Christiane Florin ist eine der profiliertesten Religionsjournalist:innen Deutschlands. Sie war beim Rheinischen Merkur und verantwortlich für die ZEIT-Beilage Christ und Welt, seit 2016 ist sie beim Deutschlandfunk und recherchiert seit längerem zum sexuellen Missbrauch in den Kirchen. Ein Interview zum Fest der Unschuldigen Kinder.
Frau Florin, auf der Herbstvollversammlung der deutschen katholischen Bischöfe 2018 antwortete Kardinal Marx auf Ihre Frage, ob denn nicht einer der Bischöfe persönliche Verantwortung für die sexualisierte Gewalt in der Kirche übernommen habe, mit einem einzigen Wort: „Nein.“ Mittlerweile sieht er die katholische Kirche an einem „toten Punkt“ und hat seinen Rücktritt angeboten. Der wurde freilich ebenso wenig angenommen wie jener des Hamburger Erzbischofs Heße. Sehen Sie einen Fortschritt in Selbsteinsicht und Schuldeingeständnis der katholischen Kirche Deutschlands?
Darauf antworte ich kardinalsgleich: Nein.
Und woran liegt das? Welche Mentalitäten und Strukturen verhindern dies?
Da muss ich etwas länger als mit einem Wort antworten. Die katholische Kirche ist ein Verantwortungsverdunstungsbetrieb. Über der Wirklichkeit liegt ein spiritueller Nebel-Schleier. Eigentlich sollte ‒ in einer Hierarchie wie der römisch-katholischen Kirche zumal ‒ klar sein, wer die Verantwortung trägt: Es ist derjenige, der die Mütze aufhat, also der Bischof, aber auch sein Alter Ego, der Generalvikar. Im Bischof laufen alle Gewalten zusammen. In dieser Kirche kann aber ein ehemaliger Papst, Präfekt der Glaubenskongregation und Erzbischof allen Ernstes sinngemäß öffentlich erklären: „Ich habe mit der Vertuschung von Missbrauch nichts zu tun. Die 68er sind schuld.“ In dieser Kirche kann ein amtierender Papst an einen früheren Generalvikar schreiben: Du hast nicht mit Absicht vertuscht, der größere Kontext war schuld.
Franziskus, der Letztverantwortliche, hat offenkundig kein Interesse daran zu klären, was wirklich geschehen ist, wer wie schuldig geworden ist, und daraus personelle Konsequenzen zu ziehen. Das zeigt sowohl der Brief, den er an Marx geschrieben hat, als auch das Schreiben an Heße und Woelki. Franziskus redet von Reue, Vergebung und Umkehr. Verantwortungslosigkeit wird zur spirituellen Weisheit verklärt. Wer in der römisch-katholischen Kirche einen geistlichen Spitzenposten innehat, kann sich ziemlich sicher sein, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, weder der Papst noch die Öffentlichkeit verlangen Rechenschaft. Für mein jüngstes Buch Trotzdem habe ich mir genau angeschaut, wie Bischöfe reagiert haben, wenn Medien sie mit Missbrauchsfällen konfrontiert haben. Auffallend ist der taktische Umgang mit der Wahrheit.
Beispielhaft ist das Jahr 2010. Klaus Mertes hatte Ende Januar die Fälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht. Drei Wochen hat es gedauert, bis sich der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, öffentlich dazu verhalten hat. Zollitsch war viele Jahre Personalreferent seines Erzbistums. Es schien für den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz keine Option gewesen zu sein, all das auf den Tisch zu legen, was er mutmaßlich wusste. Statt dessen stellte er der damaligen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ein Ultimatum, weil sie es gewagt hatte, den Aufklärungswillen der Kirche anzuzweifeln. Wie 2018 bekannt wurde, gab es im Erzbistum Freiburg laut MHG-Studie 190 Beschuldigte und 442 Betroffene, also keine Einzelfälle.
Legendär geworden ist das „Nichts geahnt, nichts geahnt“ von Kardinal Meisner. Das war seine Antwort in einem DLF-Interview auf die Frage, ob ihn die Enthüllungen zu sexualisierter Gewalt überrascht hätten. Das „Nichts geahnt“ war eine dreiste Lüge, wie wir nun gutachterlich bestätigt wissen. Bis heute geht Hierarchen das Wort „schmerzlicher Lernprozess“ leicht von den Lippen. Das klingt besser als „Wir haben vertuscht und die Opfer waren uns egal.“
Sie sind Journalistin, aber auch Politologin. Welche strukturellen und habituellen Muster sehen Sie hinter solchen Phänomenen in der Kirche?
Macht wird in der römisch-katholischen Kirche ausgeübt, ihre Existenz wurde jedoch bis vor kurzem geleugnet, übrigens nicht nur im rechtsautoritär-katholischen Lager, auch im liberalen. Bis vor nicht allzu langer Zeit galt alles als Dienst. Dieser Dienst-Trick macht es unmöglich, über Macht zu sprechen, die Grenzen zwischen ihrem guten Gebrauch und Missbrauch festzulegen. Politikwissenschaftlich betrachtet ist die katholische Kirche eine absolutistische Monarchie. Diese Form ist nichts Gewachsenes, sondern etwas Gewolltes: Die römisch-katholische Kirche sollte im 19. Jahrhundert das Gegenmodell zu anderen Regierungssystemen bilden, zu parlamentarischen Demokratien oder konstitutionellen Monarchien etwa. Gewaltenteilung ist in dieser Konstruktion nicht vorgesehen, dieses Defizit wird mit einem spirituellen „Bei euch soll es aber nicht so sein“-Brimborium zu einem Vorzug erklärt. Nach dem Motto: Machtkontrolle mögen irdische Institutionen nötig haben, wir als göttlich gestiftetes Ding brauchen so etwas nicht.
Macht kann also unkontrolliert ausgeübt werden. Das heißt nicht, dass jeder das macht. Es heißt aber, dass derjenige, der Macht missbrauchen will, das ungestört tun kann. Diese Struktur verändert die Menschen, die sich hineinbegeben. Als ich mir Missbrauchsfälle bzw. die Reaktion der Leitungsebene darauf sehr genau angeschaut habe, auch auf der Basis vertraulicher, kircheninterner Unterlagen, habe ich mich gefragt: Warum haben Verantwortliche reagiert, wie sie reagiert haben, obwohl ihnen klar gewesen sein muss, wie schrecklich die Taten für die Kinder, Jugendlichen und Frauen gewesen sind? Warum haben sie nicht die Täter bestraft und versucht, Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen? Warum sind Bischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare, Personalchefs nicht aus dieser Struktur ausgebrochen?
Auf der Basis Ihrer Recherchen: warum nicht?
Eine Antwortauswahl: Einige, weil sie niederträchtige oder charakterschwache Karrieristen sind. Einige, weil sie keinesfalls eine Diskussion über Sexualität und Männerbünde führen wollen. Einige, weil sie wegen ihrer sexuellen Neigungen persönlich erpressbar sind. Einige, weil sie Missbrauchsbetroffene für ganz kleine Nummern und Priester für höhere Wesen halten. Wie gesagt, das ist nur eine Auswahl, es gibt viel mehr Antwortmöglichkeiten. Was ich hier aufgezählt habe, gilt nicht für jeden. Was aber alle verbindet ist der Habitus: Ich handle so, weil ich es kann. Ich handle so, weil ich dafür sorgen kann, dass es nicht rauskommt. Ich handle so, weil ich dafür sorgen kann, dass ich ‒ selbst wenn etwas rauskommt ‒ das Heft in der Hand behalte. So kann jemand denken, dessen Macht nicht an Verantwortung gekoppelt ist. Das ist der absolutistische Habitus, mit dem man nicht nur in der Institution nach oben kommt und oben bleibt, sondern auch als Kirchenfürst in einer Demokratie wie der Bundesrepublik unbehelligt von politischer Kontrolle weiter wirken kann.
Sehen Sie einen way out?
Wie wäre es damit, die Wahrheit zu sagen, aufrichtig zu sein, mit dem Taktieren und Lügen aufzuhören? Das wäre ein Neuanfang. Bisher bleibt es anderen überlassen, das herauszufinden, was war und was ist. Bisher waren diese anderen vor allem Journalistinnen und Journalisten. Sie haben den Betroffenen zugehört, die Institution mit dem Gehörten konfrontiert und so ‒ um den Titel eines aktuellen Bestsellers der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim zu zitieren ‒ die kleinste gemeinsame Wirklichkeit öffentlich gemacht.
Es gibt also Fakten, die nicht mehr bestritten werden können.
Die Gläubigen an der Basis, etwa die in Gemeinden und Verbänden engagierten, haben zur Aufklärung bisher wenig beigetragen. Sie beklagen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust, hören Drei-Minuten-Statements von Betroffenen zu und zeigen sich hinterher „dankbar“, aber sie recherchieren zum Beispiel nicht, was in ihrer eigenen Gemeinde vorgefallen sein könnte. Es gibt kaum kritische, aufklärerische Gemeindechroniken. Erst wenn man selbst einmal versucht, von der Institution Informationen darüber zu bekommen, wie sie in einem ganz konkreten Missbrauchsfall reagiert hat, wenn man die Mauern und die Macht selbst gespürt hat, bekommt man einen realistischen Blick für den angeblichen „Aufklärungswillen“.
Ich plädiere also für Recherche, Aufklärung, Erkenntnis. Ein Weg, der ins Leere führt, den Laien aber immer noch einschlagen, ist der moralische Appell an die Leitungsebene. Die entzieht sich jedoch einer moralischen Bewertung, indem sie den Umgang mit Missbrauch auf eine rechtliche Ebene verlagert. Wer Moral anführt, gilt als unsachlich und emotional.
Weil das so ist, halte ich es für einen guten Weg, dieser Institution rechtlich, genauer gesagt: verfassungsrechtlich zu begegnen. Die Politikwissenschaftlerin Tine Stein hat in feinschwarz.net entsprechende Vorschläge vorgelegt. Und: Begreifen sich Gläubige als Bürgerinnen und Bürger, die etwas gegen Machtmissbrauch tun wollen, oder sehen sie die katholische Kirche als das bisschen Absolutismus, das man sich in einer Demokratie gönnen kann?
Bei Nietzsche heißt es: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Trifft das auch Ihre Erfahrung?
Durch meine Recherchen1 kenne ich einen Bruchteil dessen, was geschehen ist. Der einfache ethische Grundsatz, dass die Schwächsten zu schützen sind, wird unter spirituellen, amtstheologischen und juristischen Felsbrocken begraben. Mich hat das schockiert und ich kann mich bis heute nicht daran gewöhnen. Dieses Wissen macht die Mitgliedschaft in der Kirche zur Gewissensfrage.
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Dr. Christiane Florin ist Redakteurin für „Religion und Gesellschaft“ beim Deutschlandfunk in Köln. Neuere Veröffentlichungen: Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben, München 2020; Der Weiberaufstand. Warum Frauen in der katholischen Kirche mehr Macht brauchen, München 2017.
Das Interview führte Rainer Bucher.
Photo: Antje Siemon