„Fange nie an aufzuhören, höre nie auf anzufangen.“ Das Zitat Marcus Tullius Cicero ist der Abiturspruch von Sr. Katharina Ganz und taugt ihrer Ansicht nach als Motto für ihr Leben. Sie erzählt ihre unterfränkisch kirchliche (Bildungs-)Geschichte, die sie zur Ordensfrau hat werden lassen.
Manchmal bezeichne ich mich als Franziskanerin mit benediktinischen Wurzeln. Aufgewachsen in Willanzheim im Landkreis Kitzingen stamme ich – wie man heute sagen würde – aus einem eher bildungsfernen Milieu. Meine Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft, mein Vater war Viehhändler, meine Mutter kümmerte sich um uns vier Geschwister, versorgte den Haushalt und übernahm die Schreibarbeiten im elterlichen Betrieb. Die einzigen Bücher, die es zu Hause gab, waren die Bibel, das Gotteslob sowie einige Heimatromane und Kochbücher. Es wurde nicht so viel geredet, sondern gearbeitet. Die Jahreszeiten gaben den Rhythmus vor in der Landwirtschaft, der Rest des Lebens orientierte sich am Kirchenjahr, erst recht, da unsere Familie seit Generationen den Mesnerdienst versah.
Erzählerin und Zuhörerin – Großtante Sr. Juliana Ganz.
Eine Hoch-Zeit waren die zwei Wochen in den Sommermonaten, wenn meine Großtante Sr. Juliana Ganz in ihrem Heimaturlaub zu Besuch kam. Sie gehörte zu den Benediktinerinnen der Anbetung im niederbayerischen Neustift bei Vilshofen und lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Davos in der Schweiz, wo sie erst Lungenkranke pflegte und später in einem Haus für erholungsbedürftige Menschen wirkte. Sr. Juliana war eine begnadete Erzählerin und Zuhörerin zugleich. In ihrem Urlaub brachte sie die ganze Familie zusammen. Nicht nur das Sonntagsgeschirr wurde dann ausgepackt, sondern auch viele alte und neue Geschichten. Und die Großtante interessierte sich für alles und jedes, nahm gleichermaßen lebhaft Anteil an den Freuden und Sorgen der Erwachsenen wie der Kinder.
Als pubertierende und kritische junge Studentin erlebte ich sie als weise Frau, die keine Auseinandersetzung scheute, sich meinen Fragen stellte ohne mit ihren eigenen Einsichten hinter dem Berg zu halten. So abweichend unsere Meinungen bisweilen waren, so sehr vermittelte sie mir durch ihr ganzes Wesen, dass es einen gemeinsamen Boden gab, der uns zusammenhielt: eine gegenseitige Liebe und Zusammengehörigkeit sowie die unbedingte Gewissheit, dass wir in Gott geborgen und gleichermaßen angenommen sind. Und selbstverständlich machte sie dies auch geltend für die Menschen, die theologisch andere Positionen als ich bezogen sowie für die kirchliche Hierarchie, deren Existenzberechtigung ich wegen des anhaltenden Patriarchats und Klerikalismus schon damals stark hinterfragte.
Glücksfall: das Egbert-Gymnasium der Abtei Münsterschwarzach.
Neben Sr. Juliana als Großtante zu haben, war es ein Glücksfall für mich, dass ich das Egbert-Gymnasium der Abtei Münsterschwarzach besuchen durfte. Ich wurde dort als eigenständige Schülerin wahr- und ernstgenommen. Das christliche Menschenbild des damals humanistisch-neusprachlich ausgerichteten Gymnasiums wurde uns nicht mit Hilfe von Leitbildsätzen vor Augen geführt; auch das in den 1980er Jahren eingeführte Schulkonzept, das auf einer ganzheitlichen Pädagogik beruhte, war uns nicht bekannt. Viel wichtiger war ohnehin: Es wurde gelebt. In den neun Jahren meiner Schulzeit existierte noch so etwas wie eine Schulfamilie, ein Gefühl zusammen zu gehören und gemeinsam an großen Projekten zu arbeiten sei es nun im Theater, Chor, Orchester, beim Sport, durch jahresthematische Schwerpunktsetzungen oder anlässlich von Jubiläen der Abtei. Talente und Fähigkeiten der Einzelnen wurden gefördert, Schwierigkeiten nicht so sehr problematisiert, sondern inkludiert; bei verfahrenen Situationen nach individuellen Lösungen gesucht. Divergenzen wurden nicht autoritär in eine Richtung aufgelöst, sondern diskursiv ausgehalten.
Wanderungen auf den Spuren von Heiligen.
Ein besonderes schulpastorales Highlight waren für mich die jährlich stattfindenden Wanderungen auf den Spuren eines oder einer Heiligen. Jahrgangsübergreifend erkundete ich in den Pfingstferien mit rund zwei Dutzend Schüler*innen von der 9. bis 13. Klasse zu Fuß die Gegend von Vézelay in Burgund, das ungarische Pannonhalma, die Stätten am spanischen Jakobsweg, den norwegischen Olavsweg oder die Heimat der irischen Wandermönche. Wir erlebten Gemeinschaft, auch in der Feier von Liturgie und Eucharistie, zwanglosen Austausch mit Lehrkräften beim Wandern oder beim Lagerfeuer. Wir lernten Rücksicht zu nehmen, profitierten von der Kreativität und den Kochkünsten der einen, die mit wenig Mitteln improvisieren konnten; dem Humor der anderen, die körperliche Grenzen erträglicher machten; der Musikalität wieder anderer, die Kirchenräumen mit ihrer bloßen Stimme oder Gitarre ihre mystische Dimension entlockten. Und wir wuchsen durch die theologische Intellektualität und spirituelle Tiefe der Mönche und Religionslehrer, die uns durch ihre Anschauungen halfen, die eigene Persönlichkeit zu bilden und wichtige Entscheidungen in der Wahl des Studiums sowie Weichenstellungen für die spätere berufliche Laufbahn zu treffen.
Mir ist natürlich bewusst, dass meine Wahrnehmung und mein Rückblick subjektiv und lückenhaft sind. Bei Klassentreffen und Schulfesten ist mir längst klar geworden, dass es auch andere Narrative gibt, die genauso berechtigt sind wie meine eigenen, weil sie Erfahrungen von Klassenkamerad*innen widerspiegeln, die mir – Gott sei Dank – erspart geblieben sind. Was mir Raum für Entfaltung bot, etwa die Oberstufengottesdienste oder die verpflichtende Teilnahme an den Konventsgottesdiensten bei wichtigen Festen der Abtei, erschien freilich anderen damals schon als Zwangsmaßnahme, denen sie sich innerlich und/ oder äußerlich widersetzten.
Kein einfaches Richtig oder Falsch!
Das wesentliche Verständnis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Quellen der Offenbarung und unseres christlichen Glaubens wurde bei mir im Religions-Leistungskurs gelegt. Zwei Jahre lang finanzierte die Abtei damals unter Abt Fidelis Ruppert aus eigener Tasche den Lehrer, damit wir zu fünft sechs Wochenstunden katholische Religionslehre belegen konnten. Für die Refinanzierung durch den Staat hätten wir zu siebt sein müssen.
Wir fünf, das waren neben mir und einer Freundin, die sich ebenfalls in der pfarrlichen Jugendarbeit engagierte, ein Agnostiker, der eher an philosophischen Debatten interessiert war, und David Berger, schon damals Spezialist für Thomas von Aquin. Zu der Zeit wollte er noch Priester werden, bevor er nach dem Abitur den Mann für‘s Leben traf. Dennoch machte er noch Karriere in rechtskonservativen katholischen Kreisen und im Vatikan, bis er sich öffentlich als schwul outete.1 Die fünfte Schülerin hat sich eher im Hintergrund gehalten. Als dermaßen heterogene Gruppe mit ihren widersprüchlichen und teilweise unvereinbaren Ansichten haben wir unseren Lehrer m.E. heillos überfordert. Gleichzeitig lernten wir diskursiv und multiperspektivisch an Texte und Glaubenswahrheiten heranzugehen. Es gab kein eindeutiges Richtig oder Falsch, sondern die Suche nach dem besseren Argument und nach der tieferen Überzeugungskraft.
Synodaler Weg als Scheideweg.
Die katholische Kirche steht an einem Scheideweg. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten werden weltweit massenweise Fälle sexualisierter Gewalt, Machtmissbrauch und Gewissensmissbrauch durch Geistliche an Schutzbefohlenen, Kindern, Jugendlichen und auch (Ordens-)Frauen aufgedeckt. Dadurch ist die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Hierarchie ins Wanken geraten. Ja noch mehr: Die Plausibilität des christlichen Glaubens steht insgesamt auf dem Spiel. Meine Gemeinschaft und die meisten Orden und Kongregationen der nördlichen Hemisphäre sind am Sterben. Wir sind mit Abgeben, Loslassen, Schließen und uns Verabschieden beschäftigt. Gleichzeitig gibt es ein waches Interesse an der Spiritualität, den Werten und dem Sendungsauftrag der Klöster. Mitarbeitende tragen hoch engagiert weiter, was Schwestern, Mönche und Brüder, Nonnen und Schwestern begonnen und aufgebaut haben. Das innerkirchliche Lebensgefühl lässt sich mit einigen Sätzen des französischen Philosophen und Kulturwissenschaftlers Michel de Certeau SJ (1925-1986) beschreiben:
„Erfahrung von Zerbrechlichkeit… Heute wird sie kollektiv, so als der gesamte Körper der Kirche – und nicht nur einige wenige, von der mystischen Erfahrung Getroffene – leben müsste, was das Christentum von jeher verkündigt hat: Jesus Christus ist tot. Dieser Tod ist nicht mehr nur das Thema der Botschaft von Jesus, sondern die Erfahrung der Boten. Die Kirchen, und nicht mehr nur der Jesus, von dem sie sprechen, scheinen durch das Gesetz der Geschichte zu diesem Tod verurteilt zu sein. Es gilt zu akzeptieren, dass man schwach ist, die lächerlichen und heuchlerischen Masken einer kirchlichen Macht, die es nicht mehr gibt, abzuwerfen und der Selbstzufriedenheit ebenso eine Absage zu erteilen wie der ‚Versuchung, Gutes zu tun‘.“2
Am Scheideweg steht die Kirche in der Herabwürdigung von Frauen im Besonderen. Die Dogmatikerin Johanna Rahner bringt es so auf den Punkt: „Die Problematik der Beteiligungsgerechtigkeit für Frauen in der Kirche ist keine Geschmacks-, Meinungs- oder Gesinnungsfrage, sondern es ist eine Frage der theologischen Wahrhaftigkeit. Kurz: Die Frauenfrage steht im Zentrum der Frage nach der Zukunft der Kirche.“3 Durch das Festhalten an einer Geschlechteranthropologie, in der soziale Attribute unabänderlich mit dem biologischen Geschlecht verknüpft sind, werden v. a. Frauen auf bestimmte Rollen und Plätze festgelegt. Es wird ihnen verwehrt, ihre von Gott geschenkten Berufungen und Gaben, Kompetenzen und Autorität in voller Weise in das kirchliche Leben einzubringen. Rechtskonservative Kreise sehen in diesem Beharren auf vorgegebene Geschlechterrollen keine Diskriminierung, sondern eine von Gott gegebene Ordnung, die es zu verteidigen gilt. Im Festhalten an der Sakralisierung und Überhöhung der Weiheämter verweigert sich eine Minderheit – auch im synodalen Weg – der kritischen Reflexion auf systemische und strukturelle Gründe für die aufgedeckten Missstände und Verbrechen sowie deren Vertuschung.
Kirche ist ihrem eigenen Anspruch gemäß „in Christus gleichsam das Sakrament … für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (LG 1). Als Zeichen und Werkzeug will sie in Wort und Tat das Heil sichtbar machen, das Jesus Christus in seiner Menschwerdung, seinem Leben, Sterben und seiner Auferstehung gebracht hat. Die gegenwärtigen synodalen Prozesse verschiedener Ortskirchen und der weltweiten Kirche können eine Chance sein, sich diesem Anspruch zu nähern. Voraussetzung ist, dass es zu einem echten Hören und Zuhören kommt. Das Hören ist eine Grundbedingung jeder Kommunikation und im Übrigen jeder Gottesbegegnung und Form von Nachfolge.
Das „Schma, Jisrael“ (Dtn 6,4-9), „Höre, Israel!“ gilt im Judentum als Kurzformel des Glaubensbekenntnisses. Die Benediktsregel beginnt mit ebendiesen Worten: „Höre, mein Sohn, und neige Dein Ohr!“ Synodalität kann also nur gelingen, wenn es eine Bereitschaft zum Hören gibt. Hören auf das Wort Gottes, auf die Glaubenslehre und kirchliche Tradition ebenso wie auf die Zeichen der Zeit und den Glaubenssinn des Volkes Gottes. Das Hören steht vor jedem freimütigen Austausch auf Augenhöhe, jeder Form von Dialog und der Suche nach gemeinsamen Entscheidungen.
„Das Problem ist nicht, dass man nicht weiß, ob es möglich sein wird, das Unternehmen ‚Kirche‘ nach den für jede Restaurierung und Sanierung geltenden Regeln wiederherzustellen. Die einzige Frage, die gilt, lautet: Werden sich Christen finden, die jene von Gebet, Unruhe und Verehrung erfüllten Anfänge noch einmal suchen wollen? Wenn es Menschen gibt, die noch immer in diese Glaubenserfahrung eintreten wollen, die in ihr eine Notwendigkeit für sich erkennen, dann wird es ihre Sache sein, ihre Kirche auf ihren Glauben einzustimmen, in ihr nicht mehr soziale, politische oder ethische Modelle zu suchen, sondern gläubige Erfahrung und deren gegenseitige Mitteilung, ohne die es keine Gemeinschaft und damit auch keine christliche Itineranz mehr gäbe.“4 (Michel de Certeau)
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Text: Sr. Dr. Katharina Ganz, Generaloberin der Kongregation der „Dienerinnen der hl. Kindheit Jesu“, im Volksmund „Oberzeller Franziskanerinnen“. Dieser Beitrag ist der gekürzte Vortrag, den die Autorin bei der Jahrestagung der Vereinigung katholischer Schulen in Ordenstradition Ordensdirektorenvereinigung (ODIV) am 10. November 2021 im Exerzitienhaus Himmelspforten (Würzburg) gehalten hat.
Bild: Ludwig Lechler, Blick auf die Kirche St. Michael im Kloster Oberzell bei Würzburg.
- Vgl. Berger, David: Der heilige Schein: Als schwuler Theologe in der katholischen Kirche, Berlin 2012. ↩
- Certeau, Michel de: GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009, 249; zitiert nach: Eckholt, Margit: „Der Gast eines Anderen werden“ (Michel de Certeau). Spuren österlicher Lebenskultur in der Zerbrechlichkeit der Welt, in: Ordenskorrespondenz (OK) 2016, 435-448. ↩
- Rahner, Johanna: Frauen in kirchlichen Leitungsämtern – Gegenwart und Zukunft, (Vortragsmanuskript) 2020, 7. ↩
- Certeau, Michel de: GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009, 249. ↩