gibt. (…) Gegen die Vorstellung, dass die jenseits gedachte Grundlosigkeit der Welt als Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal und ihrem Leiden, auch ihrer Freude gegenüber, gedacht wird, vertritt Droste, und hierin ist sie durchaus auch für die Gegenwart prophetisch, den kontrafaktischen, für jede Argumentation und für jede Korrelation nutzlosen, weil niemals für etwas anderes als für die Grundlosigkeit der Liebe beanspruchbaren, die Welt rettenden transzendenten Gott.“ (197f)
Dieser prophetische Aussagekern des „Geistlichen Jahres“ liegt daher im paradoxen Glauben Droste-Hülshoffs begründet. Der Erfahrungsmangel Gottes kann kein Maßstab für die Existenz Gottes angesichts der begrenzten menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten sein, seine (wiederum erfahrene) Verborgenheit zu verstehen. Droste-Hülshoff führt diese Einsicht daher nicht aus dem Glauben heraus, sondern noch weiter in die Poesie als anderen Erfahrungsraum hinein. So stellt Fuchs auch mit Blick auf Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz fest: „Es ist die Paradoxie eines Glaubens, der das Antworthafte verliert und gleichwohl oder gerade deswegen (…) über die Räume der Verzweiflung hinaus weitere Räume eröffnet oder zumindest erahnen lässt.“ (240)
Wechselseitige Befragung auf Augenhöhe
In emphatischer Nähe und mit wissenschaftlicher Tiefenschärfe begegnet Ottmar Fuchs dem lyrischen Werk Droste-Hülshoffs ebenso wie der Dichterin und mitunter auch sich selbst. Es ist eine Begegnung und eine wechselseitige Befragung auf Augenhöhe, die klugerweise weniger Antworten anstrebt, als sich vielmehr ihrer großen Fragen vergewissern will. Sie an die LeserInnen weiterzugeben, ist sicher nicht das einzige transdisziplinäre Verdienst dieses Buches. Hier mag das Diktum von Julian Barnes gelten: „Wir sind, im tiefsten Inneren, erzählende Wesen und immer auf der Suche nach Antworten. Die beste Literatur liefert nur selten Antworten, aber sie formuliert die Fragen ganz ausgezeichnet.“[6]
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Dr. Doris Krockauer ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Lehrbeauftragte an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Aachen.
1] Martin Mosebach, Ein Haus für Gedichte. Rede zur Eröffnung des neuen Lyrik Kabinetts München. München 2005, zit. nach: Im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Drei Jahrzehnte Poesie. Eine Anthologie. Hrsg. v. Michael Krüger und Holger Pils. München 2019, 13.
[2] Meinolf Schumacher, Annette von Droste-Hülshoff und die Tradition. Das „Geistliche Jahr“ in literaturhistorischer Sicht. In: Erich Ribbat (Hg.), Dialoge mit der Droste. Paderborn 1998, 113-145, hier 120.
[3] Ottmar Fuchs, Subkutane Revolte. Annette von Droste-Hülshoffs „Geistliches Jahr“. Eine theologische Entdeckung. Ostfildern 2021, 16.
[4] Ricarda Huch, Annette von Droste-Hülshoff. In: Annette von Droste-Hülshoff, Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ricarda Huch. Frankfurt am Main 1988, 707-732, hier 712f.
[5] Vgl. dazu exemplarisch die Forschungsarbeiten, Einzeltextanalysen und Überblicksartikel in: Cornelia Blasberg, Jochen Grywatsch (Hg.), Annette von Droste Hülshoff Handbuch. Berlin, Boston 2018.
[6] Julian Barnes, Am Fenster. Siebzehn Essays über Literatur und eine Short Story. Köln 2016, 10.