Drei fränkische Ordensleute wurden kürzlich wegen ihres Einsatzes für bedrängte Menschen verurteilt. Michelle Becka reflektiert die ethische Problematik im Zwischenraum von Recht und Gerechtigkeit.
Drei Strafbefehle wegen der Gewährung von Kirchenasyl in Franken innerhalb eines Jahres – Mutter Mechthild Thürmer OSB, Kirchschletten, Bruder Abraham Sauer OSB, Münsterschwarzach, und Schwester Juliana Seelmann OSF, Oberzell – drängen mich (als Sozialethikerin in Würzburg) zu einem Kommentar.
„’Kirchenasyl‘ ist die zeitlich befristete Aufnahme von Flüchtlingen ohne legalen Aufenthaltsstatus, denen bei Abschiebung in ihr Herkunftsland Folter und Tod drohen oder für die mit einer Abschiebung nicht hinnehmbare soziale, inhumane Härten verbunden sind. Während des ‚Kirchenasyls‘ werden alle in Betracht zu ziehenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte geprüft. […] In allen Fällen werden die Behörden und Gerichte über den Aufenthalt unterrichtet.“[1]
Kirchenasyl geht auf eine alte Tradition zurück und wird seit den 1980er Jahren in Deutschland praktiziert, seit 2014 ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Zum großen Teil handelt es sich dabei mittlerweile um sogenannte „Dublin-Fälle“: Den Menschen droht nicht die Abschiebung in das Heimatland, sondern in das EU-Land, über das sie in die EU eingereist sind. Die Zunahme dieser Fälle weist darauf hin, dass es einerseits nahezu unmöglich ist, direkt in Deutschland Asyl zu beantragen, und dass andererseits die Lebensbedingungen für Geflüchtete nicht in allen EU-Ländern vergleichbar sind – teils drohen unzumutbare Umstände.
Ziel ist die korrekte Anwendung des Rechts
Gemeinden und Orden stellen sich, wenn sie Kirchenasyl gewähren, nicht über das Recht. Das Ziel des Kirchenasyls ist vielmehr die Überprüfung des Asylverfahrens, um die korrekte Anwendung des Rechts sicherzustellen. Aus einer Motivation der Nächstenliebe, der Solidarität oder schlicht der Humanität wird Menschen Schutz angeboten, denen dieser Schutz von staatlicher Seite nicht gewährt wurde. Das geschieht nach gründlicher Prüfung in solchen Fällen, in denen unzumutbare Härten drohen. Das hervorzuheben ist wichtig, denn das Kirchenasyl bewegt sich auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats. Es ist deshalb nicht richtig und weckt völlig falsche Assoziationen, das gewährte Kirchenasyl, wie im Würzburger Fall geschehen, in irgendeiner Weise mit einem Gottesstaat in Zusammenhang zu bringen![2] Niemand, der Kirchenasyl gewährt, beruft sich damit auf ein „kirchliches Sonderrecht“[3]. Schließlich schützt die Religionsfreiheit nicht eine Religion – oder stellt sie gar über den Staat – sondern sie achten und schützt die (positive und negative) Religionsausübung der Person.
Die Anerkennung von Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung (und damit auch die Akzeptanz eines unerfreulichen Urteils) steht sozialethisch außer Frage – selbstverständlich, drängt es mich zu sagen! Es bleibt aber der Weg Rechtsmittel einzulegen. Es mag juristisch vertretbar sein, dass das aktuelle Würzburger Urteil das Rechtsstaatsprinzip über die Religions- und Gewissensfreiheit gestellt hat. Es ist jedoch nicht zwingend, wie etwa die Kitzinger Entscheidung zeigt, in der hervorgehoben wird, dass Grundrechte wie Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht nur Abwehrrechte sind, sondern auch aktives Tun ermöglichen müssen. Das Würzburger Urteil gibt aber vor allem ein falsches Signal: Eine weitere Kriminalisierung von Hilfe für geflüchtete Menschen in Notsituationen.
Empörung angesichts der schreienden Ungerechtigkeit
Gesetztes Recht ist durch die verfassungsgemäße Setzung gültig und ein Richterspruch ist zu akzeptieren. Das heißt aber nicht, dass damit dem Einzelfall immer gerecht wird. Deshalb kann sich aus Glaubens- und Gewissensgründen – und durch einen Sinn für Gerechtigkeit – auch Widerstand regen. Nach Paul Ricœur stellt dieser Sinn für Gerechtigkeit ein „vernünftiges Gefühl“ dar; er spricht vom „Ideal, das der Gerechtigkeitssinn im Auge hat“ und von der „Empörung angesichts der schreienden Ungerechtigkeit der Welt, wie sie ist.“[4]
Wir brauchen diesen Gerechtigkeitssinn! Er verteidigt das Recht – denn es gibt ein Recht auf Asyl, es gibt ein Recht auf ein ordentliches Verfahren – und wirft es auf sich selbst zurück, weil er mahnt zu prüfen, ob alles richtig gemacht wurde. Und er treibt es damit zugleich über sich hinaus, denn das Recht wird immer weiterentwickelt – und wird dadurch im Idealfall gerechter (und einer größeren Zahl an Menschen gerecht). Das ist nötig, weil das Asylrecht zunehmend ausgehöhlt wird – in Deutschland, in der EU und besonders deutlich an den EU-Außengrenzen. So haben etwa die Dublin-Abkommen von Anfang an Konstruktionsfehler: Vorteile und Lasten sind ungleich verteilt, denn verantwortlich zur Bearbeitung eines Asylantrags ist jener Staat, in dem die Einreise in die EU erfolgte.
Bett, Brot, Seife
Es ist offensichtlich, dass diese Regelung den Ländern im Süden Europas die Verantwortung für Asylverfahren zuschiebt, während die Länder, die nicht an EU-Außengrenzen liegen (oder an solchen mit wenigen irregulären Grenzübertritten) kaum Asylanträge zu erwarten haben. Zudem werden vergleichbare Bedingungen im Asylverfahren in den unterschiedlichen Ländern vorausgesetzt, die aber oft nicht gegeben sind, wie etwa ein Gerichtsurteil gezeigt hat, das die Abschiebung nach Griechenland verboten hat, weil die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht gewährleistet sei.[5] Und Abschiebungen in Länder wie Afghanistan sind angesichts der Sicherheitslage (und der pandemischen Situation) inakzeptabel, weil der Schutz der Menschen nicht gewährleistet ist. Vielfach wird gegen das Non-Refoulement-Prinzip der Genfer Konvention (Art. 33) verstoßen, das die Ausweisung in ein Land verbietet, wenn Leben oder Freiheit aufgrund von „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung bedroht sind.
Dagegen ließe sich einwenden, das Dublin-Abkommen sei gültig, weil es nach gültigen Verfahren zustande gekommen ist. Das ist richtig – und doch ist unsere Rechtsauffassung nicht rein legalistisch, sie ist aus guten Gründen nicht völlig losgelöst von Vorstellungen der Gerechtigkeit. Außerdem sind Gesetze wandelbar, sie werden verändert und weiterentwickelt. In der Weiterentwicklung des Rechts aber kann die Perspektive der Solidarität die unvollständige Gerechtigkeit verbessern. Ohne die Gültigkeit des Rechts aufzuheben, kann – und muss! – auf eine Verbesserung des Rechts gepocht werden. Die dazu üblichen Verfahren sind damit nicht außer Kraft gesetzt, sie werden genutzt, um das kommende Recht zu gestalten: kritisch und die Menschenrechte zum Maßstab nehmend. Dieser Gestaltungsprozess geschieht überwiegend im Diskurs, in der Mitwirkung in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, aber auch durch soziale Bewegungen und Praktiken – und auch durch Aktionen wie das Kirchenasyl.
Der Gerechtigkeitssinn drängt zum Handeln
Der Gerechtigkeitssinn regt sich also und drängt zum Handeln. Kirchenasyl versucht, eine notwendige Abhilfe zu schaffen für Menschen, die durch eine Abschiebung akut gefährdet wären. Es kann aber nicht genügen. Notwendig ist ein Asylrecht, dass das menschenwürdige Leben von Geflüchteten schützt – an den EU-Außengrenzen und in den jeweiligen Ländern. Notwendig ist eine grundlegende Überarbeitung der Dublin-Abkommen, die Lasten fairer verteilt und den Asylanspruch nicht aushöhlt. Auf ein solches Recht, das Kirchenasyl überflüssig macht, ist hinzuwirken. Bis dahin aber müssen Räume der Menschlichkeit offen gehalten werden – und sie dürfen nicht weiter kriminalisiert werden. Menschen suchen Schutz, sie haben nichts „verbrochen“.
Christ*innen sind dabei besonders gefordert, wie das gemeinsame Wort der Kirchen schon 1997 hervorhebt: „Es ist von ihrem Selbstverständnis her Aufgabe der Kirchen, immer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen verletzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen ergibt. Die Praxis des sogenannten ´Kirchenasyls´ ist nicht zuletzt auch eine Anfrage an die Politik, ob die im Asyl- und Ausländerrecht getroffenen Regelungen in jedem Falle die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen und vor Verfolgung, Folter oder gar Tod bewahren. Kirchengemeinden, die sich für die Verwirklichung dieser Menschen- und Grundrechte einsetzen (…), verdienen für ihr Eintreten für ethische Prinzipien, die zu den Grundlagen unseres Glaubens gehören, grundsätzlich Unterstützung und Anerkennung.“ [6]
Solidarität mit den Menschen in Not und mit denen, die ihnen beistehen, hin zu mehr Gerechtigkeit, das sei an dieser Stelle Bekenntnis und Forderung – und zugleich ein Beitrag zu einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte.[7]
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Dr. Michelle Becka ist Professorin für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg und Mitherausgeberin der Zeitschrift Concilium.
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[1] Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, o.J., Erstinformation Kirchenasyl, URL vom 15.06.2021: http://www.kirchenasyl.de/erstinformation.
[2] So die Worte des Richters am Amtsgericht Würzburg, vgl. Mittler, Dietrich, in: Süddeutsche Zeitung vom 04.06.2021: Macht Nächstenliebe Bayern gleich zum „Gottesstaat“? Auf das Urteil selbst kann nicht Bezug genommen werden, weil es noch nicht schriftlich vorliegt und noch nicht rechtskräftig ist.
Zu Kirchenasyl und Rechtstaatlichkeit vgl. auch DBK/EKD „… und der Fremdling, der in deinen Toren ist.“ Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, Bonn/Frankfurt/Hannover 1997, 255-275.
[3] Das legen die Worte des Richters nahe, vgl. Oberzeller Franziskanerinnen, Den Schuldvorwurf nicht akzeptieren, URL vom 15.06.2021: https://www.oberzell.de/aktuelles/nachrichten/den-schuldvorwurf-nicht-akzeptieren.
[4] Ricœur, Paul, Theonomie und/oder Autonomie, in: Krieg, Carmen et al. (Hg.), Die Theologie auf dem Weg in das dritte Jahrtausend, Gütersloh 1996, 324-346:335.
[5] So das Oberverwaltungsgericht in Münster, vgl. dpa, OVG blockt Abschiebung: Unmenschliche Behandlung, URL vom 26.01.2021: https://www.zeit.de/news/2021-01/26/ovg-blockt-abschiebung-unmenschliche-behandlung.
[6]DBK/EKD (1997), 257.
[7] Vgl. weiterführend: Becka, Michelle, Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit im Kontext der Migration, in: Thiel, Marie-Jo; Feix, Marc (Hg.) Philadelphia – Die Herausforderung der Geschwisterlichkeit, Münster, 95-112; Becka, Michelle/Ulrich, Johannes, Europa an der Grenze, in: Concilium 1/2021, 51-59.