In der Bearbeitung der Corona-Pandemie werden die großen Gerechtigkeitsfragen sichtbar. In der Einschätzung von Verena Grüter markieren sie zentrale Aufgaben einer neuen deutschen Regierung im Bemühen um Solidarität.
Solidarisch können wir – das haben die vergangenen Jahre gezeigt! Gott sei Dank. Während des Lockdowns kauften junge Menschen für Ältere und Kranke ein. Der Aufruf an ehrenamtliche Helfer*innen in unserer Kirchengemeinde brachte mehr Angebote als Nachfragen ein. Als in Rheinland-Pfalz die Wasserpegel stiegen, retteten hilfreiche Hände Menschen aus den Fluten und bargen Tiere, Autos und Hausrat. Geld fließt auf Spendenkonten. Auch in der sogenannten Flüchtlingskrise, als vor sechs Jahren eine Million Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten über den Balkan wanderte und in Deutschland Zuflucht suchte, öffneten sich Herzen und Hände. Das alles finde ich ermutigend! Noch bilden wir keine so atomisierte und egozentrische Gesellschaft, dass alle die Augen vor der Not der anderen verschließen.
Nur Gewinner*innen und Verlierer*innen?
Ich frage mich aber, wohin wir uns entwickeln, wenn die Politik jetzt nicht für gesellschaftlichen Ausgleich sorgt. Die pandemischen Zeiten, die wir durchleben, spalten unsere Gesellschaft in Gewinner*innen und Verlierer*innen: Der Einzelhandel leidet, viele kleine Geschäfte und Restaurants auf dem Land sind in ihrer Existenz bedroht oder mussten bereits Insolvenz anmelden. Auch Innenstädte veröden. Was wird aus den kleinen Unternehmer*innen?!
Unter den Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens während der Corona-Pandemie haben besonders die Kinder und Jugendlichen gelitten. Viele haben Lerndefizite, soziale und psychische Schäden davongetragen, gar nicht zu reden von der Häufung intrafamiliärer Gewalt durch den monatelangen Lockdown. Welche hilfreichen Hände strecken sich ihnen entgegen? Wer unterstützt die Familien, die sich um die Entwicklung ihrer Kinder sorgen?!
Grundlagen künftiger Solidarität
Das scheint mir eine der entscheidenden Herausforderungen an eine künftige Regierung zu sein: Dass sie die Verlierer*innen der Corona-Pandemie – und das sind in aller erster Linie Familien aus bildungsfernen Milieus und ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen quer durch alle sozialen Milieus – auffängt und unterstützt. Denn sie sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Sie werden nicht nur das Bruttoinlandsprodukt hervorbringen. Sie werden darüber entscheiden, ob sich auch zukünftig Notleidenden helfende Hände entgegenstrecken und Geld auf Spendenkonten fließt.
Solidarität ist eine unverzichtbare Grundlage einer demokratischen Gesellschaft. Solidarisch kann handeln, wer fähig ist zu Mitgefühl und jeden Menschen als seines- und ihresgleichen ansieht. Eine solche Haltung zu entwickeln ist schwierig, wenn mensch sich selbst als vernachlässigt oder ausgegrenzt erlebt. Solche Erfahrungen ermutigen eher dazu, die Mitmenschen als Konkurrent*innen anzusehen und sich hauptsächlich um das eigene Wohl zu kümmern.
Gefährdungen der Demokratie
Auf diesem Boden können auch demokratiefeindliche Gedanken aufsetzen. Dass die momentan Konjunktur haben, bereitet mir Sorge. Verschwörungstheorien spielen mit der Verunsicherung der Menschen und befördern den Vertrauensverlust, sowohl in politisch und wirtschaftlich Verantwortliche als auch in unterprivilegierte Mitmenschen. Woher sollen aber Mitgefühl und Solidarität kommen, wenn prinzipiell alle Nächsten Feinde sein können?! Und wie soll offene, demokratische Meinungsbildung funktionieren, wenn Gruppen von Menschen sich in abgeschlossene Blasen zurückziehen und differenzierter Diskussion nicht mehr zugänglich sind?!
Es ist die mögliche Spaltung unserer Gesellschaft in Gewinner*innen und bleibende Verlierer*innen, die mir Sorge macht. Um unsere offene, demokratische Kultur auf Dauer zu gewährleisten, muss Politik die Verlierer*innen der Pandemie in den Blick nehmen und mittelfristig stärken. Denn ohne Solidarität kann auf Dauer keine offene demokratische Gesellschaft existieren.
Die globale Ausrichtung der Solidarität
Längst betreibt eine international organisierte politische Rechte gezielt die ideologische Spaltung von Gesellschaften, in Europa, aber auch in den USA, in Lateinamerika und Asien. Wie verheerend sich dies auf die (Nicht-) Bewältigung der Corona-Pandemie ausgewirkt hat, wurde besonders an deren Verlauf in den USA, in Brasilien und Indien offensichtlich. Politische Arbeit für eine offene, demokratische Gesellschaft hierzulande muss sich daher auch in den internationalen Beziehungen bewähren. Solidarität wird den Zugang zu den Patenten für Impfstoffe und deren Verteilung in anderen Teilen der Welt mit zu bedenken haben. Denn die Erfahrungen mit der Pandemie legen weltweit offen, welche Bevölkerungsgruppen am meisten unter sozialer Ungerechtigkeit leiden. Diese offenen Wunden brauchen eine Politik, die sich auch in internationalen Beziehungen von den Prinzipien Solidarität und Gerechtigkeit leiten lässt.
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Autorin: Verena Grüter, Dr. theol. habil., Direktorin der Evangelischen Akademie Loccum.
Foto: Kristina Tripkovic / unsplash.com