Mit der Arche Noah verbinden wir einen Holzkasten voller Tiere, die Sintflut und den Regenbogen. Aber was haben diese archaischen Bilder mit unserer Realität zu tun? Juliane Link beschäftigt sich mit einem Text, der tiefgründig ist, ausufert und mit dem wir am Ende doch Land sehen.
In den letzten Jahren fällt es mir schwer, mich auf den Advent einzulassen. Ich binde einen Kranz, backe Plätzchen und singe die alten Lieder, aber diese ehrfürchtige Stimmung, stellt sich nicht ein, mit der ich früher die Geburt des Heilands erwartete. Ich frage mich, woran es liegt. Vielleicht ist der Kontrast zwischen der Logik des Advent, in dem es mit eingeübter liturgischer Verlässlichkeit immer heller wird, bis die 4. Kerze brennt, und meiner eigenen Zukunftserwartung zu groß geworden. Während ich versuche, mich auf das Nahen des Retters auszurichten, frage ich mich, was in 20, 50 oder 100 Jahren sein wird, wenn sich nicht ganz schnell ganz viel ändert. Ob gerade Advent ist, oder nicht: Ich lebe mit dem unguten Gefühl, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Die Zukunft ist dunkel und die Geschichte vom großen Licht, das allen aufscheint, die in Finsternis wohnen, ziemlich weit weg.
Arche Noah als Antwort auf das Unbehagen.
Durch Zufall habe ich die Erzählung von Noah und der Arche wiederentdeckt, die mir vorkommt wie eine Antwort auf mein Unbehagen. Als Kind liebte ich die Bilder von den Tieren, die in einer langen Schlange anstehen, um in die Arche zu gelangen. Diese seltsame Zusammenkunft unterschiedlichster Tierarten, ihr friedliches, geordnetes Warten und die Faszination, die von dem großen Holzkasten ausging. Die Szene hatte nichts Bedrohliches und als der endlose Regen einsetzte, war sogar die kleine Schildkröte längst an Bord. Heute lese ich den Text mit dem Wissen, dass die Erderwärmung zum Abschmelzen der polaren Eiskappen führt und einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels zur Folge haben wird. Ich denke an das Hochwasser im Ahrtal im Juli, an die reißenden Wassermassen, zerstörten Häuser und überschwemmten Gebiete. Und die archaischen Bilder, die den Mythen der Vergangenheit entstammen, wirken plötzlich wie reale Szenarien einer aus den Fugen geratenen Zukunft.
Der Klimawandel ist eine Katastrophe ohne Ereignis.
Der Klimawandel ist eine globale Katastrophe, in die wir immer tiefer hineingeraten und die wir uns doch nur schwer vorstellen können. Die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn beschäftigt sich mit der Darstellung von Katastrophen in der Gegenwartskultur. Sie glaubt, dass wir deshalb so große Schwierigkeiten haben, den Klimawandel aufzuhalten, weil er „eine Katastrophe ohne Ereignis“1 ist. Die Katastrophe kommt nicht plötzlich und mit Wucht, sondern langsam und schleichend, es ereignen sich lokale Extremwetterereignisse, auf die wir kurz unsere Aufmerksamkeit richten und dann verblasst ihr Schrecken und nichts ändert sich tiefgreifend. Wir können das Ausmaß der Bedrohung nicht realisieren, weil es eben kein Ereignis gibt, das so verstörend ist wie eine Sintflut.
Die Sintflut im 1. Buch Mose lässt sich nicht schlüssig auf ein bestimmtes historisches Ereignis zurückführen, aber sie steht im Zusammenhang mit der Schöpfungsgeschichte, an die sie sich anschließt: Gott bereut, dass er den Menschen mit all seinen Schattenseiten geschaffen hat und will seine Schöpfung rückgängig machen. Nur um Noah tut es ihm leid. Er beauftragt ihn, einen Kasten aus Holz nach einem genauen Bauplan zu bauen: die Arche. Der hebräische Text, der die Arche mit dem Wort תֵּבָה tevāh bezeichnet, nutzt für Noahs Behausung dasselbe Wort wie für das Körbchen, in dem Mose ausgesetzt wurde. Und wie der Korb, in dem die Tochter des Pharao das Baby im Schilf des Nils findet, wird auch Noahs Arche zu einem Schutzraum, der auf dem Wasser treibt und den Insassen hilft, eine lebensbedrohliche Situation zu überstehen. תֵּבָה tevāh kann auch Mutterschoß heißen. Es symbolisiert einen Ort des Ursprungs, den Mutterleib, in dem jeder Mensch sein Leben beginnt, umhüllt von Fruchtwasser und Dunkelheit.
Was Noah zu einem adventlichen Menschen macht.
Noah baut seine Arche sehr schnell, denn Gott gibt ihm zu verstehen, dass nur wenig Zeit bleibt. Noah handelt, als es Zeit ist zu handeln. Er ist bereit, den geschrumpften Lebensraum mit anderen Lebewesen zu teilen, sich einzuschränken und auszuharren, bis ein neuer Anfang möglich ist. Ich stelle mir Noah als einen Menschen vor, der an seine Zukunft geglaubt hat, auch wenn er nicht wissen konnte, was kommt. Und das macht Noah für mich zu einem adventlichen Menschen: Er lebt in der Dunkelheit der mit Pech versiegelten Arche von der Hoffnung auf eine bessere Welt.
Als die Sintflut losbricht, steigen die Wasser 150 Tage lang an. Die ganze Erde wird überflutet. Die Flut ist viel mehr als ein großer Regen, sie ist der Einbruch des Chaoswassers in die geschaffene Welt. Zur Entstehungszeit des Textes ging man von einem Weltbild aus, in dem der Himmel ein festes Gewölbe war, das die Erde umspannte. Dieses feste Gewölbe hielt das Chaoswasser ab, das sich oberhalb des Himmels und unterhalb der Erde befand. Während der Sintflut öffnet Gott die Schleusen des Himmelsgewölbes und die Quellen der Erde und das Chaoswasser drängt von oben und unten in die geschaffene Welt und fließt an seinen Platz zurück. In dieser Logik wäre die Welt in ihren Anfangszustand des Chaos zurück gefallen, hätte Gott die Sache einfach weiterlaufen lassen. Aber dann ändert er seinen Plan: Da gedachte Gott des Noach sowie aller Tiere und allen Viehs, die bei ihm in der Arche waren, Gott ließ einen Wind über die Erde wehen und das Wasser sank.[3. 1. Mose 8, 1.]
Es hört auf zu regnen und langsam sinkt der Wasserspiegel, bis die Arche auf dem Berg Ararat aufsetzt. Vielleicht ist dies der Moment, dem Noah seinen Namen verdankt, denn der Name Noah heißt übersetzt „der, uns zum Aufatmen bringt.“ Noah öffnet das Fenster der Arche und lässt einen Raben hinausfliegen. Der Rabe ist ein Überlebenskünstler, ein Tier, das sich von Aas ernährt, er ist Noahs erster Versuch, wieder Zugang zu der Welt außerhalb der Arche zu finden. Nach dem schwarzen Vogel lässt Noah einen weißen Vogel fliegen: eine Taube. Die Taube war zur Entstehungszeit des Textes kein Friedenssymbol, sondern ein Symbol für die Liebe. Noah lässt etwas von seiner im Schutzraum der Arche bewahrten Liebe hinaus in die von der Sintflut verwüstete Welt. Er investiert in die Welt, er sendet seine Liebe aus, ohne zu wissen, was daraus wird.
Und er scheitert: die Taube findet keinen Halt und kehrt zu ihm zurück. Aber Noah bleibt beharrlich, er wartet eine Woche und versucht es wieder und da bringt die Taube ihm den Ölzweig, ein Sinnbild für Wohlstand und Kultur und der Beweis, dass im Tal die Wipfel der ersten Bäume aus dem Wasser ragen. Im kollektiven Gedächtnis ist das ein Höhepunkt der Geschichte, die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel. Aber Noah lässt die Taube nach sieben weiteren Tagen noch ein drittes Mal ausfliegen. Diesmal kommt sie nicht zu ihm zurück. Und erst das Ausbleiben der Taube ist für Noah das entscheidende Zeichen: die Erde ist wieder bewohnbar.
Was das Ausbleiben der Taube mit der Klimakatastrophe zu tun hat.
Während wir uns im Advent darauf ausrichten, dass uns die Liebe Gottes in Gestalt eines neugeborenen Kindes entgegenkommt, also darauf, dass etwas eintritt, ist es in Noahs Geschichte umgekehrt: das Zeichen dafür, dass gerade etwas Neues beginnt, ist die Tatsache, dass etwas ausbleibt, dass die Taube nicht zurückkehrt. So ist es auch mit der Klimakatastrophe: wir werden als Menschheit nur überleben, wenn wir uns darauf ausrichten, dass etwas ausbleibt. Und wir müssen dafür Liebgewonnenes und Vertrautes loslassen wie Noah, der die Taube wohl gerne bei sich behalten hätte. Aber dass die Taube ausbleibt, ist kein Verlust. Das Ausbleiben der Taube gibt Noah Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Taube ihren Platz gefunden hat und die Dinge in Ordnung kommen. In eine Ordnung, in der wir nicht alles haben, aber gemeinsam in Freiheit leben können.
Kaum hat Noah wieder Boden unter den Füßen, errichtet er einen Altar und opfert einen Teil der Tiere, die er gerettet hat. Er betritt die Erde nicht wie ein Eroberer, sondern wie ein Mensch, der weiß, wie unsicher alles ist. Er ist ein Versehrter, kein Triumphator. Sein Brandopfer stimmt Gott gnädig und er gibt ihm das Versprechen: „Nie mehr will ich wegen der Menschen die Erde verfluchen…“2
Die Welt ist gerettet und Gott verspricht, dass es von seiner Seite nie wieder eine solche Vernichtungsaktion geben wird. Aber was, wenn der Mensch seinen Lebensraum selbst zerstört? Darauf gibt der Text keine Antwort. Gewiss ist nur: Gott will die Erde nicht vernichtet wissen. Der Advent vergegenwärtigt uns das Entgegenkommen Gottes, aber er stellt auch die Frage danach, was wir erwarten, von Gott und von uns selbst. Noahs Geschichte macht mich aufmerksam auf die Bewegung, die von uns selbst ausgehen kann, während Gott auf uns zukommt: es geht auch um unsere Liebe, unseren Lebenswillen, unsere Bereitschaft zur Veränderung.
Mich inspiriert für meine nüchterne Adventszeit das Vorbild Noahs, der unter Strapazen eine Katastrophe überlebt und mit der Taube seine Liebe freilässt in eine Welt, von der er selbst nur hoffen kann, dass Leben dort auf Dauer möglich und Gott dort noch zu finden ist. Denn ob die Taube ihren dritten Ausflug überlebt hat, darüber gibt es keine Gewissheit. Es gibt nur die Hoffnung.
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Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: Marko Blazevic, unsplash