Auch eine Stimme aus dem Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz äußert sich zu Bischof Voderholzers Formulierung vom „Lehramt der Betroffenen“, welche von Thomas Schüller auf feinschwarz.net kommentiert wurde.
Wir haben den Satz auch gehört, den vom „unfehlbaren Lehramt der Betroffenen“ und von der angeblichen Emotionalisierung der Debatten durch unsere Stellungnahmen. Und wir haben uns die Frage gestellt, ob wir dem Autor dieser Sätze wirklich den Gefallen tun sollen, darauf zu reagieren. In der Situation der 2. Vollversammlung des Synodalen Weges haben wir uns für das Schweigen entschieden. Aber nein, dieser Satz hat uns nicht sprachlos gemacht oder tief verletzt, schon gar nicht hat er uns verwundert. Denn: Nach allem, was uns konkrete Menschen, kirchliche Strukturen und das Leben aufgetischt haben, ist die Haut gegerbt.
Wer uns in den Synodal-Foren erlebt, weiß, dass wir differenziert einzubringen versuchen, was uns notwendig erscheint, und dass wir nicht in erster Linie uns selbst vertreten. Als Beirat bei der DBK sprechen wir für Viele: Menschen, denen schweres Leid widerfahren ist und die hierüber oft nicht oder kaum sprachfähig sind. Ihnen wissen wir uns verpflichtet. Und für ihre Erfahrung reklamieren wir, dass sie ein Ort der theologischen Erkenntnis sei, an dem der zukünftige Weg der Kirche nicht mehr achtlos vorbeigehen kann. Dabei verbietet es sich, die Leiderfahrungen der von sexuellem Missbrauch betroffenen Menschen zum „Futter“ oder „Verstärker“ für sachfremde Anliegen zu machen. Dies wäre in der Tat eine neue Instrumentalisierung von geschehenem Leid und der Menschen, die dahinter stehen.
Der zu beschreitende Weg ist offen.
Wir haben als Mitglieder des Beirates bei der DBK kein unfehlbares Lehramt für uns und die Menschen reklamiert, die wir vertreten. Die Argumente aus dem Blickwinkel Betroffener sind auf dem Synodalen Weg nicht per se die besseren oder gewichtigeren Argumente. Auch sie haben sich zu bewähren im Diskurs des Synodalen Weges, auch sie müssen gewogen und verarbeitet werden auf dem Weg zu guten, weiterführenden Maßnahmen der Erneuerung der Kirche, zu Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Prävention. Unsere Perspektiven taugen nicht zu zwingenden Argumenten, die nur eine Lösung nach sich zögen, nur ein Instrumentarium, nur einen Weg. Der zu beschreitende Weg ist offen.
Lasst uns unser Verhältnis zur Kirche selbst bestimmen!
Diejenigen unter uns, die nach wie vor zur katholischen Kirche gehören oder gar in einem kirchlichen Anstellungsverhältnis stehen, müssen sich immer wieder die Frage gefallen lassen, warum sie noch dazugehören. Warum wird uns diese Frage gestellt? Wer wollte uns verwehren in dieser Kirche Kraftorte der Resilienz zu finden oder in der eigenen Taufe eine Quelle von Trost und Heilung? Immer wieder wird davon gesprochen und geschrieben, in den Betroffenen begegne Jesus Christus. Niemand nimmt sich eine solche Nähe zum Gekreuzigten selbst heraus. Das ist keine Selbsttitulierung und keine Anmaßung, sondern für manche Betroffene im Rückblick tiefer Trost: nie alleine gewesen zu sein, auch nicht in der tiefsten Demütigung, Fremdbestimmung, Entblößung, Misshandlung, Verlassenheit. Wer wollte diesen Trost denen absprechen, die ihn zu allen Zeiten gefunden haben. Und wer nach allem Erlebten nicht geblieben ist in dieser Kirche oder im Christentum, hat gute, not-wendende Gründe, jenseits dieser Gemeinschaft und dieses Glaubens persönliche Kraftorte und Quellen von Trost und Heilung zu suchen und das Recht, sie selbstbestimmt zu finden.
Zurück zum „unfehlbaren Lehramt der Betroffenen“ und zum Stellenwert der MHG-Studie:
Was im Gefolge der MHG-Studie für die katholische Kirche in Deutschland ansteht, wird im befreiungstheologischen Sprachspiel allgemein benannt als „Option für die Armen“; damit verbunden ein Perspektivwechsel, der zu allen Zeiten in allen Situationen die Kirche selbst zur Umkehr auffordert. Dieser Perspektivwechsel findet sich auch in der Formulierung von Papst Johannes Paul II., dass der Weg der Kirche der Mensch sei, und zwar insbesondere jener Mensch, der Unrecht und Leid erfahren hat, unterdrückt oder marginalisiert wurde, der sucht und ringt. Hier, in dieser Erfahrung von Leid in der jeweiligen geschichtlichen Situation und im Leben konkreter Menschen, ist zu fragen nach dem Willen Gottes und ein Ort theologischer Erkenntnis zu suchen. Hier will Gott uns etwas lehren. Wer will, kann das „Lehramt“ nennen.
Es gibt eine Vielzahl von betroffenen Menschen in Deutschland, in deren Leben die Veröffentlichung der MHG-Studie im Herbst 2018 – nach den Enthüllungen seit 2010 – zum Schlüsseldatum geworden ist für die eigene Identifikation als Betroffene von sexuellem Missbrauch im Raum der Kirche und für ihre Sprachfähigkeit hierzu. Das Erleben, dass seitdem endlich nicht mehr nur von Verfehlungen einzelner Menschen, sondern auch von systemischen Ursachen des Missbrauchs gesprochen wird, ist ein Hoffnungszeichen mit Befreiungspotential. Deshalb stehen wir als Betroffenenbeirat bei der DBK zu den Ergebnissen und den Konsequenzen der MHG-Studie im Synodalen Weg.
Uns wurde Emotionalisierung vorgeworfen. Soll damit gesagt sein, dass wir übertreiben, Emotionen vortäuschen oder gar instrumentalisieren? Kein Kommentar. Wer sich hingegen einfach nur schwertut mit der Wucht unserer Emotionen, möge daran denken, wieviel Druck sich aufgebaut hat auf dem Weg zum Sprechen über das, was tabuisiert war. Wem unsere Unsicherheit unverständlich ist, dem sei gesagt, dass wir immer wieder ringen müssen mit Gefühlen von Schuld und Scham, die wir unnötigerweise auf uns selbst beziehen. Wer sich an der Lautstärke unserer Äußerungen stört, der und die möge die Erfahrung der meisten von uns einbeziehen, dass ihre leisen Hilferufe nicht wahrgenommen wurden. Wem die Heftigkeit unserer Kritik unsachgemäß erscheint, möge in Rechnung stellen, dass nur Bruchteile von den Zumutungen ans Licht der Öffentlichkeit dringen, mit denen viele Betroffene konfrontiert werden auf dem Weg zu Aufarbeiten und Gerechtigkeit im Raum der Kirche.
„Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, weise deine Jünger zurecht! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.“ – Lk 19, 39-40
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Anne Schmieder (Pseudonym), Mitglied des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz