Erster Lockdown, vierter Tag. Super Wetter. Wenig zu tun im Homeoffice, und draußen geraten Menschen in Not. Frank Schmitz beschreibt die Krisensituation der Pandemie als eindrucksvollen Prozess der Selbstermächtigung.
Heiner ruft an: Wie`s mir so geht, was ich so mache? Heute weiß ich, dass ich Ohnmacht erlebte und dass Heiners Anruf und sein Vorschlag der Anfang einer wunderbaren Selbstermächtigung waren. „Lass uns ein paar Leute zu einem Videotreffen einladen!“, lautete Heiners Vorschlag. Wir kennen Menschen aus vielen Ecken der Stadtgesellschaft, weil wir seit Jahren in Netzwerken und in immer neuen Partnerschaften arbeiten. Heiner als Pastoralreferent im Bistum Trier, ich als Sozialplaner in der Stadtverwaltung von Saarbrücken. Der Einladung zur ersten Zoom-Konferenz meines Lebens folgten fünfzehn Partner*innen aus früheren Kooperationen. Unsere Fragestellung: Wie können wir uns gegenseitig und anderen helfen, die Pandemie gut zu überstehen?
INSIEME – zusammen
Zwei Treffen später waren manche abgesprungen, manche hinzugekommen – und wir sahen die Notwendigkeit und trauten uns zu, eine Lebensmittelausgabe auf die Beine zu stellen. Die Saarbrücker Tafel hatte geschlossen, um ihre überwiegend älteren Ehrenamtlichen zu schützen. Gleichzeitig fehlte in mehr Haushalten denn je das Geld, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Also besorgten wir: geeignete Räumlichkeiten, die nötige Ausstattung, die Genehmigung des Ordnungsamtes, Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit, über einhundert freiwillig Mitarbeitende, gut zur Hälfte resiliente junge Leute, um unser ausgefeiltes Konzept in getrennten Teams und im Schichtbetrieb sicher umzusetzen, sowie Spendengelder und gewogene Einzelhändler*innen, um die Lebensmittel günstig einkaufen zu können. Das alles binnen einer Woche, wir konnten es selbst kaum glauben. Nun fehlte noch ein Name für unseren Initiativkreis. „INSIEME wäre passend“, meinte Heiner. Insieme ist italienisch und heiß „zusammen“ – und der Ort unserer Lebensmittelausgabe war die italienische Mission. Perfekt.
Geübt darin, die Initiative zu ergreifen.
Über einen Zeitraum von zwei Monaten versorgten wir etwa 300 Haushalte. Niemand hatte uns beauftragt. Unsere Chefinnen und Chefs, so wir welche haben (zum Initiativkreis zählten auch Stadtteilaktivisten, Studierende und Freischaffende), waren mit Chefsachen im Krisenmanagement ausgelastet. Heiner und ich und ein paar der anderen sind geübt darin, die Initiative zu ergreifen und Partner*innen zu gewinnen, um größere Aufgaben mit vereinten Kräften anzugehen. Aber die Pandemie und ihre unabsehbaren Folgen waren ein ganz anderes Kaliber. Jede/r Einzelne von uns war erst einmal überwältigt. Gemeinsam gewannen wir die Fassung und unsere Tatkraft zurück.
Die anfängliche Sorge, dass wir uns vielleicht übernehmen, wich bald der Begeisterung darüber, wie gut wir uns ergänzten und wie wir es hinbekamen, zugleich pragmatisch und achtsam zu sein und zusammen zu halten. Es gab Zeitdruck, wirtschaftliches Risiko (Was, wenn die Spenden nicht reichen?), moralische Dilemmata (Wie vermeiden wir Beschämung? Wie umgehen mit Trittbrettfahrern?) und reichlich unterschiedliche Sichtweisen. Aber es gab auch gegenseitige Wertschätzung, Vertrauen und Sympathie und Konsens in grundlegenden Dingen: Wir wollen Solidarität leben, gerade in der Krise. Wir wollen Entscheidungen als Gleichberechtigte demokratisch treffen. Wir wollen es uns nicht zu einfach machen und unser Tun hinterfragen (Wie stehen wir eigentlich zur Tafel?). Wir wollen die Freude und den Spaß nicht zu kurz kommen lassen, erstrecht in Angesicht des Ernsts der Lage.
Glaube an den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Im Laufe von zwei Monaten haben wir nicht „nur“ vielen Menschen in einer Notsituation helfen können. Wir haben auch für uns, für die vielen aktiv Beteiligten viel gewonnen. Es wurden Bekanntschaften geschlossen, oft unter Menschen, die sich im normalen Alltag kaum begegnen: Bürgerliche und Experimentierfreudige, Fachkräfte und Laien, Arme und Wohlhabende, Deutsche und Eingewanderte. Das Gefühl, alleine ausgeliefert zu sein, wich dem guten Gefühl, gemeinsam etwas bewegen zu können. Der Glauben an den gesellschaftlichen Zusammenhalt wurde gestärkt.
Als Sozialplaner sehe ich die Chance, dass auch künftige Probleme und Krisen partnerschaftlich bewältigt werden können. Wenn es wieder schwierig wird und wenn staatliche Hilfe alleine nicht hinreicht, dann werden die an INSIEME Beteiligten sich erinnern. Viele werden wieder bereit sein mitanzupacken, wenn in ihrer Nähe dazu aufgerufen wird. Der eine oder die andere wird vielleicht selbst die Initiative ergreifen und im kleinen oder größeren Kreis aufrufen, mitzuhelfen. Und einige der Beteiligten wissen jetzt, wie sie es anstellen und wen sie ansprechen können, wenn sie Unterstützung und Partnerschaft beispielsweise von Seiten der Stadtverwaltung oder der Kirche brauchen. Der Grundstein für künftiges partnerschaftliches Engagement ist gelegt. Dies gilt umso mehr, je vielfältiger die Partnerschaften sich zusammensetzen (also nicht nur Profis eines Arbeitsbereichs unter sich!) und je besser es gelingt, miteinander offen, fair und wertschätzend umzugehen.
Führungskräfte in Hierarchien tun sich schwer mit partnerschaftlicher Zusammenarbeit.
Fach- und Führungskräfte in der Verwaltung tun sich in meiner Wahrnehmung oft noch schwer damit, sich auf partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Bürger*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen einzulassen. Das hat viele Ursachen. Zeitnot ist sicher eine davon. Diverse tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge werden häufig angeführt. Auch verbreitet: das Missverständnis bei Expert*innen und Entscheider*innen, dass „Augenhöhe“ die Souveränität gefährdet. Und leider bleibt auf mancher Chefetage nur wenig Aufmerksamkeit für die vielen selbstorganisierten und über die Stadt oder das Dorf verstreut erbrachten Beiträge aus Bürgerschaft und Zivilgesellschaft – zu sehr ist Mann oder Frau damit beschäftigt, die Krise höchst selbst zu bezwingen und als Problemlöser*in wahrgenommen zu werden. Ich vermute, das trifft auch auf andere hierarchische und tendenziell in sich geschlossene Organisationen zu. Bestimmt ein interessantes Thema bei einem Glas Wein mit Heiner.
Bewältigung und Lösung gesellschaftlicher Probleme sind verflixt komplex. Das gilt gesamtgesellschaftlich wie für eine Stadtgesellschaft und bis „hinab“ auf die Ebene von Stadt- und Ortsteilen. Wie wir mit gesellschaftlicher Komplexität umgehen, ist entscheidend für die Wirksamkeit und die Qualität der Maßnahmen, die wir ergreifen. Komplexität überfordert schnell. Komplexität behutsam und überlegt zu reduzieren, kann Handlungsfähigkeit erhalten – Komplexität zu leugnen und willkürlich zu vereinfachen, führt oft zu schrecklich falschen Schlüssen und Maßnahmen. Für autoritäre Anführer*innen ist die willkürliche Vereinfachung auch ein Mittel zur Verblendung von Menschen und zur Erzielung von Gefolgschaft.
Vielfältige Partnerschaften für den Umgang mit Komplexität.
In den Verwaltungs- und Sozialwissenschaften gab es schon Ende der 1990er einen Diskurs darüber, wie mit der gesellschaftlichen Komplexität fruchtbar und unserer Gesellschaftsordnung gemäß umzugehen sei. Unter dem Begriff „Local Governance“ wurde empfohlen, immer wieder aufs Neue vielfältige Partnerschaften unter denjenigen einzugehen, die eine Entwicklungsaufgabe oder ein Problem insbesondere betrifft. „Vielfältig“ meint, dass sich Vertreter*innen aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammentun. Das funktioniert gut, wenn die Beteiligten sich um einen fairen und transparenten Umgang miteinander bemühen und einander in ihren Möglichkeiten und Grenzen anerkennen. Die Parlamente bleiben die entscheidende Instanz in öffentlichen Angelegenheiten. Hierarchien in der beteiligten Verwaltung bestehen fort. Unternehmer*innen konkurrieren weiterhin am Markt und Stadtteilaktivist*innen stimmen sich wie üblich mehr oder weniger demokratisch ab. Aber in der Partnerschaft im Sinne von Local Governance werden Weisungsbefugnis, Konkurrenz und Gleichberechtigung so aufeinander abgestimmt, dass alle Beteiligten die ihnen möglichen Beiträge leisten können und einer gemeinsamen Lösung zustimmen können. Eine Stadtverwaltung kann nach diesem Verständnis eine ihrer Rollen darin sehen, entsprechende Partnerschaften zu initiieren und zu moderieren.
PatchWorkCity – Zusammenleben in Vielfalt.
Auch das Zustandekommen von INSIEME hatte zur Voraussetzung, dass es Menschen gab, die bereits fruchtbare Partnerschaften erlebt hatten und die sich kannten und schätzten. Einige der Mitstreiter*innen bei INSIEME hatten bereits in verschiedenen Projekten im Saarbrücker Stadtteil Malstatt kooperiert. Hier ist über Jahrzehnte eine Kultur der Zusammenarbeit entstanden, befördert durch Projekte und Programme zur Stadtteilentwicklung und durch zwei Einrichtungen der Gemeinwesenarbeit, die es seit den 1970ern im Stadtteil gibt. Heiner und ich haben uns 2018 näher kennen und schätzen gelernt, während der von Seiten der Stadtverwaltung initiierten Kampagne „PatchWorkCity – Zusammenleben in Vielfalt“. Auch über PatchWorkCity ließe sich eine spannende Geschichte unerwarteter und ertragreicher Kooperationen erzählen … vielleicht ein andermal.
Aber ich will eine Entdeckung kurz vorstellen, die wir während PatchWorkCity gemacht haben. Eine Art Strickmuster für immer neue partnerschaftliche Aktionen. Mit der Kampagne wollten wir, drei Verwaltungsmitarbeitende aus den Bereichen Integration, Stadtentwicklung und Soziales, einen stadtgesellschaftlichen Diskus anzetteln zu der Frage: Wie wollen wir in einer vielfältigen Stadtgesellschaft zusammenleben? Gemeint war zum einen ethnische Vielfalt, zum anderen aber auch Vielfalt in jedweder Hinsicht. Uns schwebte ein Mix aus unterschiedlichen Veranstaltungen und Guerilla-Marketing-Aktionen vor. Aber zu dritt und mit wenig Geld, das war uns klar, konnten wir nicht viel erreichen.
Darum starteten wir einen Aufruf in unsere verschiedenen Netzwerke und luden zu einem Ideenworkshop für Veranstaltungen und Aktionen zum Thema „Zusammenleben in Vielfalt“ ein. Das Thema lag vielen am Herzen. Zum Workshop kamen Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen, von der Nachbarschaftsinitiative bis zum Staatstheater. Im offenen Austausch über zwei weitere Workshops hinweg wurden aus Ideen realisierbare Konzepte und aus ersten Begegnungen Kooperationen für gemeinsame Veranstaltungen. Die Kampagne startete mit einer Aktionswoche nach Guerilla-Art und erreichte mit an die fünfzig kleinen und großen Veranstaltungen eine breite öffentliche Anteilnahme. Was wir in den Tagen oft hörten: „Toll, dass Ihr von der Verwaltung so nahbar und so engagierte Partner*innen seid!“ Und: „Bitte mehr davon!“
Aktion gegen die Corona-Belastungen.
Auch INSIEME und die Lebensmittelausgabe kamen so zustande: Verabredung in kleiner Runde – Aufruf – offener Austausch mit Interessierten – Verabredung zum gemeinsamen Tun – empathische Dokumentation – Feier (wegen Corona vorerst nur im kleinen Kreis). Und die nächste INSIEME-Unternehmung: Die Aktionswoche „Auf der Suche nach dem Glück“, während der mit kreativen Mitteln Anlässe zum Schmunzeln und Mut machende Impulse in den öffentlichen Raum gebracht wurden, um den Belastungen durch Corona etwas entgegen zu setzen. Und eine Aktionswoche mit Informationen zu Corona und zur Impfung vor allem für Migrant*innen. Jedes Mal kamen neue Partner*innen hinzu, waren frühere Partner*innen wieder dabei, gingen anschließend alle mit dem gleichen Gefühl auseinander, nicht alleine zu stehen und einen sinnvollen Beitrag geleistet zu haben.
Seit der Coronakrise wird wieder häufiger von Resilienz gesprochen und geschrieben. Das Deutsche Institut für Urbanistik hat schon 2013 darauf hingewiesen, dass eine resiliente, eine robuste und anpassungsfähige Gesellschaft sich neben anderem dadurch auszeichnet, dass es lebendige zivilgesellschaftliche und Sektoren (Staat – Wirtschaft – Zivilgesellschaft) übergreifende Netzwerke gibt und dass es vielen Menschen in der Gesellschaft naheliegt zu kooperieren. Na denn: Lasst uns zusammen daran arbeiten!
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Text: Frank Schmitz, Sozialplaner bei der Landeshauptstadt Saarbrücken.
Bild: Simon Palzer, INSIEME.