Das Schiff „Kirche“ wird so wohl noch eine Weile so weiterfahren. Doch: Was dann? Emilia Handke und Lucius Kratzert diagnostizieren zahlreiche Lecks und führen uns die Dringlichtkeit einer sorgfältigen und ehrlichen Bestandsaufnahme und Reparatur vor Augen.
Wir wissen es doch eigentlich alle: Wenn unser Schiff – dieses zeitbedingte und aus der Zeit fallende Konstrukt einer halbstaatlichen Kirche mit ihrer öffentlich-rechtlichen Verfasstheit – so weiterfährt, dann wird es unweigerlich sinken. Da können wir noch so viel Wasser schöpfen; da können wir weiter versuchen, die vielen kleinen Lecks zu stopfen – es wird uns nichts nützen.
die vielen kleinen Lecks stopfen
Seit einigen Jahren sind wir hauptamtlich engagiert in dieser Kirche und erleben: Viele Menschen finden die Arbeit gut, die unsere Kolleg:innen und wir machen. Sie schätzen die diakonischen Angebote bei Hospizen, in Altenheimen, in KiTas und in Krankenhäusern. Sie kommen gerne zu einem Konzert des Weihnachtsoratoriums. Sie sind dankbar für kirchliche Gottesdienste nach einer Katastrophe und für den Zuspruch bei einer Beerdigung. Das alles heißt aber noch lange nicht, dass sie auch bereit sind, sich über die Taufe in die Institution Kirche einzuklinken oder unsere Arbeit über die Zahlung einer Kirchensteuer zu finanzieren.
Kirchenaustritte bei den Religiösen
Und so erleben wir es auch in unserem direkten Umfeld: Freund:innen und Bekannte treten aus der Kirche aus, obwohl sie uns kennen, obwohl sie uns und unsere Arbeit schätzen, obwohl sie sogar religiös musikalisch sind. Das frustriert – uns, die wir quartalsweise die Kirchenaustrittsmeldungen auf den Schreibtisch bekommen; unsere Ehrenamtlichen, die sich immer mehr rechtfertigen müssen, warum sie sich in diesem „Verein“ engagieren; sicher auch unsere Kirchenleitungen, die um die Mitgliederentwicklungen noch viel besser Bescheid wissen.
Ehrenamtliche müssen sich immer mehr rechtfertigen, warum sie sich in diesem „Verein“ engagieren.
Wir fühlen uns wie Matros:innen auf einem lecken Schiff. Wir gehen durch den Rumpf des Schiffes und sehen die Löcher in der Schiffswand. Es sind viele kleine Löcher und doch hängen die meisten irgendwie miteinander zusammen. Es sind viele, zu viele Lecks und wir sind viel zu wenige für diese Situation ausgebildeten Matros:innen an Bord – viel zu wenige, die die Krise als produktiven Zustand annehmen können, anstelle noch weiter Wasser aus dem Schiffsbauch zu schöpfen und einzelne Löcher zu stopfen. Und so bleibt uns nur das kleine Glück der Fahrt, das in den einzelnen Momenten auf See liegt: einem für den ganzen Ort gestalteten Ewigkeitssonntag, einem gemeinsamen Gebet, einem Weihnachtsgottesdienst oder einer Sterbebegleitung. Aber um diese Momente herum wackelt es gehörig. Deshalb schreiben wir diesen Logbucheintrag.
wie Matros:innen auf einem lecken Schiff
Einerseits sehen wir, wie der Treibstoff aus dem Tank tropft und die Kirchensteuer als wichtigste Einnahmequelle der Kirche für viele Menschen immer unplausibler wird. Natürlich, wer 15.000 Euro Kirchensteuer zahlt, hat ein Einkommen, bei dem das nicht so sehr auffällt. Aber wer 15.000 Euro Kirchensteuer zahlt, könnte mit diesem Geld eben auch anderes machen. Wenn dann diese Zahl in der Lohnsteuer steht, hilft keine Erklärung mehr. Dass die Kirchensteuer vom zu versteuernden Einkommen abgezogen wird. Dass sie sich prozentual zum Einkommen verhält. Dass das Geld auch der Diakonie usw. zugute kommt. Die Gutwilligen sagen, dass sie dann eben direkt der Gemeinde oder der diakonischen Einrichtung spenden. Die Indifferenten kümmern sich nicht weiter und spenden nicht. Die Schnuppermitgliedschaften, über die mitunter nachgedacht wird, führen uns dabei nicht weiter – und scheinen uns auch eher aus unserer Binnenperspektive als aus der Perspektive der Leute gedacht zu sein.
Was theologisch durchaus richtig ist, führt uns jedoch in ein organisationales Dilemma.
Natürlich sind wir auch Kirche für die Menschen, die nicht Mitglied der Kirche sind. In der Diakonie und Seelsorge ist das längst der Fall und glücklicherweise verändert sich die Diskussion um die Kasualpraxis seit einigen Jahren in Richtung einer Öffnung auch für Nicht-Kirchenmitglieder. Was theologisch durchaus richtig ist, führt uns jedoch in ein organisationales Dilemma. Denken wir an den Landwirt aus Dithmarschen. Wenn er erfährt, dass der aus der Kirche ausgetretene Nachbar auf Bitten der Angehörigen auch kirchlich beerdigt wird, fragt er sich doch, warum er für seine spätere kirchliche Beerdigung Kirchenmitglied bleiben muss. Warum sollte er zahlen, wenn man an allen Angeboten der Kirche faktisch auch ohne Kirchensteuer teilnehmen kann? Dass sich Kirchengemeinden Kasualien von Nicht-Kirchenmitgliedern als Dienstleistungen bezahlen lassen, gilt immer noch als No-Go. Wie sollen wir also mit diesem Dilemma umgehen? Zugespitzt gesagt konterkariert eine Öffnung der Kasualpraxis im Grunde das Mitgliedschaftssystem. Machen wir die Regeln jedoch enger, wäre das bittere Ergebnis wohl, dass viele Ausgetretene entweder kurz vor Taufe, Trauung oder Bestattung wieder eintreten, um anschließend eben wieder auszutreten oder unsere Angebote eben gar nicht mehr wahrnehmen, sondern sich auf dem freien Markt umtun.
Wir wissen, dass unser diakonisches Engagement große Sympathien und Bindekräfte schafft. Eltern bringen ihre Kinder gerne in eine evangelische Kita, selbst wenn sie nicht Mitglieder der Kirche sind. Kirchliche Altenheime sind ebenso bei Nichtkirchenmitgliedern beliebt. Aber in den meisten diakonischen Arbeitsfeldern ist es so, dass die öffentlichen Geldgeber einen kirchlichen Eigenanteil verlangen, von dem die öffentliche Förderung abhängt. Wenn wir in Zukunft weniger Geld zur Verfügung haben, weil die Kirchensteuereinnahmen sinken, laufen wir Gefahr, dass wir unseren Eigenanteil nicht mehr in gewohnter Weise erbringen können. Dann sinken aber auch die öffentlichen Zuschüsse. Engagieren wir uns aber nicht, verlieren wir ein wichtiges Argument für eine Kirchenmitgliedschaft. Wir sehen hier ein weiteres Dilemma. Dieses Dilemma verschärft sich dadurch, dass Kirchenmitglieder noch nicht einmal ein besonderes Anrecht darauf haben, diakonische Angebote wie einen KiTa-Platz oder die Betreuung durch die Sozialstation auch garantiert zu bekommen. Das ist für viele Leute schlichtweg nicht verständlich.
Menschen spüren, dass Gott – wenn es ihn gibt – ihre Kinder liebt, auch wenn diese nicht getauft sind.
Sollen wir ihnen da widersprechen?
Aber es gibt auch theologische Dilemmata. So ist es vielen Menschen nicht plausibel, warum die in der Taufe gestiftete Teilhabe am Leib Christi gebunden sein sollte an eine staatsrechtliche Form von Kirchenmitgliedschaft. Menschen spüren, dass Gott – wenn es ihn gibt – ihre Kinder liebt, auch wenn diese nicht getauft sind. Sollen wir ihnen da widersprechen?
Wir sind mit der Kirche in einer Situation, in der wir uns insbesondere bei den jüngeren Generationen auf keinerlei Selbstverständlichkeiten mehr berufen können. Jedes „Produkt“ unserer Arbeit muss sich auf dem Markt des Religiösen, der Kultur, der Lebensdeutung und der Daseinsfürsorge behaupten – nicht in unseren Augen, sondern in denen der Menschen. Dazu müssen wir uns ernsthaft fragen: In welche kirchlichen Formate können wir wirklich bedenkenlos einladen – auch Menschen, die nicht schon mit unserer „christlichen Binnensemantik“ großgeworden sind? Wie lange wollen wir noch jeden einzelnen Kirchgemeinderat über die Kasualrichtlinien vor Ort entscheiden lassen – und dabei riskieren, dass bestimmte Servicestandards (u.a. professionelle Kirchenmusik, Durchführung auch an Gottesorten außerhalb der Kirche) für Kirchenmitglieder nicht eingelöst werden? Es ist schwer, rationale – und vielleicht noch herausfordernder: emotionale – Argumente für eine Kirchenmitgliedschaft nach heutigem System zu liefern.
Das Schiff muss dringend in die Werft.
Was müsste geschehen? Wir können das Schiff nicht auf hoher See reparieren. Dazu muss es dringend in die Werft. Zukunftsprozesse bei voller Fahrt mit riesigen Gremien bringen uns nicht mehr weiter. Das haben uns die letzten 15 Jahre gezeigt. Das Schiff muss ganz ehrlich gemustert werden. Vielleicht muss es so umgebaut werden, dass es kleiner und wendiger wird. Vielleicht brauchen wir mehrere kleine Schiffe. Vielleicht sollten wir die verschiedenen Schiffsteile, die die evangelischen Kirchen in Deutschland gerade darstellen, mehr als ein großes Schiff verstehen. Vielleicht wäre es wichtig, jetzt die Umwandlung der Kirchensteuer in eine allgemeine Kultursteuer auszuloten – selbst wenn durch diese kurzfristig weniger Geld in unsere Kasse kommen sollte. Wenn die Kirchensteuereinnahmen ab 2030 aber erwartbarerweise deutlich sinken werden, wird uns eine Umstellung des Systems langfristig helfen, stabile Einnahmen zu haben. Vielleicht wäre es gut, die Finanzierung von Kirchenleistungen jenseits eines Steuerwesens, nämlich durch verbesserte wirtschaftliche Nutzung unserer Liegenschaften, durch effizienteres Wirtschaften in der Verwaltung oder ein intensiveres Fundraising verstärkt durchzudenken. Vielleicht wäre es richtig, über die Anstellungsformen unseres hauptamtlichen Personals und dessen Refinanzierung nachzudenken. Aber all das sollte möglichst bald geschehen.
Jetzt kommen Politiker:innen in Ämter, die nicht mehr automatisch auch Kirchenmitglieder sind.
Denn jetzt wird eine neue Bundesregierung gebildet. Jetzt kommt es vermutlich zu größeren und dauerhaften Verschiebungen in der Parteienlandschaft. Jetzt kommen Politiker:innen in Ämter, die nicht mehr automatisch auch Kirchenmitglieder sind. Dazu braucht es Mut auf der Seite der Kirchen. Nicht im Stopfen der Lecks, sondern im Blick auf einen Plan für die Reparatur des Schiffs – oder für den Umbau zu einem neuen Schiff. Die Ränge der Mannschaft dürfen dabei keine Rolle spielen. Und auch die Anzahl der Außenkabinen für das leitende Personal darf nicht über die Gestalt des Schiffs entscheiden. Dies wird kein großes Gremium mit vorgegebenen Mehrheiten leisten können, sondern eine kleine Expert:innenkommission, an der gegenwartssensible Staatskirchenrechtler:innen genauso beteiligt sind wie theologische Kreativdirektor:innen, die wissen, wie man Kirche im säkularen Kontext profilieren muss, damit sie überhaupt wahrgenommen wird als ernsthafte Option für das eigene Leben.
Natürlich wird das Schiff unserer heutigen Kirchenorganisation auch ohne diese Maßnahmen irgendwie noch weiterfahren. Jedenfalls so lange, wie die heutigen Akteur:innen noch an Bord sind. Aber irgendwann wird es diese Form von Kirche nicht mehr geben. Idealerweise gelingt es uns, unsere Kirche in der Werft zukunftsfähig umzubauen. Denn wie schade wäre es, wenn sie samt all ihrer Schätze sinken würde. Diese sind uns so wertvoll, dass wir sie in einer neuen zukunftsträchtigen Form von Kirche bewahren wollen. Darum lasst uns keine Zeit verschwenden mit dem Umbau.
Bild: unsplash.com, Danist Soh
Dr. Emilia Handke und Dr. Lucius Kratzert sind Pfarrer:innen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und der Evangelischen Landeskirche in Baden.
Weiterhin von Emilia Handke bei feinschwarz.net erschienen:
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