Mit konstruktivistischen Theorien ist man in der Theologie vorsichtig. Theologische Kategorien als Konstrukte zu verstehen, scheint einer Entwertung gleichzukommen, beobachtet und kommentiert Jonas Maria Hoff.
Diese Nähe zur Entwertung zeigt sich etwa, wenn Michael Seewald im Interview anmerkt: „Die Argumente gegen die Frauenordination wirken auf mich konstruiert und wenig überzeugend.“ Oder wenn Marie-Theres Wacker in derselben Streitfrage nachlegt: „Die Kirche konstruiert sich ihre Argumente. Es gibt ein ‚Problem‘ und dann wird nach Argumenten gesucht.“ In beiden Fällen dient der Konstruktionsbegriff der Disqualifikation einer Gegenposition. Diese muss auf konstruierte Argumente zurückgreifen, weil ihr offenbar keine natürlichen oder realen Gründe mehr zu Verfügung stehen. Der Soziologe Bruno Latour hat die Konfiguration eines solchen Gegensatzes auch in seinem kollegialen Umfeld beobachtet:
Konstruiert ist nicht wahr.
„Zu sagen, daß etwas ‚konstruiert‘ war, klang in ihren Ohren wie, daß es nicht wahr sei. Sie schienen von der befremdlichen Idee auszugehen, daß man sich einer sonderbaren Entscheidung zu unterwerfen hatte: Entweder war etwas wirklich und nicht konstruiert, oder es war konstruiert und artifiziell, erfunden und ausgeheckt, hergestellt und falsch.“1
Auch in theologischen Diskursen finden sich Spuren eines solchen Verständnisses. Eine ausformulierte Konstruktivismus-Kritik ist damit freilich noch nicht verbunden, im Gegenteil: zumeist bleiben die Vorbehalte diffus. Dass die Theologie von der Rezeption konstruktivistischer Theorien profitieren könnte, wurde dabei längst in verschiedenen Teildisziplinen und Anwendungsfeldern gezeigt. Unter den Schlagworten „Systemische Seelsorge“ und „Konstruktivistische Religionsdidaktik“ werden besonders in der Praktischen Theologie seit geraumer Zeit konstruktivistisch-theologische Konzepte entwickelt. Berücksichtigt wird dabei ein weites Spektrum unterschiedlicher konstruktivistischer Spielarten vom Neurokonstruktivismus, über den Erlanger Konstruktivismus bis hin zum operationalen Konstruktivismus der Systemtheorie.
Insofern sie alle von Konstruktionsprozessen ausgehen, sind sie auch mit dem von Latour markierten Vorbehalt (wirklich vs. konstruiert) konfrontiert. Besonders aber gilt dies für den radikalen Konstruktivismus. Schon der Name stellt eine Theorie in Aussicht, die alles zum bloßen Konstrukt erklärt und damit jeden Verbindlichkeitsanspruch unterläuft.
Unmöglich: eine beobachtungsunabhängige Erkennbarkeit der Welt?
Und in der Tat geht der radikale Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Konstruktivismus-Variante davon aus, dass Erkenntnis und Wahrnehmung als Konstruktionen eines jeweiligen erkennenden Systems verstanden werden müssen. Das bedeutet, dass Erkenntnis nicht mehr als ein Abbildungsprozess verstanden wird, innerhalb dessen einer externen Realität Informationen abgerungen werden. Radikalkonstruktivistisch wird die Möglichkeit einer beobachtungsunabhängigen Erkennbarkeit der Welt vielmehr bestritten. Zwischen System und Umwelt bestünde eine Schranke, von der zumindest in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht gesagt werden könnte, ob sie sich überschreiten lässt oder nicht.
Das erkennende System wird als „operational geschlossen“ konzipiert, weil es keinen Zugriff auf die Realität hat, der – als Zugriff – nicht wieder an die Tätigkeit und Perspektive des Systems gebunden wäre. Der radikale Konstruktivismus postuliert damit keinen Solipsismus, er negiert also nicht einfach die Existenz einer externen Realität. Er weist lediglich darauf hin, dass jeder Zugriff auf diese Realität perspektivisch-konstruktional eingehegt bleibt.
In der theologischen Rezeption wurde zurecht angemerkt, dass sich ein solches Konzept auch auf den Status der Gottesrede auswirkt. Für Paul-Gerhard Klumbies ist dies Motivation genug, den radikalen Konstruktivismus abzulehnen: „Gott als menschliches Erzeugnis zu betrachten, wäre die Selbstauflösung der Theologie als derjenigen Wissenschaft, die von Gott handelt, wie er sich im Glauben zeigt.“2
Mit seinen Zweifeln aktualisiert Klumbies gewissermaßen Latours Unterscheidung: Wenn Gott zum Konstrukt wird, kann er nicht mehr wirklich sein; wenn Gott aber nicht mehr wirklich ist, dann büßt die Theologie zwangsläufig ihre Berechtigung ein, weil dann als erwiesen gilt, was sich mit Feuerbach immer schon vermuten ließ. Dabei ist es auch konstruktivistisch ratsam, zwischen Projektion und Konstruktion zu unterschieden. Während bei Ersterer eine Festlegung hinsichtlich des ontologischen Status’ vorgenommen wird (also: Gott existiert nicht), ist dies bei Letzterer nicht der Fall. Der radikale Konstruktivismus bleibt deshalb ontologisch neutral. Er enthält sich in der Frage nach einer realen Entsprechung von Konstrukten.
Gott wird nicht zum Konstrukt.
Dennoch hat die Sorge vor einer Selbstauflösung der Theologie wohl dazu geführt, dass statt eines radikalen zumeist nur ein gemäßigter Konstruktivismus rezipiert wurde. Religionspädagogisch kann man diesen dann etwa auf die Planung und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen anwenden, zugleich aber von den theologischen Inhalten abschirmen. Kinder und Jugendliche konstruieren dann zwar fleißig im Religionsunterricht, Gott selbst aber wird nicht zum Konstrukt. Dass die Vorbehalte gegenüber dem radikalen Konstruktivismus übersteuern, wurde in der religionspädagogischen Diskussion vor allem von Norbert Brieden und Annette Scheible deutlich gemacht.3 Wie einige weitere theologische Autor:innen zeigen beide Vorzüge einer theologischen Arbeit mit dem radikalen Konstruktivismus auf. Die vom radikalkonstruktivistischen Denken ausgehende Relativierung wird dabei als Potential verstanden, um bspw. die Stellung der Theologie als Wissenschaft neu zu behaupten, wie Peter Lampe darlegt:
„Alle tappen im Dunkeln, weil sich keinem Menschen ein direkter Zugang zur ontischen Realität öffnet. Das bedeutet, dass auch der gemeinhin angenommene Statusunterschied zwischen naturwissenschaftlichem Wissen und theologisch formuliertem Wissen nicht auf der ontologischen Ebene zu suchen ist. Auch naturwissenschaftliche Erkenntnis bezieht sich auf konstruierte Realität, von der nur naive Realisten annehmen, diese bilde die ontische Realität ab.“4 Dem radikalkonstruktivistischen Denken werden somit „apologetische Dienste“5 zugeschrieben.
Das vielleicht wichtigste Motiv für eine theologische Beschäftigung mit diesem Denken besteht aber wohl darin, dass es einen veränderten Umgang mit Paradoxien ermöglicht. Theologiegeschichtlich ist die Einsicht in die paradoxale Grundstruktur des christlichen Glaubens besonders mit Kierkegaard und de Lubac verbunden. Sie machen darauf aufmerksam, dass das Christentum zahlreiche Denkfiguren beansprucht, die an die Grenzen des Verstehbaren führen. Das Zusammenspiel von Transzendenz und Immanenz strapaziert die Möglichkeiten linear-kausaler Logik. Nach Einschätzung Bernhard Fresachers bedürfe es deshalb einer „Theorie, die dem Paradoxen gewachsen ist und Zirkularitäten verträgt.“6 Der radikale Konstruktivismus leistet genau dies. Sein spezifisches Interesse an zirkulären Operationen resultiert aus seiner erkenntnistheoretischen Ausgangsposition.
‚Das ist so‘ ist nicht mehr.
Wenn Erkenntnis und Wahrnehmung immer an die Tätigkeit eines einzelnen erkennenden Systems gebunden bleiben, führen auch Aussagen über die Umwelt dieses Systems unweigerlich zum System selbst zurück. Von dieser Weichenstellung aus interessieren sich radikale Konstruktivist:innen insgesamt für Prozesse, die sich selbst in Anspruch nehmen: ob im Nachdenken über das Denken, im Sprechen über Sprache oder in der theoriebasierten Theoriedebatte. Die Linearität logischer Ableitungsverfahren wird so infrage gestellt und ein Raum für Paradoxien eröffnet. Im radikalkonstruktivistischen Verständnis basieren diese nämlich zumeist auf Selbstreferentialität, wie gerne an der sog. Lügner-Antinomie verdeutlicht wird. Die Aussage Dieser Satz ist falsch wird in dieser Lesart zur Paradoxie, weil ihr propositionaler Gehalt unweigerlich mit dem konkreten Sprechakt konfligiert. Der Wahrheitswert dieser Aussage lässt sich so nicht mehr klar bestimmen, er pendelt zwischen wahr und falsch.
Für die Theologie ist dieses theoretische Angebot interessant, weil es einen produktiven Zugriff auf Paradoxien jenseits des Zwangs zur logischen Auflösung erlaubt. Das Angebot bleibt aber an seine theoretische Begründung geknüpft, zu der maßgeblich die Kritik von Unterscheidungen wie derjenigen zwischen konstruiert und wirklich gehört. Daraus folgt für die Theologie die Anforderung, sich der eigenen Konstruktionalität zu stellen und Abschied von ontologischen Diskurskillern zu nehmen. Es genügt – wie Erzpriester Radu Constantin Miron auf dem Synodalen Weg angemerkt hat – schlichtweg nicht mehr, Debatten mit den Worten „Das ist so“ zu beenden.
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Text: Dr. Jonas Maria Hoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fundamentaltheologischen Seminar der Universität Bonn. Seine Dissertation zur fundamentaltheologischen Relevanz des radikalen Konstruktivismus erscheint voraussichtlich im April 2022 im Transcript-Verlag.
Bild: pixabay
- B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2007. 155. ↩
- P.-G. Klumbies, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht? Eine theologische Rückmeldung zu Konstruktivismus und Neuem Realismus. In: Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative. Hg. v. E. Felder / A. Gardt. Berlin / Boston 2018. 146-161, hier: 146. ↩
- Vgl. N. Brieden, Radikal heißt nicht beliebig. Der Konstruktivismus im Streit um die Wahrheit. In: Lernen mit der Bibel. Hg. v. G. Büttner / H. Mendl / O. Reis / H. Roose. Hannover 2010. 165-179; A. Scheible, Der Radikale Konstruktivismus. Die Entstehung einer Denkströmung und ihre Anschlussfähigkeit an die Religionspädagogik. Berlin 2015. ↩
- P. Lampe, Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie. Neukirchen-Vluyn 2006. S. 94. ↩
- Ebd. 99. ↩
- B. Fresacher, Kommunikation. Verheißungen und Grenzen eines theologischen Leitbegriffs. Freiburg i. Br. 2006. 143. ↩