Das Geschenk der Musik ist ihr fluides Wesen: als Zeitstrahl der Hoffnung für Hoffnungsloses bleibt sie vorüberziehend, gefüllte Zeit. Ansgar Wallenhorst enthüllt die Potentiale der Kirchenmusik.
Wie hören wir einen Text? Wie hören wir Musik? Immer als Menschen mit eigener Lebensgeschichte. Dabei wird situativ ein hermeneutischer Filter zwischen Ohr und Verstand aktiviert. Historischer Kontext, aktuelle Lebenswirklichkeit, individuelle Erfahrung: all das prägt unsere hörende Aufnahme von Botschaften, seien es nun Worte oder Klänge.
Wenn wir uns diese Hörer:innen-Eigenschaften bewusst machen, wenn wir um das Resonanzverhalten von Buchstaben und Tönen als situativ und individuell wissen, dann ist zweierlei gewonnen: Wir anerkennen die Andersheit der Erfahrungen Anderer und wir können Vertrautes neu hören und mit Neuem vertraut werden. Musik als bilderlose Kunst, als nicht festhaltbarer Augenblick führt uns in diesen Prozess der Verflüssigung von Verstehen.
Die drei Spielfelder der Kirchenmusik
Rund um St. Peter und Paul in Ratingen, eine seit dem 8. Jahrhundert gewachsener Kirchort im Herzen der Stadt und inmitten der Metropolregion Rhein-Ruhr, haben wir mit diesem Ansatz als eine Art „Klanglabor der Glaubensbefragung“ experimentiert. Die Spielfelder der Kirchenmusik sind traditionell die Liturgie als ihr „Wesenskern“ und der Bereich der Konzerte als martyria, als Verkündigung über den gottesdienstlichen Rahmen hinaus. Als dritte Sparte haben wir die Aufgabe der Aus- und Weiterbildung über Chorschule, Unterricht, Kurse, Graduiertenstipendium und Vergabe von Auftragskompositionen als „Akademie“ neu und weiter gefasst: als Sendung, als im weitesten Sinne diakonische Aufgabe. Hier werden Hörerende und Musizierende zusammengebracht im Nachdenken und im Austausch über musikalische Botschaften.
Getrennt und doch vermischt sind diese Felder. Natürlich wirkt auch das musikalische Bekenntnis zeugnishaft in die Liturgie hinein, wo die musica sacra ein integraler Bestandteil der feiernden Gemeinschaft ist und etwas mitzuteilen hat, da wo SängerInnen und Instrumentalisten ihr Glaubenszeugnis klangvoll grundieren. Es ist ein Brückenschlag von einem dem Verstand sich erschließenden Hören des Wortes zum quasi ganzkörperlichen Vollzug des Rituals: Musik öffnet Räume symbolischer Erfahrung, die unsere Lebenswirklichkeit und die in der Liturgie aufblitzende Glaubenserfahrung des Christentums zusammenbringt und zusammenhält.
Die Konzerte lassen die Liturgie und die Feier der Geheimnisse Tag für Tag und Jahr für Jahr nicht außen vor. Konzertante Musik bildet so etwas wie eine Wunderkammer aus liturgisch-theologisch inspirierten Begegnungen. Die Begegnung ist dabei wie in ihrem französischen Synonym ren-contre eine durch Andersheit des Anderen verändernde, ja oft verblüffende oder zunächst auch uns an- oder abstoßende Erfahrung. Im Bereich der „Akademie“ bieten Vorträge von Gastorganist:innen, Komponisten, TheologInnen und Wissenschaftlern eine Plattform der Vertiefung von Gehörtem unter den Vorzeichen des Saisonthemas der „Orgelwelten Ratingen“.
Eine Wunderkammer an- und abstoßender Begegnungen
Damit sind wir beim Kern: jedes Jahr steht unter einem Thema, das eine Lesart des Glaubens und zugleich einen Rahmen des Hörens bietet. Die Wahl des Jahresmottos ist immer spannend und der Beginn einer Entdeckungsreise, an deren Ende Viele bekennen: „Nach diesen Hörerfahrungen hat sich für mich manches verändert!“ So soll es sein!
Geheimnis | Neue Schöpfung | Ja und Amen | Begegnung | Sternstunden & Aufbrüche | Vögel des Himmels | Mut | Trost | Frei Sein
Eine Litanei aus Begriffen, die einen theologischen Bezug haben. Wo die Sprache des Glaubens oder vielleicht mehr noch die Sprache der Verkündigung entleert und verbraucht ist, ihre Bilder in der medialen Bilderflut unterzugehen drohen, da gilt es – ganz im Sinne der von Johann Baptist Metz reklamierten „Wächterfunktion“ der Theologie -, die Rede von Gott durch Hörfilter zu hinterfragen und zugleich neue Resonanzräume zu öffnen. Abseits der unverstanden versickernden oder ungehört verhallenden Sprachhülsen manch kirchlicher Verkündigung öffnen sich musikalische Räume, die zu einer neuen expressive Glaubenssprache ermutigen wollen.
Trösten ohne zu harmonisieren
Zwei Beispiele: Die Wahl des Themas „Trost“ fiel im Dezember 2019, als das Corona-Virus bereits in Wuhan zirkulierte, noch unbeachtet von der medialen Berichterstattung. Mit dem Ausbruch der Pandemie, wurden die zu Trost.Punkten deklarierten orgel.punkt12-Konzerte zu einem der wenigen Ermöglichungsorte tröstlichen Miteinander-Hörens. Musik erfahren – nicht als billige Vertröstung, sondern als eine memorierende Unterbrechung. Trösten ohne zu harmonisieren, im Eingedenken des Leidens.
Genau das ist ja die Stärke musikalischer Klangrede: dass sie wortlos verschwiegen Unversöhnliches in Spannung halten kann, ja von diesen Spannungen geradezu lebt und sie in Dissonanzen mit oder auch ohne Auflösung in der Schwebe hält. Was tröstlich ist, wird jede und jeder angesichts eigenen oder fremden Leids anders empfinden. Im musikalischen Fluss sind aber viele Inseln des Trostes auszumachen… Darin besteht ja immer wieder die Aufgabe der Musik, auch und gerade in der Liturgie: nämlich die ganze Breite situativer Individualität der Gottesdienst-Gemeinschaft in ihren Resonanzen zu sammeln. Jede Emotion, jede Lebenssituation, jedes Gebetsanliegen sollte in den wechselnden musikalischen Affekten und Aggregatzuständen von Klängen gespiegelt und somit erfahrbar werden. Das gelingt zugegebenermaßen nicht immer, muss aber Anspruch guter, weil eben vielschichtiger, mehrdimensionaler Musik als wahrer Kunst sein!
Freiheit und Fuge – Musik und Corona
Das Thema „Frei sein“ hat unter den Vorzeichen der Einschränkungen der Corona-Schutzmaßnahmen in 2021 eine intensive Auseinandersetzung im Wechselspiel mit Musik angeregt. War durch das Trost-Thema ein Bewusstsein für „Com-Passion“ als Brennglas christlich-solidarischen Miteinanderseins geschaffen, so entzündete das Kontrastpaar „Freiheit und Fuge“ einen musikalisch inspirierten Parcours im Umfeld der Diskussionen über bürgerliche Freiheiten und die Verhältnismäßigkeit von politisch zu verantwortenden Einschränkungen.
Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ wurde im Gegenüber zu „freien“ Werken, notierten Improvisationen oder auch improvisierten Fugen zu einem Erfahrungsraum von Freiheit in Bindung. Wie jede Entscheidung exklusiv ist, so wird mit der Wahl eines Fugenthemas eine Grundierung des weiteren Geschehens vorgegeben. In der strengsten musikalischen Form, dem Kanon, bestimmt die erste Stimme jeden Ton der ihr als wörtliche Antwort folgenden zweiten Stimme. In der Fuge ermöglicht das Thema den anderen Stimmen einen freien, gegensätzlichen, ergänzenden oder anschmiegsamen Kontrapunkt zu entfalten. So leisten alle Stimmen als Personen in der Fuge ihren freien Beitrag in Bindung an das vorgegebene Thema.
In den freien Formen wie auch die Improvisation war die Hörerfahrung eine ähnliche: gelungenes Frei sein vollzieht sich nicht ohne Bindung an (Vor-)Gegebenes und in der Anerkennung der anderen Freiheit. Das Hör-Resümee dieses Kreisens um Freiheit in der Musik war:
- Wir brauchen prohetische Freiheit, die Überkommenes Infrage stellt, um die Tradition lebendig zu erneuern.
- Wir brauchen geschützte Räume der Freiheit, wo wir mit traumwandlerischer Sicherheit, zugleich voll Neugier und Experientierfreude zu uns selbst finden, zu unserer Sendung.
- Wir brauchen das Geländer von Ritual und Form, das als geronnene Erfahrung eine Navigationshilfe durch alle Wetter des Lebens ist.
Fluide Musik: Zeitstrahl der Hoffnung für Hoffnungsloses
Mit diesem Setting von Filtern des neuen Hörens und Hörens von Neuem kann Musik im Raum der Kirchen Lebenshilfe und Glaubensvergewisserung sein. Das Geschenk der Musik ist dabei ihr fluides Wesen: als Zeitstrahl der Hoffnung für Hoffnungsloses bleibt sie vorüberziehend, gefüllte Zeit.
„Das Vibrato dauert nach dem Klang in uns fort. In diesem Verharren liegt vielleicht die für uns dichteste Annäherung an die spekulative Ahnung, dass es Werte und Energien in der menschlichen Person gibt, die den Tod transzendieren.“ (George Steiner, Von realer Gegenwart, 295)
In der 25. Saison wird die christliche Hoffnung musikalisch durchbuchstabiert. In Klängen und Pausen, aus der Stille kommend und in sie mündend wird diese Hoffnung ein „halbfertiger Himmel“ sein, so wie „jeder Mensch eine halboffene Tür (ist), die in ein Zimmer für alle führt.“ (Thomas Tranströmer).
Hören als Türöffner zueinander und in weite Klangräume des Glaubens.
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Ansgar Wallenhorst ist seit 1998 künstlerischer Leiter der Orgelwelten Ratingen und Kantor an St. Peter und Paul in Ratingen. Er hat in Münster und Paris Theologie und Philosophie studiert.
Bild: nobody – pixelio.de