Das Entsetzen über den Krieg gegen die Ukraine verbindet sich bei vielen mit einem Schauder über seine vermeintlich religionspolitische Notwendigkeit. Regula M. Zwahlen schärft den Blick für solche Narrative.
Das Licht leuchtet in der Finsternis. Zur Zeit leuchtet es in ukrainischen Bunkern, Metrostationen, Kirchenkellern, wo sich die Menschen vor Bombenangriffen schützen, wie auch in zunehmend überfüllten russischen und belarusischen Gefängnissen und Straflagern. Es ist das Licht gesellschaftlicher Aufbrüche in Russland seit 2011, in der Ukraine 2014 und in Belarus 2020, das die Lügen immer autoritärerer Regime grell hervortreten lässt. In der Ukraine hat die Majdan-Revolution von 2014 tatsächlich unter großen Opfern zu einem Regimewechsel geführt. Das verzeiht ihr der Kreml nicht, der behauptet, in der Ukraine werde mit amerikanischer Hilfe ein Anti-Russland aufgebaut. Putin verweigert der Ukraine eine unabhängige Staatlichkeit und damit das Existenzrecht. An ihrem Schicksal unter der infamen russischen Attacke nimmt nun die ganze Welt Anteil. Zurecht, denn es ist ein Angriff auf die internationale Friedensordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Licht des Majdan
Im Artikel „Die Freiheit der Ukraine und das Licht des Majdan“ zitierte der ukrainische Philosoph Konstantin Sigov die russische Philosophin Olga Sedakova: „Das Licht des Majdan, das ist das Licht der Solidarität. Von wundersamen Erscheinungen dieser Solidarität auf dem Majdan haben wir Berichte gelesen. Diese Solidarität auf dem Majdan hat alle gesellschaftlichen und nationalen Grenzen überschritten.“[1] Was war passiert? Nachdem Viktor Janukovytsch, damals ukrainischer Präsident von Putins Gnaden, im letzten Moment die bereits zugesagte Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zurückzogen hatte, gingen 2013/14 gewaltige Menschenmengen für Prinzipien wie Demokratie, Pluralismus und Freiheit auf die Straße. Vertreter aller Religionsgemeinschaften waren vor Ort und unterstützten den friedlichen Protest. Heute bleibt ihnen nur noch der Aufruf zur militärischen Verteidigung. Der russische Politologe Dmitrij Oreschkin drückte es vor wenigen Tagen, auf dem inzwischen stillgelegten unabhängigen TV-Sender „Doschd“, so aus: „Die Ukraine kämpft für die russländische Demokratie.“[2] Aus Sicht des russischen Regimes hingegen handelt es sich umgekehrt um einen Kampf gegen „die bösen Kräfte, die immer gegen die Einheit der Rus‘ und die Russische Kirche gekämpft haben“.[3]
„Böse Kräfte gegen die Einheit der Rus“ (Patriarch Kirill)
Die eben zitierten Worte stammen von Patriarch Kirill, dem Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK). Damit hat er verdeutlicht, dass seine Kirche für ihn ohne die geographische Einheit von Russland, der Ukraine und Belarus – im Minimum – undenkbar ist. Deshalb war die Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) von 2018 und deren Anerkennung durch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel für die ROK-Leitung ein Supergau[4] – und Grund für die von ihr forcierten Spaltung der Weltorthodoxie.[5] Ein Supergau war es aber auch für Präsident Putin, der daraufhin eine Sitzung des russländischen Sicherheitsrats einberief und die OKU als Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands einstufte.[6] Seit dem 27. Februar stehen auch die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft. Sowohl die ROK als auch der „Atomschild“ spielen in Putins sicherheitspolitischen Rhetorik eine zentrale Rolle, wie er bereits 2007 ausführte: „Beide Themen sind eng miteinander verbunden, weil die traditionelle Konfession der Russischen Föderation und der Atomschild Russlands die notwendigen Voraussetzungen für die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit des Landes sind.“[7]
Der ewige Fehler: ein Glaube an die „ganzheitliche Weisheit“ des Ostens…
Das „Licht des Majdan“ brennt im Osten, doch handelt es sich dabei auch um den sattsam bekannten Allgemeinplatz vom „Licht aus dem Osten“? Geprägt hat die Wendung Dostojevskij in den „Brüdern Karamazov“, und er meinte damit die „Reinheit der göttlichen Wahrheit“, die in der Gebetsstille der Mönche der Ostkirche erhalten geblieben sei. Mit der Situierung im Osten beging er denselben Fehler, den die sogenannten russischen Slawophilen im autonomen Nachvollzug deutscher Romantiker gemacht haben: Universale christliche Wahrheiten angesichts der schwierigen Umsetzung in einer komplexen Gegenwart entweder in geographischer Ferne zu suchen, wie z.B. Goethe, der in seinem „West-östlichen Divan“ „im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten“ wünschte; oder sie als östliche „ganzheitliche Weisheit“ für sich selbst zu vereinnahmen und in einer imaginären Vergangenheit der russischen Geschichte zu verorten, die den wahren christlichen Glauben fern von den westchristlichen Zerwürfnissen in seiner Reinheit bewahrt habe. Dabei gehören zumindest die Urväter der Slawophilen – Alexej Chomjakov und Ivan Kirejevskij – mit ihrer ausgezeichneten westlichen, vor allem deutschen philosophischen Bildung zur gesamteuropäischen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts. In fast gar protestantischer Manier setzten sie eine bewundernswerte Übersetzungsarbeit der Kirchenväterwerke vom Kirchenslawischen in modernes Russisch in Gang.
Kyrill und Method: eine nicht-geographische Idee von Katholizität!
Ihr „typisch orthodoxes“ Konzept der „Sobornost“ birgt durchaus gesellschaftliches und ökumenisches Potenzial.[8] So erklärte Chomjakov 1860 dem Redakteur der Pariser Zeitschrift „Union Chrétienne“, dass die Slawen-Apostel Kyrill und Method das griechische Wort katholikos bewusst nicht im Sinne von geographischer Universalität (vsemirnij), sondern mit sobornyj, von sobor’ – Versammlung, auch: Kirche, Kathedrale, Konzil, Synode – übersetzt hätten. Weil sie die Kirche nicht geographisch oder ethnographisch, sondern antihierarchisch definieren wollten: „Eine solche [geographische] Bedeutung hatte keinen Platz in einem theologischen System. Sie haben das Wort gewählt, welches die Idee der Versammlung zum Ausdruck bringt, ohne Bezug zu irgendeinem Ort, und die potenziell ohne äußerliche Vereinigung existiert. Es ist eine Einheit in der Vielfalt. Ich bestätige ohne zu Zögern, dass dieses eine Wort das ganze Glaubensbekenntnis enthält.“ Die ostkirchlichen Konzepte des Hesychasmus, der individuellen Stille vor Gott, und der Kirche als „Sobornost“ leuchten jeder Christin, jedem Christen sofort ein. Doch sind Praktiken, die in der Ostkirche besonders gepflegt wurden (ob dies der Realität entspricht, ist noch einmal eine andere Frage), deswegen exklusiv slawisch oder östlich? Oder andersherum gefragt: Inwiefern ist rationales und analytisches Denken, das die Slawophilen so sehr kritisierten, dessen sie sich aber durchaus selbst bedienten, exklusiv „westlich“?
Die Tragik der russischen Ideengeschichte
Mit diesen orthodoxen Konzepten haben die sogenannten „traditionellen Werte“ auf jeden Fall wenig zu tun, deren völlig eklektischer Katalog Patriarch Kirill seit Jahren und neuerdings auch das russländische Kulturministerium der „russischen Zivilisation“ in Abgrenzung vom offenbar pervertierten „Westen“ zuschreibt.[9] Die Ironie, Paradoxie und Tragik der russischen Ideengeschichte besteht darin, dass die durchaus produktive Suche nach eigenen – oder einfach neuen – Ideen im Sinne der Weiterentwicklung philosophischen und theologischen Denkens ein dualistisches Weltbild mit Kampfbegriffen hervorgebracht hat. Paradoxerweise definiert die gegenwärtige Leitung der ROK das Wesen ihrer Kirche geographisch, stellt sie in den Dienst der imperialen Gelüste von Präsident Putin und kann deswegen weder die Ukraine als Staat noch die OKU in die freie Selbstbestimmung entlassen, geschweige denn mit ihnen Beziehungen auf Augenhöhe pflegen.
Für einen solchen Krieg gibt es überhaupt gar keine Entschuldigung
Der Vorwurf des Nationalismus gegenüber der OKU ist unter diesen Umständen fehl am Platz. Gegen den Krieg haben auch knapp 300 Priester der ROK ihre Stimme erhoben.[10] Auch dem bisher Moskau-treuen Metropolit Onufrij (Beresovskij) der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört und sich der Gründung der OKU Ende 2018 nicht angeschlossen hat, platzte nach dem Kriegsausbruch der Kragen. Er wandte sich direkt an den russischen Präsidenten: „Das ukrainische und das russische Volk entstammen dem Taufbecken des Dnipro, ein Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Neid tötete. Für einen solchen Krieg gibt es keine Entschuldigung, weder von Gott noch von den Menschen.“[11] Onufrij ist das Oberhaupt derjenigen Kirche, die Putin mit seiner „Spezialoperation“ von „faschistischer“ Verfolgung in der Ukraine befreien will. Gleich zu Kriegsbeginn hatte Onufrij angeordnet, die Keller aller Gotteshäuser für alle Schutz suchende Bürgerinnen und Bürger zu öffnen. Dort leuchtet jetzt das Licht der Hoffnung.
[1] Konstantin Sigov: Die Freiheit der Ukraine und das Licht des Majdan. In: Religion & Gesellschaft in Ost und West 5-6 /2014), S. 42–45; https://www.g2w.eu/zeitschrift/rgow-archiv/2010er/2014/948-rgow-05-06-2014-umbruch-in-der-ukraine. Vgl. auch dieses interessante Interview: https://www.noek.info/hintergrund/2306-putins-traum-einer-wiederbelebung-der-sowjetunion-ist-zum-scheitern-verurteilt
[2] https://tvrain.ru/teleshow/here_and_now/teper_ukraina_vojuet_za_rossijskuju_demokratiju-548764/ (3.3.2022)
[3] https://noek.info/nachrichten/osteuropa/russland/2321-russland-patriarch-kirill-spricht-von-kraeften-des-boesen-ukrainische-geistliche-ueben-kritik
[4] Vgl. https://www.feinschwarz.net/religioese-identitaet-in-der-ukraine/
[5] https://noek.info/nachrichten/osteuropa/russland/781-russland-abbruch-der-eucharistischen-gemeinschaft-mit-konstantinopel
[6] https://noek.info/hintergrund/2328-dorn-im-auge-putins-die-freiheit-der-ukraine
[7] https://ria.ru/20070201/60050923.html
[8] http://ieg-ego.eu/en/threads/crossroads/religious-and-confessional-spaces/jennifer-wasmuth-oestliche-orthodoxien-die-verbreitung-des-sobornost-konzeptes-in-den-orthodoxen-kirchen
[9] https://noek.info/nachrichten/osteuropa/russland/2269-russland-religionsgemeinschaften-unterstuetzen-staatlichen-schutz-traditioneller-wert
[10] https://noek.info/nachrichten/osteuropa/ukraine/2319-russland-geistliche-des-moskauer-patriachats-fordern-ende-des-kriegs; vgl. hierzu https://www.g2w.eu/zeitschrift/leseprobe/1825-unerwuenschte-vielfalt-die-russische-kirche-und-proteste.
[11] https://noek.info/nachrichten/osteuropa/ukraine/2314-ukraine-metropolit-onufrij-wirft-putin-brudermord-vor-kirchenoberhaeupter-loben-verteidigungswillen
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Dr. Regula M. Zwahlen ist Redakteurin der Zeitschrift „Religion & Gesellschaft in Ost und West“ (RGOW) und wissenschaftliche Leiterin der „Forschungsstelle Sergij Bulgakov“ an der Universität Fribourg.
Bild: Helga Ewert – pixelio.de