Die Zäsur des Ukraine-Krieges zwingt auch dazu, christliche Friedensethik neu zu buchstabieren. Das muss sie lernen. Markus Vogt legt erste Elemente dazu auf den Tisch.
Mit dem brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine, den der russische Präsident ohne äußeren Anlass persönlich vorangetrieben hat, wurde nicht nur die territoriale Integrität einer souveränen Nation verletzt, sondern zugleich ein Angriff auf die Werteordnung Europas und der Vereinten Nationen unternommen. Die Menschen in der Ukraine erwehren sich mit großer Entschlossenheit und Opferbereitschaft sowie dem unbändigen Mut der Verzweiflung der russischen Übermacht. Unter diesem Eindruck entstand eine in der bisherigen Geschichte beispielslose Welle weltweiter Solidarität, die mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sanktionen unterlegt ist. Russland selbst schadet sich massiv mit dem Angriff auf die Ukraine und wird mit internationaler Isolation gestraft.
Wir hätten viel früher wachsam sein müssen!
Doch darf die Einigkeit der internationalen Reaktion nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Beistand insgesamt eine gemischte Bilanz auszustellen ist: Wir hätten viel früher wachsam sein müssen. Bereits seit vielen Jahren und gebündelt in seinem Essay „On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“ (12. Juli 2021) hat der russische Präsident, der sich zuweilen als Hobbyhistoriker betätigt, der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen und einen russischen Hegemonieanspruch deklariert.[1] Wie wir im Rückblick erkennen, war es fahrlässig, die Bedrohung nicht viel ernster zu nehmen. Angesichts der offensiven Verachtung des Völkerrechts und des expliziten Zieles von Putin, die Einheit Europas zu schwächen, war es unverantwortlich, sich energiepolitisch von Russland abhängig zu machen und sich den Illusionen einer Appeasementpolitik hinzugeben, die Putin ausgenutzt hat, um die Macht seines Regimes international systematisch auszubauen und offen wie verdeckt die westlichen Demokratien zu destabilisieren.
Als Vertreter des Fachs Christliche Sozialethik stelle ich mir die Frage, wie viel meine friedensethischen Überlegungen der vergangenen Jahre sowie die Leitlinien der Katholischen Soziallehre noch wert sind angesichts des neuen Bedrohungsszenarios. Manche ethische Theorien waren von der Vorstellung geprägt, dass der Krieg in Europa lediglich ein Phänomen dunkler Vergangenheit sei. Eine Auffassung, die aus heutiger Perspektive als naiv und überholt gelten muss. Die Erfahrungen der letzten Wochen haben eine Lücke in der ethischen Debatte offenbart, die uns zwingt diese theoretischen Defizite zügig auszugleichen und der Friedens- und Sicherheitsethik auch innerhalb der Theologie ein weit größeres Gewicht zuzuerkennen.
Es gibt eine signifikante Lücke in der ethischen Debatte.
Die friedensethischen Konsequenzen des Christseins in einer fragilen Welt müssen neu ausgelotet werden. Am Beispiel des aktuellen Krieges lernen wir schmerzhaft, dass demokratische Werte proaktiv und existenziell verteidigt werden müssen, denn seit gut zehn Jahren erstarken weltweit autoritäre Regime und Parteien. Mediale Manipulationen durch postfaktische Kommunikationsformen zeigen ihre Verachtung für die Wahrheit. Heute ist deutlicher denn je: Wir brauchen eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie.
Auch die päpstlichen Lehrschreiben enthalten Aspekte aktueller Relevanz. In der Enzyklika Fratelli tutti, die Papst Franziskus im Oktober 2020 veröffentlicht hat[2] und die zu Unrecht kaum als Friedensenzyklika wahrgenommen wurde, hat der Papst eindringlich und vorausschauend darauf hingewiesen, dass der Weltfriede akut gefährdet sei. Er sah die „Politik der Abschottung“ in ihren vielfältigen Erscheinungsformen als Menetekel des allmählichen Hineinschlitterns in die Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Schon den Besitz und erst recht das Androhen des Einsatzes von atomaren Waffen beurteilt er als moralisch verwerflich. Seine pazifistische Ablehnung jeglicher Kriegsführung hält m.E. der Notwendigkeit, den bewaffneten Gewaltexzessen und Aggressionen wehrhaft entgegenzutreten, nicht stand.[3] Für eine direkte militärische Intervention, die die NATO außerhalb ihres Bündnisgebietes zur Kriegspartei machen würden, sind uns gegenwärtig jedoch aufgrund der Unberechenbarkeit einer weltweiten Konflikteskalation bis hin zu einer atomaren Auseinandersetzung, für die die Schwelle aufgrund der Vielfalt „kleiner“ Atomwaffen geringer geworden ist, die Hände weitgehend gebunden.
Die orthodoxe Kirche könnte eine Schlüsselrolle spielen.
Von außen, also durch das direkte Eingreifen anderer Staaten, kann Putin nur sehr begrenzt gestoppt werden. Es wird vor allem auf das Verhalten des russischen Volkes ankommen. Die öffentliche Kritik am Angriffskrieg durch 7000 russische Wissenschaftler, die ihn als ungerecht und sinnlos bezeichnen und damit ein hohes persönliches Risiko eingehen, ist ein Zeichen, das Mut macht. Eine gewichtige Stimme könnte auch der russisch-orthodoxen Kirche zukommen, wobei zwischen der Amtskirche und der kirchlichen Basis zu unterscheiden ist: Patriarch Kyrill will noch mehr als Putin Kiew in das russische Staatsgebilde hineinzwingen, denn Kiew hat für ihn als Zentrum der russischen Orthodoxie einen hohen Symbolwert. Das Konzept einer „Russischen Welt“ bzw. der erste Entwurf hierzu stammt nicht aus Putins Feder, sondern wurde vom Patriarchen verfasst. Am 6. März predigte er zur Legitimierung des Krieges als Befreiung der im Donbass lebenden Russen sowie als Verteidigung der orthodoxen Welt gegen den Einfluss des vermeintlich moralisch dekadenten Westens.[4] Von den Gläubigen der orthodoxen Kirche bitten dagegen viele in den sozialen Medien die Ukrainer um Vergebung für den Krieg. Viele Bischöfe haben bereits Kyrill, der als Patriarch im Kreml residiert und Putin bedingungslos unterstützt, aus dem Hochgebet gestrichen, was nach orthodoxem Verständnis einer Aufkündigung der Gemeinschaft gleichkommt.[5]
Da der Ukrainekonflikt Teil eines vielschichtigen Kampfes um eine neue Weltordnung ist, kann er auf Dauer nicht ohne die Schaffung einer den heutigen Herausforderungen und Konfliktlinien angemessenen internationalen Friedens- und Sicherheitsordnung gelöst werden. Eine vorrangige Bedeutung kommt hier der Reform des Weltsicherheitsrates zu, der heute nicht mehr angemessen die Kräfteverhältnisse in der Welt widerspiegelt und von den Mächtigen mittels ihres Veto-Rechtes als Instrument einseitiger Dominanzpolitik missbraucht bzw. blockiert wird. Durch den partiellen Rückzug der USA als Weltordnungsmacht ist ein Vakuum entstanden, das durch eine Verdichtung der vielfältigen supranationalen Verflechtungen kompensiert werden muss.[6] Dazu könnte auch ein europäischer Sicherheitsrat gehören, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Die verschiedenen Institutionen, die sich sicherheitspolitisch engagieren (u.a. UNO, NATO, OSZE, EU), sind komplementär aufeinander abzustimmen.
Wo Regime Wahrheit, Freiheit und Humanität verleugnen, haben sie keine moralische Legitimität.
Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine geht es letztlich um Versöhnung zwischen den unterschiedlichen Werten, kulturellen Mentalitäten und politischen Modellen an den Grenzen Europas. Wo Regime jedoch Wahrheit, Freiheit und Humanität verleugnen, haben sie keinerlei moralische Legitimität. Für Russland, die Ukraine und Europa kommt der wissenschaftlichen Aufarbeitung der höchst unterschiedlichen Identitätskonstruktionen und der Rolle, die die Religionen dabei spielen, eine zentrale Bedeutung zu.[7] Im Vordergrund stehen nicht rational nachvollziehbare Interessen, sondern Anerkennungskonflikte mit ihrer ganz eigenen Grammatik von Kompromisslosigkeit und Machtdynamiken. Die theologische Kritik einer nationalistischen Inanspruchnahme des christlichen Glaubens ist ein wichtiger Friedensdienst, den die Kirchen zu leisten haben. Christsein angesichts einer fragil gewordenen Weltordnung erfordert ein erheblich höheres Maß an Engagement für die Werte des Friedens, der Freiheit und der Versöhnung als wir dies in der sicherheitsverwöhnten deutschen Welt der vergangenen Jahrzehnte gewohnt waren.
[1] Vgl. Luchterhandt, Otto (2022): Russia’s Hostage. The Military Encirclement of Ukraine and International Law; https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/russlands-geisel/.
[2] Franziskus (2020): Fratelli tutti. Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 227, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn.
[3] Zur Interpretation von Fratelli tutti als Friedensenzyklika mit ihren Stärken und Schwächen vgl. Vogt, Markus (2021): Die Botschaft von Fratelli tutti im Kontext der Katholischen Soziallehre, in: MThZ 72/2021, 108-123.
[4] https://www.kath.ch/newsd/moskauer-patriarch-kyrill-krieg-soll-glaeubige-vor-gay-parade-schuetzen/
[5] https://www.die-tagespost.de/politik/die-wut-auf-patriarch-kyrill-waechst-art-226333?fbclid=IwAR2t-lJP1EWjwWtpC0Fkfaw9gweFo1OMZVzBZQp6sphfwXMMdRvabChTAdU
[6] Vgl. Schockenhoff, Eberhard (2018): Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt, Freiburg, 639-665.
[7] Golczewski, Frank (2018): Unterschiedliche Geschichtsnarrative zur Ukraine im Kontext der aktuellen Krise, in: Justenhoven , Heinz-Gerhard (Hg.): Kampf um die Ukraine. Ringen um Selbstbestimmung und geopolitische Interessen (Studien zur Friedensethik 61), Baden-Baden, 35-59, Hnyp, Maryana (2018): Ukrainian National Identity in Transition: Geopolitics and Values, in: ebd., 17-33.
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Prof. Dr. Markus Vogt lehrt Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Bild: S.Hofschlaeger – pixelio.de