Der Begriff des Widerstands gegen Ideologien und Unrechtsregime beschreibt nicht nur herausragende Taten. Widerstand ist eine Tugend und ein Phänomen zu dem auch unscheinbare, wenig bekannte Akteur*innen gehören, wie Gabriele Prein an einem Frankfurter Beispiel zeigt.
Er war ein ernsthafter junger Mann. Auf den wenigen Fotos, die uns von Bernhard Becker überliefert sind, sieht er energiegeladen und in sich gekehrt zugleich aus. Für sein jugendliches Alter auf jeden Fall sehr erwachsen. Tatsächlich trug er schon früh Verantwortung: für sich, für seinen Bruder, für die Jungen aus der Frankfurter St. Bernhard-Gemeinde, die ihm anvertraut wurden.
Eine Frankfurter Kindheit
Bernhard Becker und sein Zwillingsbruder Ludwig hatten es nie leicht. 1914 in Frankfurt am Main geboren, erlebten sie eine Kindheit ohne Eltern: Die Mutter lebte in Argentinien, den Vater haben sie nie kennengelernt. Sie wuchsen bei den Großeltern im Frankfurter Nordend auf. Wenig Nestwärme, eher das Nötigste: Volksschule, der Abschluss, eine Lehre als Dekorationsmaler, Gesellenprüfung. Bernhard suchte Nähe und Familie bei der katholischen Jugend. Hier fand er, was er suchte: Freund*innen und Kamerad*innen, anregende Gespräche, geistige Orientierung und offene politische Diskussion.
Er sammelte Argumente gegen die Politik des Nationalsozialismus, dessen Vormarsch er mit größter Skepsis verfolgte. Die Machtübernahme 1933 sah der 19jährige mit schlimmen Vorahnungen.
In der Jugendarbeit zeigte sich rasch, dass Bernhard Becker Führungskraft besaß und junge Leute zu überzeugen wusste. Schon 1934 übernahm er zunehmend Leitungsaufgaben, ein Jahr später wurde er zum Pfarrjungscharführer gewählt. Er wollte weitergeben, was ihm wichtig war: die Eigenständigkeit der katholischen Jugendarbeit und die Sicherheit im Glauben.
Kirchliche Jugendarbeit wird zur Opposition
Unterdessen wuchs der politische Druck von außen. Die Hitlerjugend weitete ihren Einfluss unaufhaltsam aus. Sie sah sich für die „gesamte körperliche, geistige und sittliche Erziehung der Jugend in Deutschland außerhalb von Schule und Elternhaus“[1] zuständig. Wer sich dem Anspruch widersetzen wollte, brauchte Mut – und Vorbilder. Bernhard Becker versuchte, solch eine Persönlichkeit zu sein. Sein Motto: „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir Dir – Christus – treu.“ Diese Worte schrieb er mit den Jungen aus der Gemeinde an die Wände ihres Freizeitheims in Schlossborn im Taunus. „Treue“ spielte eine bedeutende Rolle für ihn: sich selbst gegenüber und den in der Bibel überlieferten Werten.
Die ambivalente Rolle der Pfarreien
1936 wurde die katholische Jugendarbeit im Deutsche Reich gänzlich verboten. Zahlreiche Verantwortliche waren verhaftet worden. Bernhard Becker hatte auf Worte und Gesten des Widerstands in seiner Pfarrei gehofft – vergeblich. Er vermisste eine klare Haltung und wegweisende Linien und legte aus Enttäuschung am 14. September 1936 alle Ämter in der Gemeinde St. Bernhard nieder. Was nicht hieß, dass er die Jugendarbeit aufgab – er führte sie bei sich zu Hause fort. Sein Leben hatte sich geändert: Er war nun Schüler an der Kunst-Schule des Städel-Museums geworden. Sein Studienfach war die Stoffmalerei. In der Schwarzburgstraße 51, wieder im Frankfurter Nordend, hatte er ein kleines Atelier unter dem Dachboden, einen Ort für sich und Gleichgesinnte. Hier wurde geplant und diskutiert, was man der Gleichmacherei der Nazis entgegensetzen könne. Becker, gerade erst 22 Jahre alt, konnte – auch ohne die kirchlichen Ämter – Jugendliche begeistern und ihnen geistiges und geistliches Vorbild sein.
Verhaftung und Misshandlungen
Die Zusammenkünfte blieben nicht lange unentdeckt. Sei es durch Denunziation von Nachbarn oder Übermut von Jugendlichen – die Gestapo kam der „Gruppe Becker“ auf die Spur. Der Vorwand zur Verhaftung war aus der Luft gegriffen und ohne die geringsten Beweise: Becker sei ein „kommunistischer Agent“. Am 27. November 1937 wurden acht Mitglieder der Gruppe und er selbst festgenommen. Die Verhaftung führten die Gestapo-Männer Rudolf Thorn und Oswald Müller durch; beide waren bei der Geheimen Staatspolizei Frankfurt für katholische Kirchenangelegenheiten zuständig.
Fast alle jungen Männer kamen nach kurzer Zeit wieder frei, nicht so Bernhard Becker. Er wurde festgehalten und schwer misshandelt. Er wurde im Polizeigefängnis Klapperfeld geschlagen und gefoltert. Täter waren erneut die Gestapo-Leute Thorn und Müller; ein weiterer namens Reinke war zusätzlich beteiligt. Mithäftlinge berichteten: „Der Bernhard hat zuletzt kaum noch etwas sehen und hören können, so war er zugerichtet“.[2] Am 14. Dezember 1937 wurde Bernhard Becker in seiner Zelle erhängt aufgefunden.
Bitte um ein christliches Begräbnis
Der Öffentlichkeit wollte die Gestapo weismachen, Becker habe sich umgebracht. Doch nicht einmal der an dem Martyrium beteiligte Kriminalassistent Heinrich Baab (später unter anderem verantwortlich für die Massendeportationen jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Frankfurt) zweifelte daran, dass Becker an den Misshandlungen zu Tode gekommen war. Der Zwillingsbruder Ludwig überlieferte ein Vermächtnis seines Bruders. Auf die leeren Seiten eines Buchs aus der Gefängnisbibliothek hatte Bernhard ein paar Zeilen geschrieben. Darin verzieh er seinen Peinigern, bezeichnete sie aber als „Schande für das Evangelium“. Gleichzeitig bat er um ein christliches Begräbnis. Mit seinem Tod, so hatte er gehofft, könne er allen Gruppenmitgliedern die Rückkehr in die Freiheit ermöglichen.
Ein Begräbnis als Statement
Der Pfarrer von St. Bernhard, Alois Eckert, hielt das Requiem für Bernhard Becker. Eckert selbst war von Februar bis Mai 1937 inhaftiert gewesen, weil er sich geweigert hatte, am „Tag der Bewegung“ am 9. November 1935 seine Kirche zu beflaggen. Er hat den rebellischen Bernhard Becker immer gefördert und begleitete ihn nun auf dem letzten Weg. Am 21. Dezember 1937 wurde Becker kirchlich bestattet. An der Trauerfeier nahmen rund 1.000 Menschen teil – ein Ausdruck von persönlicher Anteilnahme und widerständigem Geist in der katholischen Gemeinde.
Den großen Trauerzug hielt der Zwillingsbruder Ludwig Becker in einem Gemälde fest. Es ist das einzige bekannte bildliche Zeugnis des Ereignisses. Ludwig Becker wurde später ein vielseitiger Künstler, der hauptsächlich sakrale Themen behandelte. Seine Werke, seien es Wandbilder oder Glasfenster, schmücken zahlreiche Kirchen, vor allem im Frankfurter Raum. Ludwig Beckers Leben blieb immer vom Schicksal seines Bruders Bernhard überschattet. „Mein Bruder zieht mich zu sich,“ sagte er oft. Am 28. Dezember 1971 nahm sich Ludwig Becker das Leben.
Jugendlicher Widerstand
Nur wenige Jugendliche konnten sich – wie die Brüder Becker – dem Sog der nationalsozialistischen Ideologie entziehen. Für sie war der katholische Glaube der Halt; für andere war es der politische Hintergrund oder eine familiäre Bindung. Für die überwiegende Mehrheit der jungen Deutschen wurden die Hitlerjugend und der Bund Deutscher Mädel die geistige Heimat. Abweichen vom Mainstream wurde im Keim erstickt, Widerstand undenkbar. An die wenigen, die sich widersetzten, können wir uns dankbar erinnern.
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Autorin: Gabriele Prein, Jahrgang 1948, Journalistin, lebt in Frankfurt. Berufliche Stationen: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, IG Metall. Seit 14 Jahren tätig im Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945.
Foto: Ehem. Polizeigefängnis „Klapperfeld“, seit 2008 Autonomes Zentrum, Frankfurt; Wolfgang Beck
[1] Arno Klönne: Jugendliche Opposition im „Dritten Reich“, Erfurt3 2016.
[2] https://frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtgeschichte/stolpersteine/stolpersteine-im-nordend/familien/becker-bernhard(22.08.2021)