Als Opfer sexualisierter Gewalt bezeichnet François Devaux die Kirche als Schande. Das Konzil spricht von der Kirche als Sakrament. Beides lässt sich weder trennen noch vermischen. Was bleibt, führt zu einer Zumutung: sich selbst zu relativieren. Von Hans-Joachim Sander.
Die Zahlen der unabhängigen Sauvé-Kommission über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche Frankreichs erschrecken. In den letzten 70 Jahren wurden zwischen 220.000 und 330.000 Menschen Opfer sexualisierter Gewalt durch katholische Priester.
„Das, was Ihnen klar werden muss, meine Herren: Sie sind eine Schande …“
François Devaux ist Vertreter der Opferorganisation La Parole libérée. Als erster wurde er von der Kommission ausführlich befragt. Bei der Vorstellung des Berichts brachte Devaux die Empörung gegenüber den Bischöfen ins Wort: „Das, was Ihnen klar werden muss, meine Herren: Sie sind eine Schande für unsere Menschlichkeit/die Menschheit heute (Vous êtes une honte pour notre Humanité).“
Auf der anderen Seite sprechen Bischöfe und Kardinäle beständig von der Kirche als Sakrament. Im Vorfeld und während der Vollversammlung des synodalen Wegs hat ein solches Sprechen Konjunktur. Beharrlich weisen sie darauf hin, dass ein sakramentales Verständnis der Kirche nicht angetastet werden dürfe. Manche gehen sogar so weit, deshalb ein sog. unfehlbares Lehramt der vom Missbrauch Betroffenen abzuweisen.
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Was gilt nun für die Religionsgemeinschaft von uns Katholik:innen: „Sie sind eine Schande für die Menschheit heute“ oder „Wir sind sakramental“? Ich könnte es mir leichtmachen und sagen, es gelte nun einmal beides. Das ist aber theologisch zu einfach gedacht. Denn dann würde ich die göttliche Seite der Kirche von den menschlichen Seiten trennen. Das verbietet sich aber nach Lumen gentium 8.
Schande und Sakrament – „ungetrennt und unvermischt“.
Die Konstitution des Konzils setzt beide Seiten der Kirche in Analogie zu den zwei Naturen Christi, also dem Chalcedonense von 451. Ihre Trennung wäre eine ekklesiologische Verletzung der adverbialen Matrix des „ungetrennt und unvermischt“. Wer der Sakramentalität der Kirche einen Vorrang gibt und im sexuellen Missbrauch keine Größe erkennt, die von sich her dogmatisch bedeutsam ist, verstrickt sich in diese Position. Die Trennung wäre zudem lediglich ein ziemlich schamloser Selbstentschuldigungsmechanismus.
Ich könnte andererseits vollmundig behaupten, das Sakrament Kirche würde wenigstens in the long run die Schande überwölben; sie auflösen wie die glückliche Schuld in der Osternacht. Auch das wäre zu einfach gedacht. Ich würde beide kirchlichen Dimensionen vermischen. Das verbietet sich ebenso. Schande ist mehr als Schuld. Kein Sakrament löst Schande auf. Sowohl eine Trennung als auch eine Vermischung wären nur ein unverschämter Triumphalismus über die Leiden der Betroffenen.
Was bleibt dann noch, wenn man weder die Schande ignorieren noch die Sakramentalität marginalisieren will? Es bleibt, aus der binären Codierung herauszutreten. Dafür benötigt man, glaube ich, drei Schritte. Der erste besteht in der genauen Analyse der Lehre zur kirchlichen Sakramentalität. Sie steht in der Nr. 1 von Lumen gentium. Dort wird gerade nicht vom Sakrament Kirche gesprochen, sondern lediglich, sie sei „so etwas wie ein Sakrament – veluti sacramentum“.
Im sexuellen Missbrauch ist die Kirche kein Zeichen für die innigste Vereinigung eines Menschen mit Gott, sondern ein Unzeichen dafür.
Dieses sakramentale Verständnis der Kirche wird anschließend in ein doppeltes Verhältnis gesetzt. Sehr deutlich wird daran, warum die Ansage von François Devaux ins Herz des Glaubensproblems mit dem sexuellen Missbrauch trifft. Von dem, was so etwas wie ein Sakrament ist, wird weiter erläutert, es sei „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts“.
Im sexuellen Missbrauch ist die Kirche kein Zeichen für die innigste Vereinigung eines Menschen mit Gott, sondern ein Unzeichen dafür. Sie ist darin ebenso wenig als Werkzeug zu gebrauchen für die Einheit der Menschheit. Die Behauptung von etwas anderem wäre zynisch.
Die kirchliche Religionsgemeinschaft steht weder für sich selbst noch darf sie in sich ruhen.
Der zweite Schritt konfrontiert damit, was diese gleichsame Sakramentalität der kirchlichen Religionsgemeinschaft zumutet: Sie muss über sich hinauswachsen. Denn sie steht für etwas, was größer ist als sie. Die kirchliche Religionsgemeinschaft steht weder für sich selbst noch darf sie in sich ruhen. Die Vereinigung von Menschen mit Gott und die Einheit der Menschheit sind größer als die kirchliche Religionsgemeinschaft, aber dafür ist sie da. Hört sie auf, ihr „kleiner als“ ernst zu nehmen, verliert sie ihren theologischen Ort.
Ähnliches gilt für den Glauben. Auch er weist über sich hinaus. Die Einheit der Menschheit wird nicht dadurch erzeugt, dass irgendwann eben alle katholisch werden. Spätestens nach dem sexuellen Missbrauch dürfte auch den letzten in der Kirche klar sein, dass das nicht geschieht, weder jetzt noch künftig. Für diese Einheit kann der Glaube aber Zeichen setzen.
Das mutet der katholischen Glaubensgemeinschaft entscheidendes zu: sich selbst zu relativieren.
Dieser dritte Schritt erreicht das komplexe Niveau, auf dem sich die Konfrontation mit der Schande der Menschheit abspielt. Es entspricht der Komplexität, die von Lumen gentium 8 als unvermeidliche Wirklichkeit von Kirche betont wird. Die Kennzeichnung der Kirche mit der Schande ist zutreffend. Kirchlich kann ihr nicht widersprochen werden. Das mutet der katholischen Glaubensgemeinschaft in Frankreich, aber zugleich weltweit entscheidendes zu: sich selbst zu relativieren.
Zu einer kirchlichen Selbstrelativierung gehört in jedem Fall der Verzicht auf Triumphalismus wie auf missbräuchliche Erhöhung aufgrund von Sakramentalität. Zeichen dafür sind der direkte Widerspruch gegen Geringschätzung der Opfer und ihrer Leiden, aber insbesondere auch der Glaube an das, was sie über die sexualisierte Gewalt an ihnen berichten. Das ist keine Kleinigkeit. Die Sauvé-Kommission war hierzu bereit. Das hat dazu geführt, dass der Vorsitzende und weitere Mitglieder psychologische Betreuung nötig hatten.
Jetzt ist es an der Kirche und ihrer religiösen Gemeinschaft, ihrem eigenen Glauben nicht auszuweichen.
Um solche Größen geht es, wenn der kirchliche Glaube zur Einheit der Menschheit etwas beitragen können soll, was bedeutsam ist. Das verlangt keinen anderen Glauben, wohl aber anders zu glauben als gewohnt. Denn es handelt sich um Zumutungen, die demütig machen. Erst dann entsteht eine Ermutigung, Schande und quasi-Sakramentalität weder trennen noch vermischen zu müssen, sondern sich beidem offen und ehrlich in einer kreativen, positiven Selbstrelativierung der Glaubensgemeinschaft zu stellen.
Der Glaube ist in der Lage, anders zu werden – bescheiden, aber auch entschieden. Jetzt ist es an der Kirche und ihrer religiösen Gemeinschaft, ihrem eigenen Glauben nicht auszuweichen, sondern darin zu folgen, anders zu werden, weil es für sie so nicht mehr weitergeht. Dieser Glaube ist dabei das Beste, was sie noch hat.
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Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg,
Beitragsbild: Foto von David Bartus von Pexels.
Vom Autor zuletzt bei feinschwarz.net erschienen:
https://www.feinschwarz.net/am-kipppunkt-1/
https://www.feinschwarz.net/am-kipppunkt-2/
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Bei feinschwarz.net erschienen: Die Rezension zum thematisch verwandten Buch des Autors:
https://www.feinschwarz.net/sander-anders-glauben/