Eine Formulierung des Regensburger Bischofs Rudolf Voderholzer beim Synodalen Weg sorgt für Erregung. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller erkennt darin einen Ton, der die Opfer sexualisierter Gewalt in der Kirche erneut demütigt.
Als interessierter Beobachter des Synodalen Wegs habe ich am Freitag der vorigen Woche die Debatte der Synodalversammlung zum Grundlagentext und zu den Handlungsempfehlungen des Forums I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ verfolgt. Nach einer Intervention von Betroffenen-Vertretern meldete sich Bischof Rudolf Voderholzer zu Wort, lobte die Aufklärungsarbeit in seinem Bistum Regensburg und ließ die Anwesenden wissen, er sei sehr wohl sensibel. Er wisse um die Tränen der Opfer. Danach folgte zum Abschluss, eher halblaut, aber durch die Lautsprecher deutlich vernehmbar, der Satz: „Was ich ablehne, ist eine Emotionalisierung und das unfehlbare Lehramt der Betroffenen.“
Was müssen die Betroffenen dabei denken?
Mir stockte der Atem, und ich wollte zuerst gar nicht glauben, dass dieser Bischof wirklich dieses Wort von sich gegeben haben sollte. Gesundes Empfinden sagt, geht nicht. Wie furchtbar! Was müssen die Betroffenen denken, wenn sie so geschurigelt werden? Als nächstes schoss mir die Frage durch den Kopf: Wann stehen in Frankfurt die dort anwesenden Frauen und Männer auf und protestieren gegen Voderholzers infame Aussage? Oder: Wer stellt jetzt einen Antrag an das Präsidium, den Bischof zu rügen und zur Ordnung zu rufen? Erst einmal geschah nichts dergleichen.
Auf der Redeliste kam dann nach einer Weile der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck an die Reihe und stellte klar: „Wir sind als Kirche nur Licht der Welt, wenn wir mit den Tränen und schwierigen Lebenssituationen so vieler Betroffener wirklich ernst umgehen. Wir können deswegen auch von einem Lehramt der Betroffenen sprechen. So werden sie in die Nähe Jesu gerückt. Und es ist mir wichtig, dass wir an dieser Stelle wissen: Das ist das einzig wirkliche unfehlbare Lehramt. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Dankbar, aber doch auch seltsam schütter wirkte auf mich der Applaus der Synodalen.
War das wirklich nur eine „sprachliche Zuspitzung“?
In der Abschlusspressekonferenz einen Tag später versuchte Bischof Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und Co-Präsident des Synodalen Wegs, die verbale Entgleisung seines Mitbruders aus Regensburg mit einer geläufigen Formel als „sprachliche Zuspitzung“ zu diminuieren. Dabei hatte er Voderholzer doch noch am Beginn der Vollversammlung ungewöhnlich klar und auf offener Bühne getadelt. Vom Synodalen Weg und seinen Anliegen als „Instrumentalisierung des Missbrauchs“ zu sprechen, sei „eine sehr unerlaubte und sehr anmaßende Stellungnahme“, und sie werde insbesondere den Betroffenen nicht gerecht, so Bätzing.
Anders als Bätzing, kritisierten langjährige journalistische Beobachter:innen der katholischen Kirche die Aussage Voderholzers als „zynisch-katholisch“ (Christiane Florin, DLF) oder als „bestürzend bösartiges Foul“ (Joachim Frank, Kölner Stadt-Anzeiger) und trafen damit schon eher mein Urteil.
Im weiteren Nachdenken über Voderholzers Satz wird man dessen ersten Teil mit der Emotionalisierung wohl ertragen müssen, auch wenn er insinuiert, die Opfer sexualisierter Gewalt verfolgten mit zur Schau gestellten oder ins Wort gebrachten Emotionen eine eigene kirchenpolitische Agenda. Schon diese Unterstellung ist ein verwerflicher Umgang mit den Opfern – ein veritabler neuer Missbrauch.
Ein Diener der Einheit, der spaltet.
Der zweite Teil von Voderholzers Satz jedoch mit der Zurückweisung eines „unfehlbaren Lehramts der Betroffenen“ ist das Böseste und Perfideste, was ich in den langen Jahren meiner theologischen und kirchlichen Existenz je aus dem Mund eines Bischofs gehört habe. Er, der doch zum Dienst der Einheit und des Friedens berufen ist, tut in spalterischer und zerstörerischer Absicht so, als maßten sich die Betroffenen mit der Schilderung der an ihnen begangenen Verbrechen und ihrer körperlichen und seelischen Folgen eine Amtsautorität in der Kirche an – und dies auch noch mit einem „dogmatischen“ Habitus, der Widerspruch oder Kritik ausschließt. Nichts anderes meint ja die sprachliche Übertragung einer theologischen Kategorie (Unfehlbarkeit) aus der Dogmatik und dem Kirchenrecht (Lehramt) in eine gänzlich andere Diskurs-Sphäre.
Nichts von Voderholzers Satz ist wahr, nichts davon sensibel, nichts davon honorig. Es geht beim Hören auf die Betroffenen nicht um eine etwaige Lehre, sondern um ein existenzielles Zeugnis und um eine (An-)Klage, die die Kirche zur Umkehr ruft. In der Verkündigung Jesu und einer in ihr gründenden Theologie sind es die Schwächsten, die Kinder, die Armen, die Verfolgten, die Bedrängten, die Flüchtlinge, die Unterdrückten und Gefangenen, die den Jüngern Jesu in der Kirche den Weg weisen. Sie zeigen uns den gekreuzigten und auferstandenen Christus, zu dem hin wir als Volk Gottes pilgernd unterwegs sind. Als Kinder Gottes und Jünger Jesu sind wir zu Solidarität und Compassion mit den Opfern aufgerufen. An ihrer Seite ist unser Platz, nicht über ihnen auf Lehrstühlen und Bischofssitzen.
Missbrauchsopfer werden als Konkurrenten um lehramtliche Macht betrachtet.
Ein weiteres Motiv des Einspruchs verdanke ich einer Beobachtung von Ruben Schneider, der als Philosoph oft mehr von Theologie versteht, als er es vermutlich für sich beanspruchen würde. Auf meine erste Reaktion des Entsetzens und der Fassungslosigkeit schrieb Schneider mir kurze Zeit später: „Bischof Rudi (Voderholzer; T.S.) sieht Missbrauchsopfer also als Konkurrenten bei der Frage nach unfehlbarer lehramtlicher Macht, als Machtkonkurrenten. Das offenbart echt das gesamte Mindset (Denkweise; T.S.). Und genau dieses Mindset ist der Kern des ganzen Horrors: Konkurrenten muss man ausschalten. Ihr Zeugnis unsichtbar machen. Vertuschen.“
Schneider bringt es hellsichtig auf den Punkt: Voderholzers Angriff will nicht nur die logisch und moralisch selbstverständliche Diskurshoheit der Opfer brechen, wenn sie die an ihnen begangenen Verbrechen zur Sprache bringen. Vielmehr sieht er sie als Konkurrenten um seine Macht, die es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt – auch um den Preis der Auslöschung im Diskurs und im Wissen um neue Wunden, die seine Attacken schlagen.
Betroffene werden erneut sprachlos gemacht.
Voderholzer will die Betroffenen wiederum sprachlos machen – wie zu der Zeit, als sie den Tätern und deren Gewalt zum Opfer fielen. Das öffentliche Zeugnis wider die Täter und wider die Täterorganisation, zu dem die Betroffenen sich – oft erst nach Jahrzehnten und unter unendlichen Mühen – durchgerungen haben, soll verhallen, verstummen und ins Leere laufen, damit am Ende alles in der Ständekirche mit ihren Machtstrukturen bleiben kann, wie es (scheinbar) immer war, den Machtmissbrauch eingeschlossen.
Wie kann man nach so einer unentschuldbaren Entgleisung noch Bischof bleiben, den Anspruch erheben, authentischer Verkünder des Evangeliums Jesu Christi zu sein? Das eigentlich Unmögliche ist augenscheinlich möglich. In Frankfurt blieb Voderholzer auf dem Platz. Der Synodale Weg schreitet unverdrossen voran. Und das Bistum Regensburg behält seinen Bischof. Ich füge hinzu: leider.
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Dr. Thomas Schüller ist Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der Universität Münster. Bild: Thorben Wengert – pixelio.de