Der Neutestamentler Markus Lau präsentiert in seinem Beitrag eine biblische Figur, die aus dem Fenster fiel und sich gerade dadurch als „Sitzungsheiliger“ anbietet. Eine biblische Miniatur mit Augenzwinkern.
Die meisten Leserinnen und Leser dieser Zeilen kennen sie: die Sitzung. Manche vergehen geradezu im Fluge, weil die verhandelten Traktanden spannend sind, andere scheinen schlechterdings kein Ende zu nehmen. Gesessen wird viel – ob in virtuellen oder physischen Räumen: in Uni und Kirche, in Seelsorge und Pastoral, in Vorständen und Räten, in Vikariaten und Rektoraten und in vielen anderen Zusammenhängen. Höchste Zeit also, angesichts der vielen Sitzerei endlich auch eine Art Sitzungsheiligen zu benennen, den man im Falle allzu lang sich hinziehender und insofern ermüdend lang dauernder Sitzungen um Beistand anrufen kann. Das Neue Testament bietet dafür einen veritablen Kandidaten, der die illustre Runde der volkskirchlich prominenten (Christophorus, Florian, Antonius) wie auch der eher exotischen Patroninnen und Patrone (die heilige Corona etwa für ausbleibende Lotteriegewinne) erweitern kann: Eutychus.
Von ihm erzählt Lukas in der Apostelgeschichte im 20. Kapitel und ihm gelten die folgenden exegetischen Notizen, die zum Schmunzeln und vielleicht da und dort auch zum Nachdenken anregen wollen.
7 Als wir am ersten Tag der Woche versammelt waren, um das Brot zu brechen, redete Paulus zu ihnen, denn er wollte am folgenden Tag abreisen; und er dehnte seine Rede bis Mitternacht aus. 8 In dem Obergemach, in dem wir versammelt waren, brannten viele Lampen. 9 Ein junger Mann namens Eutychus saß im offenen Fenster und sank in tiefen Schlaf, als Paulus immer länger sprach; überwältigt vom Schlaf, fiel er aus dem dritten Stock hinunter; als man ihn aufhob, war er tot. 10 Paulus lief hinab, warf sich über ihn, umfasste ihn und sagte: Beunruhigt euch nicht: Er lebt! 11 Dann stieg er wieder hinauf, brach das Brot und aß und redete mit ihnen bis zum Morgengrauen. So verließ er sie. 12 Den jungen Mann aber führten sie lebend von dort weg und sie wurden nicht wenig getröstet.
So wichtig ist die Debatte, dass das Herrenmahl warten muss.
So lautet der Text der Einheitsübersetzung von 2016, der sich nur wenig von der alten Einheitsübersetzung unterscheidet. Immerhin: Paulus „redet“ und „spricht“ in der Einheitsübersetzung und „predigt“ nicht, wie es noch in der alten Einheitsübersetzung lautete. Beides ist im Übrigen nicht richtig treffend übersetzt. Denn Lukas verwendet hier das im ganzen Neuen Testament eher seltene Verb dialégo. Es kommt nur 13mal im Neuen Testament vor, davon ganze zehn Mal in der Apostelgeschichte und jeweils in Bezug auf Paulus, und dann einmal bei Markus, im Hebräerbrief und im Judasbrief. Dialégo: Das ist diskutieren, streiten, überlegen, das Für und Wider abwägen. Das macht man nicht alleine. Unsere Übersetzung verdeckt das etwas: Klar, Paulus ist für Lukas der große Wortführer, aber diese Gemeinde in Troas sitzt nicht still um Paulus herum. Paulus diskutiert mit ihnen (so könnte man den Dativ in V. 7 nämlich auch übersetzen), Paulus muss argumentieren. Und das alles, bevor das Brot gebrochen wird. So wichtig ist die Debatte, dass das Herrenmahl warten muss. So geht es bis Mitternacht.
Nur einer macht augenscheinlich nicht mit, sondern sitzt ganz am Rand, im Fensterbogen: Eutychus, unser potentieller Sitzungsheiliger. Vielleicht ist er noch zu jung und erkennt nicht die Tragweite der Diskussion, vielleicht hat er auch einfach keine Lust auf noch eine Debatte, vielleicht war der Tag auch lang und die Arbeit ermattend. Sonntage sind ja noch keine. Vielleicht aber lässt ihn auch niemand zu Wort kommen. Wie sollte dieser Jungspund auch etwas Sinnvolles zur Debatte beitragen können. Überhaupt: Wo Paulus doch da ist, da müssen die Altvorderen das große Wort führen. Und so dauert die Diskussion und findet einfach kein Ende. Jeder muss schließlich etwas gesagt haben.
Sein Fenstersturz beendet die Debatte!
Ob Eutychus das geahnt hat, dass er heute nur einen Katzenplatz als Zuhörer bei der Gemeindeversammlung hat? Dass sein Wort nicht gefragt ist? Jedenfalls baut er vor. Setzt sich ans offene Fenster, um frische Luft zu haben. Doch all das nützt nichts. Der Schlaf übermannt ihn und um ihn scheint es geschehen zu sein. Und genau damit, mit dem Fenstersturz von Troas, hat er seinen großen Auftritt. Denn sein Absturz beendet schlagartig die Debatte. Paulus verlässt den Raum, rennt hinunter und erweckt ihn aus dem Tod. Der junge Mann ist wichtiger als jede Debatte. Und die anderen: Ich stelle mir vor, wie sie aus dem Fenster auf Eutychus und Paulus schauen und verwundert die Augen reiben. Eine Totenerweckung sieht man tatsächlich nicht alle Tage. Das ändert die Tagesordnung. Paulus kehrt zurück und dann geht es nicht weiter wie bisher, sondern es wird das Brot gebrochen, es wird gegessen und dann beginnt Paulus tatsächlich mit dem, was wir Predigt nennen (V. 11: homiléo) – bis zum Morgengrauen.
Eutychus, der Sitzungsheilige, er kann uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, bei den vielen Sitzungen, an denen wir immer wieder teilnehmen, niemandem zum Eutychus zu machen und an den Rand zu drängen; Sitzungen nicht zu lange werden zu lassen, auch wenn die Sache wichtig ist. Und er kann uns daran erinnern, wie hilfreich es für manche festgefahrene Diskussion sein kann, wenn einer „den Eutychus“ macht, also durch kreative Intervention zeigt, was wirklich ist.
Für Eutychus, sein Name lautet übersetzt im Übrigen sehr treffend: der Glückspilz, ist seine Nachtsitzung in Troas gut ausgegangen. Ähnlich mag es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, auch mit Ihren Sitzungen gehen.
Einheitsübersetzung 1980 | Einheitsübersetzung 2016 |
7 Als wir am ersten Wochentag versammelt waren, um das Brot zu brechen, redete Paulus zu ihnen, denn er wollte am folgenden Tag abreisen; und er dehnte seine Rede bis Mitternacht aus. 8 In dem Obergemach, in dem wir versammelt waren, brannten viele Lampen.
9 Ein junger Mann namens Eutychus saß im offenen Fenster und sank, als die Predigt des Paulus sich länger hinzog, in tiefen Schlaf. Und er fiel im Schlaf aus dem dritten Stock hinunter; als man ihn aufhob, war er tot. 10 Paulus lief hinab, warf sich über ihn, umfasste ihn und sagte: Beunruhigt euch nicht: Er lebt! 11 Dann stieg er wieder hinauf, brach das Brot und aß und redete mit ihnen bis zum Morgengrauen. So verließ er sie. 12 Den jungen Mann aber führten sie lebend von dort weg. Und sie wurden voll Zuversicht. |
7 Als wir am ersten Tag der Woche versammelt waren, um das Brot zu brechen, redete Paulus zu ihnen, denn er wollte am folgenden Tag abreisen; und er dehnte seine Rede bis Mitternacht aus. 8 In dem Obergemach, in dem wir versammelt waren, brannten viele Lampen. 9 Ein junger Mann namens Eutychus saß im offenen Fenster und sank in tiefen Schlaf, als Paulus immer länger sprach; überwältigt vom Schlaf, fiel er aus dem dritten Stock hinunter; als man ihn aufhob, war er tot. 10 Paulus lief hinab, warf sich über ihn, umfasste ihn und sagte: Beunruhigt euch nicht: Er lebt! 11 Dann stieg er wieder hinauf, brach das Brot und aß und redete mit ihnen bis zum Morgengrauen. So verließ er sie. 12 Den jungen Mann aber führten sie lebend von dort weg und sie wurden nicht wenig getröstet. |
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Dr. Markus Lau ist Oberassistent am Department für Biblische Studien der Universität Freiburg i.Üe./Schweiz. Der Text bildete den Eröffnungsimpuls bei der Sitzung des Zentralvorstands des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks am 29. März 2019. Die Grundidee zu diesem Impuls geht auf eine Radioandacht von Stefanie Lübbers bei Radio Bremen im Januar 2015 zurück.
Bild: Kathrin Antrak – pixelio.de