Durch fundamentalistische Accounts geschehen vor großem Publikum Verletzungen und Diskriminierungen im Namen Gottes. Lisa Quarch lädt zwei Expert*innen zu einem Gespräch.
Triggerwarnung: In diesem Text geht es um religiösen und christlichen Fundamentalismus. Es werden Themen wie Reinheitskulter, Sexismus, Transfeindlichkeit und Homophobie erwähnt.
„Frauen dürfen sich nicht in kurzen Kleidern zeigen. Menschen, die sich als nicht binär definieren, tun dies aufgrund einer unfertigen Persönlichkeit, der eine Begegnung mit Gott fehlt. Menschen, die anders Glauben und die Bibel anders lesen, sind keine echten Christ*innen. Bald werden Christen (sic!) in Deutschland verfolgt, eigentlich werden sie heute schon verfolgt, weil fundamentalistische Christ*innen LGTBQ nicht unterstützen, nur wer die Bibel in allen Aspekten wortwörtlich nimmt liebt Jesus wirklich, alles was auch an Schlechtem in deinem Leben passiert, hat Gott geplant, um dich zu formen oder näher zu ihm zu bringen…“; das lässt sich unbegrenzt fortsetzen. Diesen Aussagen ist etwas gemeinsam. Sie zeichnen eine klare Trennung zwischen „wir“ und „die anderen“. Gleichzeitig gibt es keinen Spielraum für Varianten. Unterschiedliche Wege zum Heil sind nicht möglich.
Viele Formulierungen sind nicht nur reaktionär, sondern auch eine Form des geistlichen bzw. spirituellen Missbrauchs.
Diese Aussagen haben etwas weiteres gemeinsam: Ich habe sie auf christlichen Accounts auf Social Media, meist Instagram, gelesen und gehört. Es handelt sich nicht einfach um irgendwelche kleinen Accounts, deren Content kaum jemand erreicht, sondern um reichweitenstarke Accounts von 2.000-850.000 Follower*innen. Sie vereint die Selbstaussage, dass sie alle „echte“ und bibeltreue Christ*innen (sic!) sind. Von außen betrachtet, würde ich sie als Fundamentalist*innen mit einem reaktionären Weltbild bezeichnen.
Auf Social Media beschäftigen sich in den letzten Monaten immer mehr feministische und progressive christlichen Accounts mit diesem Phänomen. Denn vielen, auch mir, erscheinen sie gefährlich. Gefährlich, weil die Formulierungen, die ich eben am Anfang dieses Artikels genannt habe, nicht nur reaktionär, sondern auch eine Form des geistlichen bzw. spirituellen Missbrauchs sind.
Es geschehen Verletzungen und Diskriminierungen im Namen Gottes.
Wer so tut, also wäre nicht binär sein, nicht heterosexuell sein, queer sein ein „Problem“, das gelöst werden muss, da es nicht der Botschaft Christi entspricht, legitimiert Gewalt und Diskriminierung einer bestimmten Personengruppe gegenüber durch Gott. Das Gleiche passiert, wenn biblische Botschaften dazu genutzt werden, um zu erklären, dass FINTA Personen durch ihre Kleidung dafür verantwortlich seien, nicht als Sexobjekt wahrgenommen zu werden. Nicht die Täter*innen werden in der Verantwortung gesehen, sondern die Opfer.
Es geschehen Verletzungen und Diskriminierungen im Namen Gottes. Das ist spiritueller Missbrauch vor einer extrem großen Zuschauer*innenzahl. Das ist ein Problem. Der Umgang damit ist aber gar nicht so einfach. Ich habe zwar katholische Theologie studiert und würde von mir behaupten, dass ich weiß, wie historisch-kritische Exegese funktioniert und wie ich unsystematische Theologie erkenne. Ich bin aber keine Expertin in Sachen Fundamentalismus bzw. der großen fundamentalistischen Szene, ihrer Auswirkungen und Spielarten. Gewisse Qualifizierung verdanke ich Diskussionen, die ich am eigenen Leib erfahren habe.
Jason Liesendhal und Mira Ungewitter beschäftigten sich seit mehreren Jahren mit christlichem Fundamentalismus.
Da ich dem Thema aber gerne mehr Raum geben möchte, habe ich zwei Expert*innen für ein Gespräch eingeladen. Jason Liesendhal (Lehrer und Gründer des https://freestyleprojekt.de/) und Mira Ungewitter (Pastorin und Autorin) beschäftigten sich seit mehreren Jahren mit dem Thema und haben teilweise auch persönliche Erfahrung mit Fundamentalismus gesammelt.
Zu Beginn des Gespräches steht eine kurze Definition des Begriffes. Jason bringt zunächst die wichtige Anmerkung, dass Fundamentalismus niemals eine Selbstbeschreibung, sondern eine Fremdbezeichnung ist. Die Selbstbeschreibung wäre eher „bibeltreu“ oder auch „wiedergeborene*r Christ*in“ (sic!). Weiter definiert Jason christlichen Fundamentalismus als religiöse Strömungen, die eine historisch-kritische Exegese der Bibel ablehnen. Die Bibel gilt als zeitlos wahr, nicht als ein historisches Werk ist, das einem geschichtlichen Wandel unterliegt.
Fundamentalismus ist keine Konfession.
Mira ergänzt, dass es wichtig sei, sich darüber bewusst zu sein, dass Fundamentalismus keine Konfession ist. Häufig werde das Wort „freikirchlich“ als synonym für Fundamentalismus genutzt. Dies entspreche aber nicht der Wirklichkeit. Fundamentalismus findet sich in jeder Konfession. Genauso finden sich überall ebenfalls progressive und feministische Theologien, auch in den Freikirchen. Mira selbst ist da das beste Beispiel, da auch sie freikirchliche Pastorin ist.
In aktuellen fundamentalistischen Kreisen ist ein konfessionsübergreifendes Vernetzen deutlich zu beobachten. Obwohl es in fundamentalistischen, freikirchlichen Kreisen häufig eine Skepsis gegenüber den Landeskirchen und der katholischen Kirche gibt (da diese in der fundamentalistischen Ansicht häufig nur „Namenschrist*innen“ (sic!) sind, also sich nur Christ*in nennen, aber nicht wirklich danach leben), ist inzwischen eins der größten fundamentalistischen Events Deutschlands ein Festival, das von einer katholischen Person ausgerichtet wird. Es gibt eine Gemeinsamkeit in gemeinsamen Themen.
„Die Dr. Oetker Kleinfamilie der 50er Jahre als Visitenkarte der Rechtgläubigkeit“.
Mira erklärt mir, dass die gemeinsamen Themen heute nicht unbedingt die gleichen wie im Fundamentalismus des letzten Jahrhunderts sind. So finde sich in modernen, jungen fundamentalistischen Accounts selten ein Text über ein kreationistisches Weltbild, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass viele der Account-Betreiber*innen ein solches teilen.
Heutzutage sind es eher andere Themen, die eine Menge an Sendezeit erhalten und damit auch Reichweite generieren: hauptsächlich ist das ein Thema: Sexualmoral und all ihre unterschiedlichen Themenbereichen. Das reicht von „kein Sex vor der Ehe“ bis zu „du musst dich als Frau züchtig kleiden“. Besonders auffällig ist eine starke Fokussierung auf das Familienbild. Mira beschreibt das in den schönen Worten: „Die Dr. Oetker Kleinfamilie der 50er Jahre als Visitenkarte der Rechtgläubigkeit“
Die fundamentalistische Szene ist eine „War-Zone“.
Es gibt einige recht große, von jungen Frauen betriebene Accounts, die ich als extrem reaktionär und anti-feministisch wahrnehme. Gleichzeitig ist es aber so, dass diese selbst sich vermutlich nicht als sehr konservativ wahrnehmen, sondern selbst aus fundamentalistischen Kreisen dafür kritisiert werden, dass sie sich z. B. auf Instagram auch im SportBH zeigen oder davon überzeugt sind, als Frau predigen zu dürfen und sogar dazu berufen zu sein.
Jason beschreibt deswegen die ganze fundamentalistische Szene als „War-Zone“ und Mira fasst es mit den Worten zusammen: „Im Glauben und besonders im Fundamentalismus ist es ähnlich wie beim Autofahren – alle, die langsamer fahren, sind Idioten; alle, die schneller fahren, sind verrückt“. Die eigene Wahrnehmung wird als Normativ gesetzt. Alles was “liberaler” aber auch “konservativer” daherkommt, wirkt verdächtig. Von überall und in alle Richtungen kommt die “Christenpolizei”.
Viele der großen fundamentalistischen Influencer*innen leben von ihrer Arbeit auf Social Media.
Auf Instagram wird diese War-Zone und der ständige Vergleich mit anderen befeuert. Denn auf Instagram wird „Fundamentalismus zur Marke“ (Jason), da viele der großen fundamentalistischen Influencer*innen von ihrer Arbeit auf Social Media leben. Und das tun sie mit großem Erfolg. Das gesamte religiöse Programm wird zur Quelle des Einkommens. Das ist erstmal nichts schlechtes, denn Instagram ist einfach harte Arbeit. Es gibt den Akteur*innen allerdings nur ein kleines Feld zum Experimentieren in ihrem eigenen Leben und mit ihrer eigenen Spiritualität.
Mira zieht hier einen Vergleich zur calvinistischen Architektur in den Niederlanden. Mit Absicht wurde dort so gebaut, dass andere besonders gut in die Wohnzimmer reinschauen können – ein*e gute*r Christ*in hat natürlich nichts zu verbergen. Und wenn sie doch etwas zu verbergen haben, kann auch dies für die Figur, die auf Social Media dargestellt wird, genutzt werden. So gibt es in den USA beispielsweise einen Pfarrer, der pornosüchtig geworden ist und daraus dann ein Programm zum Ausstieg aus dieser Szene entwickelt hat, das nun ebenfalls Betroffene erwerben können.
Es ist schwer, mit der Szene ins Gespräch zu kommen. Aber kann ein unwidersprochenes Stehenlassen von missbräuchlichen Inhalten kann keine Lösung sein.
Das Phänomen Fundamentalismus beschreiben könnte noch lange so weiter gehen, aber es bleibt die Frage: wie damit umgehen? Es ist schwer, mit dieser Szene ins Gespräch zu kommen und so Kritik auch vor Ort anzubringen. Denn dies befüttert das sowieso schon häufig vorhandene Narrativ der Verfolgung und wird von fundamentalistischen Accounts oft in Selbstbestätigung umgewandelt. Ein prominenter Fall ist der Prozess um den landeskirchlichen Pfarrer Olaf Latzel. Jason wies mich in unserem Gespräch darauf hin, dass die gesamten Geschehnisse um Olaf Latzel für die Szene ein wichtiger Identifikationspunkt sind.
Auch wenn das Befüttern dieses Narrativs sicherlich nicht hilfreich ist, kann ein unwidersprochenes Stehenlassen von missbräuchlichen Inhalten dennoch keine Lösung sein. Es gestaltet sich aber besonders schwierig. Die Accounts lassen keine öffentlichen Kommentare zu. Eine Möglichkeit des Umgangs ist die Kreation von eigenem Content, mein Jason: z.B eigene Posts oder Videos zu einem bestimmten Thema auf dem eigenen Account sozusagen als Antwort zu veröffentlichen. Dies ist auch möglich ohne den Account, der den Post auslöste, selbst zu nennen.
Positionierungen zu diesen Themen machen einen Unterschied – und ist Ausdruck von Solidarität.
Als Antwort auf ein sehr anti-feministisches Posting eines fundamentalistischen Accounts haben wir (als Bündnis von 10 feministischen christlichen Accounts) gleichzeitig einen Post hochgeladen zum Thema „Warum braucht es feministische Theologie?“ Die Reaktionen und Nachrichten aus Fundamentalismuskreisen waren sich sehr einig: Ich komme in die Hölle und ziehe einen Großteil meiner Community auf direktem Wege mit dahin.
Positionierungen zu diesen Themen (Sexualität, Feminismus; etc.) machen einen Unterschied. Das bestätigen auch immer wieder Nachrichten, die ich auf Instagram bekomme. Sie kann einen Unterschied für Menschen machen, die selbst fundamentalistisch denken. Was mir noch wichtiger ist: Eine solche Positionierung ist ein Ausdruck von Solidarität mit FINTA Personen und queeren Menschen, die unter Diskriminierung leiden. Und diese Solidarität darf nicht enden.
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Lisa Quarch ist katholische Theologin und Pastoralassistentin im Bistum Limburg. Außerdem berichtet sie auf ihrem Instagram Kanal über die Chancen und Grenzen des Zusammenspiels aus Feminismus und Katholizismus.
Bild: Nicolas Lobos / unsplash.com
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Alle in diesem Artikel beschriebenen Phänomene lassen sich konkreten Accounts mit Namen fest machen In diesem Artikel wird allerdings bewusst auf die Nennung der Namen verzichtet, um einerseits den Accounts keine weitere Reichweite zu bieten und andererseits um die Inhalte nicht auf die Kritik einzelner Accounts zu fokussieren, sondern das gesamte Phänomen zu beschreiben.
Für eine systematische Darstellung der Geschichte des Fundamentalismus empfehle ich die Podcast-Folge „Fundamentalismus“ von „Das Wort und das Fleisch“ von Thorsten Dietz und Martin Christian Hünerhoff.