Das Beispiel vom Waldbrand, bei dem Feuerwehrleute starben, weil sie trotz Aufforderung ihre schweren Werkzeuge nicht losließen und den Rückzug nicht schnell genug antreten konnten, ist Legende. Barbara Staudigl adaptiert die Theorie des Loslassens für die Priesterfrage.
Karl Weick, emeritierter Professor für Organisationspsychologe an der Ross School of Business der Universität Michigan, hat Fälle wie diesen untersucht und eine Theorie des Loslassens entwickelt: Werkzeuge, „tools“, loszulassen wird dabei zur Metapher für Flexibilität, Adaption, Reformfähigkeit und Überlebenswillen.1
Ich finde es einen interessanten Gedanken, Weicks Theorie des Loslassens auch für die katholische Kirche und die Krise um das Priesteramt durchzudeklinieren. Gilt auch hier der Satz: „Drop your tools or you will die!“?
Theorie des Loslassens
Da sind auf der einen Seite nackte Zahlen, die deutlich machen, dass wir mit der Idee des männlichen und zölibatären Priestertums nicht mehr weit kommen. Im Jahr 2020 wurden 56 Priester für ganz Deutschland geweiht. Dazu kommt ein starker Rückgang an Theologinnen und Theologen, die der Dienst in der Kirche abschreckt, weil es für Laien kaum Leitungsaufgaben und Aufstiegschancen gibt, da diese den Amtsträgern vorbehalten sind.2
Zu den Zahlen kommen die atmosphärischen Störungen: Fassungslosigkeit angesichts des Öffentlich-Werdens von sexuellem und geistlichem Missbrauch durch einige Priester sowie Machtmissbrauch durch Amtsträger; Kopfschütteln und Unverständnis in weiten Teilen der säkularen Gesellschaft über die Bindung von Machtbefugnissen an einen Weiheakt und nicht an Kompetenzen; Unmut und Kritik in Kirchenkreisen angesichts einer Bindung des Priesteramtes an das männliche Geschlecht. (Vgl. Maria 2.0; vgl. Ordensfrauen für Menschenwürde)
Warum fällt es der Institution so schwer, das männliche Amt loszulassen?
Warum fällt es in der Institution Kirche so schwer, das „Instrument“ (tool) des männlichen und zölibatären Amtes loszulassen – selbst angesichts des drohenden Untergangs einer Kirche, die man mit dem Festhalten an der überkommenen Form des Amtes gerade retten will? Können Weicks Erklärungsansätze3 für das Festhalten an Instrumenten, obwohl gerade diese das eigene Überleben gefährden, auch für das Festhalten am katholischen Priesteramt plausibel sein?
- Werkzeuge als essentiell für die Identität: Für die Feuerwehrleute waren ihre Werkzeuge identitätsstiftend. Sie loszulassen, wäre dem Aufgeben ihrer professionellen Identität gleichgekommen. Die Analogie liegt auf der Hand: Eine Kirche, zu deren Identität das Priestertum einzelner geweihter Männer gehört, die durch die Salbung Christus gleichförmig gemacht werden und in der Person Christi auf Erden handeln können (vgl. Presbyterium Ordinis, Kap. I, 11), wird hier den Verlust ihrer Identität befürchten müssen.
- Kontrollverlust ohne Werkzeuge: Den Feuerwehrleuten galten ihre Geräte als Garantie für das Überleben. Sie fühlten sich unsicherer ohne sie, auch wenn die Geräte objektiv ihr Leben bedrohten. Ähnliches gilt wohl für die katholische Kirche und ihr Amtsverständnis. Ein anderes, funktionales Verständnis des ordinierten Amtes parallel zum allgemeinen Priestertum aller getauften Gläubigen wie z.B. in der evangelischen Kirche wäre zweifellos ein Kontrollverlust für die katholische Hierarchie.4
- Keine weitreichenden Konsequenzen: Man wirft nicht etwas weg, wenn man glaubt, dass sich dadurch ohnehin nicht viel ändern wird. Lässt sich dies übertragen? Die schwere Krise der katholischen Kirche wird von bestimmten Amtsträgern nicht primär auf das exklusive Verständnis des Amtes sowie die strukturelle Ermöglichung des Missbrauchs durch das Amt zurückgeführt, sondern auf eine zu starke „Verweltlichung“ der Kirche insgesamt – nicht nur der Amtsträger, sondern auch der Laien. Aus dieser Perspektive brächte das Aufgeben des Amts nicht den erwünschten Erfolg.
- Soziale Dynamik, die Karl Weick auch als „pluralistische Ignoranz“ bezeichnet: Wenn der Vordermann sein Werkzeug behält, dann fühlt sich auch der Hintermann mit diesem Werkzeug sicherer. Auf diese Weise entsteht der Effekt, dass alle sich sicherer fühlen, obwohl sie es nicht sind. Dieses Phänomen erleben wir innerkirchlich mit dem Verweis auf die Weltkirche: Wenn in Afrika, Südamerika oder Indien das Amtspriestertum „funktioniert“ (ungeachtet aller dort vorhandenen dysfunktionalen Aspekte), dann könne man es auch in Europa und in Deutschland nicht einfach aufgeben.
- Aufgeben als Fehlverhalten: Das Werkzeug wegzuwerfen, könnte als Fehlverhalten (Versagen) betrachtet werden. Man hat gelernt, dass man als Feuerwehrmann auf sein Werkzeug achten muss. Es in einer angespannten Situation wegzuwerfen, käme einem Fehlverhalten gleich. Die Kirche hält seit hunderten von Jahren am männlichen, zölibatären Priesteramt fest: Es nun in der Krise aufzugeben, erscheint nicht nur hierarchischen Vertretern als Fehlverhalten oder Versagen.
- Keine Fertigkeit im Loslassen: Die Feuerwehrleute konnten nicht damit umgehen, ihr Werkzeug fallen lassen zu müssen, hatten das Loslassen nie gelernt, sondern waren darauf gedrillt worden, auf ihre Werkzeuge sorgfältig zu achten. Flexibilität und Loslassen sind als Erfolgsfaktoren der katholischen Kirche bisher nicht erfahrbar gewesen. Die Kirche hat ihre Machtstellung im Verlauf der Jahrhunderte nicht durch Loslassen, sondern durch Beharrlichkeit und Festhalten an der Tradition bewahren können. Die Fertigkeit des Loslassens gilt innerkirchlich nicht als Tugend und wurde daher auch nicht eingeübt – auch wenn das 21. Jahrhundert sie verlangt.
- Keine Kenntnis von Ausweich-Handlungen: Man trainiert bei der Feuerwehr keine Alternativen und Ausweich-Handlungen. Dies greift bei der Übertragung von Weicks Erklärungen m.E. nicht. Die evangelischen, anglikanischen und altkatholischen Kirchen bieten ein theologisch reflektiertes und an gesellschaftliche Verhältnisse der Neuzeit angepasstes Amtsverständnis, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen kann, wenn man will. Daher besteht kein Mangel an alternativen Ideen, sondern die fehlende Bereitschaft, sich auf Veränderung, Diskurs und Adaption einzulassen.
- Keine einsichtigen Gründe für Veränderungen: Gewohntes Verhalten wird beibehalten, wenn die Gründe für Veränderung nicht einsichtig sind. Auch hier greift eine Parallele zum Fall der Feuerwehrleute nicht: Die eingangs dargestellten Gründe (rückläufige Zahlen an Priestern, Missbrauch durch Priester, Machtmissbrauch durch Amtsträger, gesellschaftliche und innerkirchliche Kritik, die die Verantwortlichen zu Änderungen beim Amtsverständnis herausfordert) sind mehr als evident und das Leugnen und Negieren existenzgefährdend.
- Flucht in eine göttliche Dimension: Für die Übertragung der Weick´schen Theorie auf das katholische Amtsverständnis kommt meines Erachtens noch ein weiterer Aspekt hinzu: Innerhalb der Amtskirche gibt es die Neigung, die sinkende Zahl von Amtsträgern und die schwere Krise um das Amt als gottgewollte Prüfung der Kirche anzusehen, die man aushalten, der man standhalten muss. Man verweist auf die göttliche Offenbarung in Form von Tradition und Lehramt und stiehlt sich auf diese Weise aus der Verantwortung und Notwendigkeit eigener Entscheidungen und entschlossenen Handelns.
Lernchance nützen!
Karl Weick hat Situationen analysiert, in denen Menschen starben, weil sie selbstgefährdende „tools“ nicht aufgeben konnten. Natürlich kann man in Frage stellen, dass dies auch für Institutionen gilt. Man kann sich auch dagegen verwehren, dass Erkenntnisse aus der Organisationspsychologie auf ekklesiologische Fragestellungen anwendbar sind. Aber man darf und kann sie auch als Reflexionsanlass und Lernchance nützen.
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Text und Bild: Barbara Staudigl, Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München.
- Vgl. Weick, Karl (1996): Drop your tools: An Allegory für Organizational Studies, in: Administrative Science Quarterly, Vol 41. ↩
- Vgl. Jacquemain, Michael (2020): Nicht nur Priestermangel, sondern Theologenmangel. ↩
- Vgl. Roehl, Heiko/ Trebesch, Karsten (2001): Verlernen. Drop your tool – or you will die!, in: OrganisationsEntwicklung 4_01. ↩
- Vgl. Jansen, Thomas (2017): Was Katholiken und Protestanten trennt, vgl. https://www.katholisch.de/artikel/15274-was-katholiken-und-protestanten-trennt. ↩