Angesichts von Krieg und einander überlagernden Krisen unterhalten sich die beiden Dortmunder Theologen Egbert Ballhorn und Gregor Taxacher über Psalmverse. Fluchtreaktion oder Rückgang zu den Quellen? Jedenfalls ein Gespräch zwischen biblischer und politischer Theologie.
Egbert Ballhorn
In wenigen Tagen mussten wir erleben, wie viele unserer „bürgerlichen“ Gewissheiten sich ganz plötzlich verflüchtigt hatten: Die Stabilität politischer Welten, Friede, beständiger Zufluss von Konsumgütern und Energieträgern. Plötzlich steht vieles in Frage.
Da geht mir der Psalmvers nicht aus dem Sinn: „Vertraut nicht auf Fürsten, auf ein Menschen-Kind, bei denen keine Rettung ist. – Selig der, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist, der seine Hoffnung auf den Herrn seinen Gott setzt!“. (Ps 146,3.5)
Diese Sätze elektrisieren und beunruhigen mich. Oft habe ich sie rezitiert, und plötzlich werden sie wahr in einem viel wörtlicheren Sinne. Überführt dieser Psalmvers nicht mich und mein Leben (und unsere Gesellschaft) einer bisherigen trügerischen Hoffnung? Haben wir uns in den letzten Jahrzehnten nicht einfach angewöhnt, auf die schützende Fürsorge des Staates zu vertrauen, der Nato, der Fraglosigkeit des wachsenden Wohlstands, der Stabilität Europas, der Zuverlässigkeit des Klimas, der Selbstverständlichkeit des internationalen Warenhandels? Und Gott eher als „Zusatzversicherung“ gesehen?
„Wir müssen unsere Sicherheit selbst in die Hand nehmen“ – das ist gerade die Devise. „Wir müssen die Zukunft gestalten.“ Dem stimmt mein bürgerlicher Verstand unbedingt zu. Und dem rufen die biblischen Texte ein lautes „Aber…!“ dazwischen. Wir haben uns in Europa in eine Allmachtsphantasie hineingelebt, uns übernommen in unserem Selbstvertrauen. Plötzlich lernen wir die Begrenzungen kennen.
Gregor Taxacher
Bei diesen nachdenklichen Zeilen erinnerte ich mich an den Beginn eines berühmten Spiegel-Interviews mit Adorno. Die Frager beginnen mit dem Satz: „Vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung“, da fällt er ihnen gleich ins Wort: „Mir nicht.“ Jetzt erleben wir – hier allerdings nur sehr indirekt – einen zwischenstaatlichen Angriffskrieg in Europa. Das haben die meisten, mich eingeschlossen, nicht erwartet. Ja, das zerreißt scheinbare Verlässlichkeiten. Aber die trügerischen Hoffnungen, auf die der Psalmvers stößt, waren auch vorher schon offensichtlich trügerisch. Du erwähnst es ja: Unser Wohlstand, unsere Wirtschaftsweise waren längst als nicht nachhaltig erkannt. Manche vermuten ja sogar, dass Putins Angriffskrieg damit zu tun hat, dass Russlands Wirtschaft ganz von fossilen Energieträgern abhängt, das befeuerte seine Niedergangsangst … Das „Aber“, auf das Dich der Psalmvers stößt, möchte ich auch so formulieren: Hoffnung, echte Hoffnung, ist nicht Optimismus. Und deshalb hat echte Hoffnung immer etwas mit der unverfügbaren Dimension Gottes zu tun.
Egbert Ballhorn
Der Schock hat auch etwas Heilsames. Ja, unsere Selbstsicherheit war schon immer unberechtigt, weil wir eben auf uns selbst geschaut – und wie selbstverständlich angenommen haben, dass das, was wir bei uns für „normal“ halten, dem Großteil der Menschheit auf der Erde nicht gegeben war und ist. Damit haben wir uns eingerichtet. Und plötzlich stehen wir (vorerst nur ein bisschen) mit auf der Seite der Gefährdeten. Wie geht es uns damit?
Manche biblischen Texte erlangen nun eine brennende Schärfe. Der Psalmvers macht eine radikale Gegenüberstellung: Entweder, ihr verlasst auch auf Fürsten – oder auf Gott. In dieser Welt gibt es kein sowohl – als auch. Und wir merken, dass es solche Situationen geben kann, dass alle menschlichen Anstrengungen zusammengenommen nicht reichen, etwas zu bewirken. Wie groß ist dann unser Gottvertrauen in einer solchen Situation?
Gregor Taxacher
Dazu fallen mir weitere Psalmverse ein: „Die einen sind stark durch Wagen, die andern durch Rosse, wir aber sind stark im Namen des Herrn, unsres Gottes.“ (Ps 20,8) Oder auch: „Dem König hilft nicht sein starkes Heer, der Held rettet sich nicht durch große Stärke. Nichts nützen die Rosse zum Sieg, mit all ihrer Kraft können sie niemand retten.“ (Ps 33, 16 f.) Offenbar ist hier Gottvertrauen nicht nur ein Mehr gegenüber menschlichen, etwa militärischen Sicherheitsmaßnahmen, ein frommes „add on“, sondern eine scharfe Alternative (wie bei Jesus Gott und „der Mammon“). Ich höre zwar schon wieder innerlich Helmut Schmidt mahnen, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen. Nach den westlichen Fehleinschätzungen gegenüber Putins Politik hat verständlicherweise die militärische Logik Diskurshoheit. Aber ich glaube, der Psalmvers ist auch politisch keineswegs naiv. Wer sich auf militärische Stärke verlässt, ergibt sich auch der Logik von Aufrüstung, von Politik als Poker um Sieg oder Niederlage. Wenn wir Sicherheitspolitik angesichts des Kriegsschocks wieder nur als „mehr vom selben“ denken, dürfen wir uns auch nicht wundern, dass die „kalten“ – und dann plötzlich gar „heißen“ Kriege sich wie ökonomische Zyklen immer wieder aufschaukeln.
Egbert Ballhorn
Der Psalm hält freilich nicht nur radikale Politik-Kritik bereit, er enthält auch einen Trost und ein Utopie-Programm: Der Gott Jakobs „der Himmel und Erde gemacht hat – der Treue bewahrt auf ewig“, er ist derjenige, „der Recht verschafft der Unterdrückten, der Brot gibt den Hungernden“ (Ps 146,6f.). Der Schöpfer und der Erlöser, er ist beständig am Werk. „Der Herr wird als König herrschen auf ewig“, das ist der Schlusssatz, und er lehrt jeden Machthaber das Zittern, denn irgendwann wird ihre Zeit abgelaufen sein.
Die Psalmverse haben ein Lernpotential. Sie sind uns voraus. „Ich setzte meinen Fuß in die Luft. Und sie trug“ – schreibt Hilde Domin. Diese Erfahrung kann wohl nur jemand machen, der alle anderen Sicherheiten aufgeben musste. Eine Dichterin, die Exil gekannt hat.
Gregor Taxacher
Und das erleben jetzt wieder so viele! Worin werden sie dem Gott von Psalm 146 begegnen? Wo und wie verschafft er Recht, spendet er Brot? Ich lese und bete die Psalmen auch deshalb so gerne, weil sie diese angefochtenen Fragen nicht verdrängen, weil sie ständig auch gegen die Verborgenheit Gottes anbeten, an-klagen. Aber dadurch gerät der oder die Betende selbst in die Theodizeefrage hinein: Wo verschaffe ich Recht, wo spende ich mein Brot? Ich sehe die Bilder an der polnischen Grenze vom Empfang ukrainischer Flüchtlinge und blende darüber die noch gar nicht so alten von den Grenzsperren gegen Erfrierende in den Wäldern dahinter. Die bitteren Fragen an Gott kehren auch zu uns zurück, zu uns Europäern insbesondere. „Der Herr öffnet den Blinden die Augen, er richtet die Gebeugten auf. Der Herr beschützt die Fremden und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht.“ (Ps 146, 8 f.)
Egbert Ballhorn
Das gilt auch für die Kirchen, scheint mir. Sie verkünden die Gottesbotschaft. Aber besteht nicht die Gefahr, dass bei allen Erneuerungsbewegungen doch das geheime Ziel, vor allem die gewohnten Annehmlichkeiten der Institution zu halten, einen größeren Raum einnimmt, als man sich zuzugeben bereit ist? Dass letztlich das Vertrauen in die handfesten Ergebnisse von Umstrukturierungen und PR-Beratungen größer ist als die Hoffnung auf die anarchische Kraft der Frohbotschaft? Gilt es, womöglich viel radikaler lernen zu müssen, was die Ansprüche Gottes an uns sein könnten, dass das Verstecken hinter gewohnten Formen und Formeln noch nicht automatisch ein Zeichen des festen Glaubens ist?
Gregor Taxacher
Ja, mir scheint, unsere Kirche jedenfalls hat große Angst vor den von den Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums geradezu grell beleuchteten notwendigen Veränderungen bei ihr selbst – und deshalb auch wenig Kraft, in der Gesellschaft den Mut zu echten Veränderungen jenseits unseres Klammerns an vermeintlichen Sicherheiten – und sei es der der Heizenergie – zu stärken. Und heißt das nicht, um auf den Anfang zurückzukommen: Ihr fehlt es an echtem Vertrauen statt bürgerlichen Gewissheiten? Zu den im Psalm genannten Fürsten zählen wohl auch die „Kirchenfürsten“. Von da sollten wir die Rettung nicht erwarten. Die Psalmen lehren mich da ein spannungsvolles Doppeltes: Fang selber an, du, Beter*in, „Kirchenvolk“ – aber zugleich (und das ist mein Lieblingsvers in der Übersetzung von Martin Buber): „Was mir aufhilft, was mich entrinnen macht, bist DU: mein Gott, säume nimmer.“ (Ps 40,18)
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Egbert Ballhorn lehrt an der Universität Dortmund Exegese und Theologie des Alten Testament, Gregor Taxacher ist dort als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Systematische Theologie tätig.
Bild: Dieter Schütz – pixelio.de