Vor kurzem hat der Soziologe Andreas Reckwitz eine umfassende wissenschaftliche Selbstverortung vorgelegt. Christian Bauer findet nicht nur, dass es sich dabei um den wohl besten Theoriebeitrag des Jahres 2021 handelt, sondern auch, dass dieser Ansatz nachhaltig faszinierende Inspirationen für die Pastoraltheologie bereithält. Prädikat: Unbedingt lesenswert.
Zunächst hatte ich Andreas Reckwitz eigentlich eher ignoriert. Wohl hatte ich wahrgenommen, dass sein Buch Gesellschaft der Singularitäten aus dem Jahr 2017 viel Aufmerksamkeit erlangte – zugleich hatte ich aber dahinter nur eine weitere Variante der Individualisierungsthese vermutet (wenn auch garniert mit einer Prise French Theory). Dann aber habe ich im Dezember 2019 aufgrund einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung sein Buch Das Ende der Illusionen gelesen – und es wurde für mich zu einem echten Augenöffner, bei dessen Lektüre mir soziologische Lichterketten aufgingen (inklusive einiger existenzieller Selbsterkenntnisse). Ich habe ganze Absätze unterstrichen: Jeder Satz ein Treffer!
Vordenker der Ampelkoalition?
Die darin konzeptualisierte Differenz zwischen einer alten und einer neuen Mittelschicht[1], die sich durch gegenwartskulturelle Defensive bzw. urbanen Kosmopolitismus unterscheiden, ist eine echte soziologische Entdeckung – und der daran anschließende Vorschlag eines einbettenden Liberalismus (im Sinne neuer Regularien einer offenen Gesellschaft) als Alternative zu den neoliberalen Öffnungen bzw. rechtspopulistischen Schließungen der Gegenwart stellt eine politisch wegweisende Richtungsanzeige dar, die Andreas Reckwitz zu einem Vordenker[2] der sich gerade formierenden Ampelkoalition macht.
Popkultur und Tischromantik
Mein Interesse war geweckt, und so habe ich mehr gelesen. Der kürzlich an die Berliner Humboldt-Universität gewechselte Soziologieprofessor wanderte in meine eigenen Vorlesungen, z. B. als politisch hochrelevante Einordnung und Vertiefung der Sinus-Milieustudien[3]. Zuletzt habe ich seine Theorien dann in zwei Festschriftbeiträgen nicht nur zur Deutung von popkulturellen Gegenwartspolitiken verwendet[4], sondern auch in ein romantikbezogenes Tischgespräch mit Rainer Bucher verwickelt [5]. Und nun kam das zusammen mit Hartmut Rosa (neben Armin Nassehi dem anderen gegenwärtig wohl am meisten rezipierten deutschen Soziologen) verfasste Buch Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, das ich sofort bestellte und mit Spannung erwartete. Reckwitz und Rosa stellen darin ihre eigene Position vor und treten in ein moderiertes Streitgespräch.
Wiedererkennungen: Praxistheorie als kritische Analytik
Um es gleich vorwegzunehmen: Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Reckwitz programmatische Selbstverortung („Gesellschaftstheorie als Werkzeug“) und seine daran anschließenden Äußerungen brachten nicht nur ein höchst erfreuliches Wiedererkennen eigener wissenschaftstheoretischer Anliegen mit sich, sondern auch faszinierende neue Erkenntnisse. Zunächst zu den genannten Wiedererkennungseffekten. Da ist zum einen Reckwitz’ soziologische Praxistheorie, der etwas „Entessenzialisierendes“[6] eignet, da sie „Substanzen durch doings“[7] ersetzt. Sie erhellt damit auch die praktische Theoriearbeit des doing theology von Pastoraltheologie: „Theorie ist selbst eine Praxis, genauer: Sie ist ein Ensemble von Praktiken. […] Diskurse sind nämlich ihrerseits [….] Praktiken, und zwar diskursive, die sich weder oberhalb noch unterhalb der anderen Praktiken bewegen.“[8]
System oder Werkzeug?
Desweiteren unterscheidet Reckwitz in seiner Stellungnahme idealtypisch Theorie-als-System und Theorie-als-Werkzeug[9] – hier wie auch anderswo bei ihm lässt sich der Theoriebegriff problemlos durch jenen der Theologie ersetzen: „Das System ist aus einem Guss und in sich geschlossen. […] Man kann es zwar hier und da noch ergänzen und verfeinern, aber seine Fundamente lassen sich nicht […] verändern, weil es sonst als Ganzes kollabieren würde. […] Typisch ist hier zum einen der Theoretiker als genialisch-charismatischer Anführer, zum anderen das Versammeln einer (Theorie-)Schule von Gefolgsleuten, die sich dem anerkannten Anführer bereitwillig unterordnen.“[10]
Theoretizistische Systeme
Mit diesem epistemischen „Dogmatismus“[11] ist ein ganz bestimmter, von Reckwitz ‚theoretizistisch’ genannter Umgang mit Theorien verbunden – und auch hier sind Ähnlichkeiten zu bestimmten Praktiken im theologischen Diskurs nicht rein zufällig: „Die theoretizistische Form der Auseinandersetzung geht davon aus, dass jedwede Theorie als Theorie-als-System […] zu lesen ist. […] Das heißt, der Rezipient macht sich auf die Suche nach den vermeintlichen Schwachpunkten der Theorie, an denen man sie […] aus den Angeln heben kann. […] Sie ähnelt einem Krieg mit intellektuellen Mitteln, in dem […] sich alles um Angriff und Verteidigung, um Elimination und Standhalten dreht.“[12]
Experimentelle Werkzeuge
Diesem theoretizistischen Theoriegebrauch, der im Sinne einer Dekonstruktion von geschlossenen Theoriesystemen durchaus auch in der Pastoraltheologie seine Berechtigung hat, stellt Reckwitz einen experimentellen gegenüber, der an wesentliche Grundhaltungen pastoraltheologischer Theorierezeption erinnert: „Man sucht die […] neue Perspektive, in der die Dinge in einem anderen Licht erscheinen. In der experimentellen Haltung will man nicht etwas abwehren, sondern man will etwas kennenlernen; man zieht nicht gegen die Theorie zu Felde, sondern öffnet sich den Denkmöglichkeiten, die sie anbietet […]. […] Während der theoretizistische Gestus die neue Theorie als potenzielle Bedrohung wahrnimmt, erscheint sie im experimentellen als potenzielle Bereicherung […].“[13]
Weiterführendes: Option für moderne Kontingenzöffnung
Über das in der Pastoraltheologie bereits Bekannte hinaus finden sich bei Reckwitz zahlreiche weiterführende Inspirationen. Da ist zum einen seine Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie. So wie man mit Bruno Latour nicht nur das Soziale[14], sondern auch das Pastorale neu versammeln und dabei auch den Spuren von materiellen Akteuren folgen kann, so lässt sich ebenso mit Reckwitz Pastoraltheologie als Sozialtheorie (= allgemeine Theorie sozialer Praktiken) und Kirchentheorie als Gesellschaftstheorie (= Theorie einer konkreten Sozialform) verstehen: „Die Sozialtheorie stellt ein grundlegendes Vokabular bereit, mit dem sie klärt, was das Soziale ist […]. Demgegenüber problematisiert die Gesellschaftstheorie Gesellschaften in ihrer konkreten Historizität […]. [Wir brauchen] […] sozialtheoretische Grundbegriffe […], um Beiträge zur Gesellschaftstheorie liefern zu können, aber aus der Sozialtheorie lässt sich keine Gesellschaftstheorie ableiten.“[15]
Öffnungen und Schließungen
Neben dieser Unterscheidung ist für die Pastoraltheologie auch die Reckwitzsche Charakterisierung der Moderne als eine Öffnung von Kontingenz von Bedeutung – ist sie doch selbst ein Kind der Moderne, das im Prozess der europäischen Aufklärung geboren wurde: „Das bedeutet […], dass die soziale Welt der Moderne, ihre Lebensformen und Institutionen nicht mehr von ihrer eigenen […] Alternativlosigkeit ausgehen, sondern davon, dass alles, was in der Gesellschaft existiert, auch anders sein könnte. […] Kontingent sein heißt in diesem Zusammenhang […]: offen sein für die Möglichkeit einer Umgestaltung (bis hin zur Revolution) […].“[16] In einer „dialektischen Endlosschleife aus Stabilisierung, Destabilisierung und Neugestaltung von Ordnung“[17] steht die Moderne aber zugleich auch für eine reaktive „Kontingenzschließung“[18], die einen permanenten „Prozess der Öffnung und der Schließung, der Wiederöffnung und der Wiederschließung von Kontingenz“[19] im Gang setzt.
Schwacher Normativismus
Andreas Reckwitz bezeichnet seinen eigenen Ansatz im Anschluss an Michel Foucault als eine „kritische Analytik“[20], die einen „dritten Weg“[21] jenseits von utopisch-normativer Kritischer Theorie und material-empirischer Soziologie der Kritik eröffnet. Beiden stellt er das schöpferische Dritte einer kritischen Praxis bzw. einer Kritik der Soziologie entgegen, die über einen „schwachen Normativismus in Form einer Präferenz für die Öffnung der Kontingenz“[22] mit dem „aufklärerischen Projekt der Moderne verbunden“[23] ist. Soziologie bzw. Pastoraltheologie liefern entsprechende „intellektuelle Werkzeuge der Kontingenzöffnung“[24]: „Die kritische Analytik steht auf der Seite der Kontingenzöffnung.“[25] Als eine unerwartete „Ressource“[26] dafür könnte sich auch das christliche Evangelium erweisen, in dessen Zentrum die jesuanische Botschaft einer überall und jederzeit möglichen Kontingenzöffnung steht: Dein Leben, diese Kirche und unsere Gesellschaft könnten auch ganz anders sein.
Prof. Dr. Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Innsbruck und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie.
Bildquelle: Privat.
[1] Vgl. Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, 90-102.
[2] „[Es] […) besteht für den regulativen Liberalismus die Chance, dass er neben [dem] […] selbstkritischen Teil der neuen Mitteklasse auch Teile der alten Mittelklasse sowie der prekären Klasse hinter sich versammeln kann […). Wenn sich die Wertedifferenz zwischen der neuen und der alten Mittelklasse als Gegensatz zwischen globalisierungsfreundlichen Kosmopoliten und regulierungsfreundlichen Kommunitariern beschreiben lässt, dann könnte der regulative Liberalismus eine ‚historischen Kompromiss’ zwischen beiden ermöglichen.“ (Reckwitz: Das Ende der lllusionen, 303).
[3] Vgl. Reckwitz: Das Ende der Illusionen, 122-125.
[4] Christian Bauer: Winter is coming? Politisch-theologische Erkundungen in der Populärkultur, in: Sonja Beckmayer, Christian Mulia (Hg.): Volkskirche in postsäkulärer Zeit. Erkundungsgänge und theologische Perspektiven [FS Kristian Fechtner], Stuttgart 2021, 143-160.
[5] Christian Bauer: Welten der Sehnsucht? Einladung zu einem Tischgespräch über Romantik, in: Maria Elisabeth Aigner, Ders., Birgit Hoyer, Michael Schüßler, Hildegard Wustmans (Hg.): Weiter gehen. Eine Road-Map ins Offene [FS Rainer Bucher], Würzburg 2021, 32-51.
[6] Andreas Reckwitz, in: Ders./Harmut Rosa: Moderne und Kritik. Ein Gespräch mit Martin Bauer, in: Dies.: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Berlin 2021, 253-310, 280.
[7] Andreas Reckwitz, in: Ders./Rosa: Moderne und Kritik, 283.
[8] Andreas Reckwitz: Gesellschaftstheorie als Werkzeug, in: Ders./Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Berlin 2021, 23-150, 25; 60.
[9] Siehe auch die Unterscheidung von Systemdenker:innen und Selbstdenker:innen des im vergangenen Sommer verstorbenen Karl Heinz Bohrer.
[10] Reckwitz: Gesellschaftstheorie als Werkzeug, 45; 145 (FN 1).
[11] Ebd., 149.
[12] Ebd., 144f, 146.
[13] Ebd., 148f.
[14] Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin 2010.
[15] Andreas Reckwitz, in Ders./Rosa: Moderne und Kritik, 273; 281.
[16] Reckwitz: Gesellschaftstheorie als Werkzeug, 72f.
[17] Ebd., 77.
[18] Ebd., 75. Nicht jede Kontingenzöffnung ist per se gut und nicht jede Kontingenzschließung per se schlecht. Manche existenziell notwendige Kontingenzschließung im Raum unzähliger Möglichkeiten (z. B. das Eingehen einer Ehe oder Partnerschaft) eröffnet sogar neue Möglichkeitsräume, die es ohne diese Schließung nicht gäbe.
[19] Ebd., 75.
[20] Ebd., 129.
[21] Ebd., 130.
[22] Ebd., 130. Nicht jede vermeintliche Kontingenzöffnung wie z. B. der Neoliberalismus erweist sich dabei – synchron mit Blick auf das globale Ganze und diachron mit Blick auf seine ökologischen Folgekosten – als wirklich kontingenzöffnend, d. h. die weltgesellschaftlichen Möglichkeitsräume erweiternd. Der scheinbaren Alternativlosigkeit eines neoliberal entfesselten Kapitalismus stellt daher auch das Weltsozialform sein Motto „Another world is possible“ entgegen, das auf keine abstrakten Utopien (= mögliche Wirklichkeiten) zielt, sondern sich vielmehr an konkreten Heterotopien (= wirkliche Möglichkeiten) ablesen lässt. In dieselbe Richtung weist auch der von Andreas Reckwitz formulierte politische Vorschlag eines einbettenden Liberalismus, der gesellschaftliche Öffnung mit dem Vereinbaren neuer sozialer Regeln kombiniert.
[23] Ebd., 138.
[24] Ebd., 132. Der Pastoraltheologie seien insbesondere die sechs Reckwitzschen ‚Leitlinien‘ einer kritischen Analytik ans Herz gelegt (ebd., 132-135).
[25] Andreas Reckwitz, in Ders./Rosa: Moderne und Kritik, 302.
[26] Vgl. François Jullien: Ressourcen des Christentums. Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis, Gütersloh 2019.