Wo war Gott in Auschwitz? So wird gerade an Tagen wie dem heutigen gefragt. Damit die Frage aber fruchtbar wird, brauchen wir einen Perspektivenwechsel, meint Norbert Reck.
Als die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt Anfang der 1960er-Jahre wieder einmal in Deutschland war, fielen ihr dort die „zur Schau getragenen und reichlich publizierten Schuldgefühle“ auf. Hier hatte sich etwas verändert im Vergleich zur verbreiteten Gefühlskälte der ersten Nachkriegsjahre. Doch diese neuen Emotionen zeigten sich nicht so sehr bei denen, die in der Nazizeit verantwortlich Handelnde gewesen waren, sondern bei den jungen Nachgeborenen. Hannah Arendt sah darin keinen Fortschritt, keine gewachsene Einsicht in die abgründigen Verbrechen der Schoa; es war ihr klar, dass solche Gefühle „gar nicht echt sein können“, denn, so schrieb sie: „Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben ‚erhebende Gefühle‘ und wird gern gesehen.“
Schuldgefühle
Von den jungen Leuten hätte sich Arendt indessen anderes erwartet als gerade Schuldgefühle:„Von allen Seiten und in allen Bereichen ist die deutsche Jugend heute mit Männern konfrontiert, die in Amt und Würden, in maßgeblichen Positionen und öffentlichen Stellungen das Gesicht des Landes bestimmen und in der Tat sich einiges haben zuschulden kommen lassen, ohne sich offenbar schuldig zu fühlen. Die normale Reaktion einer Jugend, der es mit der Schuld der Vergangenheit ernst ist, wäre Empörung.“[1]
Warum kam es damals so selten zur „normalen Reaktion“, zur Empörung über die Täter und ihre Reuelosigkeit? Warum trugen so viele junge Leute bereitwillig mit an einer Schuld, die nicht die ihre war? Ich vermute, dass diese Haltung eine Art Gegendiskurs war zum Diskurs jener Erwachsenen der Nazizeit, die nichts bereuten und nichts hören wollten von dem, was sie getan oder bejubelt hatten. Wer sensibler war und sich an solcher Abwehr nicht beteiligen wollte, wer sich nicht in der Lage sah, sich auf einen Konflikt mit den eigenen Eltern oder Vorgesetzten einzulassen, übernahm stattdessen die Schuld der vorigen Generation – als Schuldgefühl.
Eine Alternative dazu war kaum zu finden, weder staatlich noch kirchlich. Pastor Martin Niemöller, Mitbegründer der Bekennenden Kirche und KZ-Überlebender, war zwar in den Nachkriegsjahren durch das Land gezogen und hatte versucht, die Menschen zur konkreten Gewissenserforschung anzuregen, war aber zumeist auf wutschäumende Ablehnung gestoßen. Die übrigen Theologen beteiligten sich mehrheitlich in auflagenstarken Publikationen daran, über die Täter zu schweigen und die Deutschen insgesamt zum Schuldtragen aufzufordern.
Schweigen über die Täter
Der Jesuit Karl Rahner fragte seine Zuhörer:innen etwa: „Werden wir als Christenheit und als Volk endlich beten, viel beten, innig beten, beten um das Reich Gottes und um eine neue Begnadigung der Geschichte unseres Volkes, so wenig wir auch ahnen können, wie sie geschehen soll?“ Und der Religionsphilosoph Romano Guardini bestätigte den Deutschen zwar, dass viele nichts von den Verbrechen gewusst hätten und auch nichts dagegen hätten tun können, aber sprach trotzdem von einer Schuld, die „auf dem Gewissen des Volkes“ laste und bereinigt werden müsse.
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. Björn Krondorfer, Katharina von Kellenbach und ich haben zahlreiche Aussagen der Nachkriegstheologie zusammengetragen und analysiert.[2] Allenthalben fanden wir Erinnerungen an die Nazizeit, in der der Massenmord an den Juden Europas nicht vorkam, seelsorgliche Verteidigung der reuelosen Täter:innen sowie die entschiedene Umverteilung von Schuld auf die Schultern aller (anstatt sich mit konkreten Menschen und ihren Taten auseinanderzusetzen). Das war erschreckend massiv.
Diese Schuldverschiebung führte zu einer neurotischen Konstellation. Wer sich für das kollektive Schuldtragen einnehmen ließ, saß in der Falle: Eine Schuld, die nicht aus eigenem Verhalten herrührt, lässt sich nicht bearbeiten. Sie kann nur als diffuses Schuldgefühl mitgeschleppt und von Generation zu Generation weitergereicht werden. Das ist es wohl, was Hannah Arendt beobachtet hatte und was den Erinnerungsdiskurs in Deutschland forthin prägen sollte. In anderen Ländern sehen das viele Beobachter mit Befremden.
Besonders schwierig wurde diese Konstellation, wenn sie mit christlichen Glaubensüberzeugungen verquickt war. Ging es im Bereich des Christentums ohnehin schon stark um Sünde und Erlösung, wurde die Verbindung von Glauben und Schuldgefühlen zu einem kaum lösbaren Knoten. Schuldgefühle werden ja als reale Belastung erlebt, können aber nicht durch Beichte oder Buße bewältigt werden. Und in einem gesellschaftlich-kirchlichen Umfeld, in dem die Täter der Naziverbrechen weitgehend ausgeblendet worden waren, blieb niemand, der sonst zur Verantwortung gezogen werden konnte. Außer Gott.
Schuldverschiebung
So fragte Papst Benedikt XVI. bei einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Jahr 2006:„Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte er dieses Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden?“[3]
Diese Fragen sind eine weitere Schuldverschiebung: Nach der Verschiebung von den unsichtbar gewordenen Tätern auf die deutsche Allgemeinheit kommt nun Gott in den Blick – unter Fortsetzung des Schweigens über die Täter. In Benedikts Ansprache findet sich kein Wort über die langjährige Zustimmung der Mehrheit der Deutschen zum Nazistaat, nichts über die Wachmannschaften der KZs, die Erschießungskommandos, die deutschen Firmen, die das Zyklon B für die Gaskammern hergestellt hatten, nichts über Arisierungsprofiteure und Denunziantinnen, und natürlich auch keine Silbe über die kirchliche Judenfeindschaft.
Benedikt ging sogar noch weiter und charakterisierte sich selbst „als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, so daß unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und mißbraucht werden konnte.“ (ebd.)
Täter waren andere
Mit anderen Worten: Benedikt und die Deutschen waren Opfer, die von einer „Schar von Verbrechern“ missbraucht worden seien. Täter waren andere. Und Gott? Der habe den „Triumph des Bösen“ geduldet. An der Stätte des millionenfachen Mordens ist das eine eisige Unverfrorenheit. Verantwortungsverweigerung. Kennte man sie nicht schon aus anderen kirchlichen Zusammenhängen, müsste man verwundert fragen: Wie kann Glaube so unmündig machen?
Was folgt daraus für den christlichen Glauben nach der Schoa? Klar dürfte sein: Nachdem Deutsche in disziplinierten Heereseinheiten und paramilitärischen Organisationen halb Europa in Schutt und Asche gelegt und das Leben von Abermillionen Menschen zerstört haben, ist es ungeheuerlich, sich an Gott zu wenden und zu fragen, warum „er“ das alles erlaubt habe. Die Frage, die Christ:innen stattdessen heute stellen müssten, könnte lauten: Wo waren die christlichen Gläubigen in jenen Tagen? Warum haben sie geschwiegen? Wie konnten sie dieses Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden?
Der notwendige Perspektivenwechsel
Das wäre ein notwendiger Perspektivenwechsel. Er würde die Täter und Mitläuferinnen, die angeblich Machtlosen und Nichts-gewusst-Habenden endlich wieder ins Blickfeld holen und nach deren Handeln fragen. Und jede Rekonstruktion ihrer realen Taten und Verantwortlichkeiten könnte helfen, die Nachgeborenen von ihren neurotischen Schuldgefühlen zu befreien. Nicht, um irgendwelche „anderen“ anzuschwärzen, sondern um Klarheit zu gewinnen über Abwege und Irrwege und ihre gefährliche Nähe zum bürgerlichen Alltag. Um der Zukunft willen.
So verändert könnten diese Fragen tatsächlich, auch Jahrzehnte nach der Befreiung der Lager, den Horizont ausleuchten für einen Glauben, der mehr sein will als bloß Seelentrost in einer Welt des Entsetzens. Für einen Glauben, der tätige Solidarität ist, der Gott in den Hungernden, Nackten und Gefangenen – auch in den Lagern! – begegnet (Mt 25) und fragt, wo Gott uns sehen möchte.
Auf den Ruf Gottes gibt es in der Hebräischen Bibel immer wieder eine Antwort: Hineni (z. B. Gen 22,11). Das heißt: Hier bin ich. Das könnte auch zum Gebet von Christ:innen nach der Schoa werden: Hier bin ich. Nimm mich in die Pflicht, Gott.
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Norbert Reck, Dr. theol., ist katholischer Theologe und Publizist. In diesen Tagen erscheint „Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945“, das er zusammen mit Björn Krondorfer und Katharina von Kellenbach verfasst hat, in überarbeiteter Neuauflage. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
[1] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990, 392.
[2] Eine überarbeitete Neuauflage erscheint in diesen Tagen: Björn Krondorfer/Katharina von Kellenbach/Norbert Reck, Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945 (Beiheft 12 der Zeitschrift theologie.geschichte) Darmstadt 2022.
[3] Benedikt XVI., Ansprache im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 28. Mai 2006, online unter: https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2006/may/documents/hf_ben-xvi_spe_20060528_auschwitz-birkenau.html.