Rafael Luciani reflektiert ortskirchliche Erfahrungen im Horizont einer konsequenten Volk-Gottes-Ekklesiologie. Odilo Noti ordnet diese ein.
Zunächst eine nahezu banale Beobachtung: Was unter dem Stichwort «synodaler Prozess», bezogen auf Deutschland oder in weltkirchlicher Perspektive debattiert wird, ist Gegenstand unterschiedlicher Erfahrungen, Zugänge und Erwartungen – auch wenn, über das Ganze gesehen, in den Statements und Analysen ein skeptisch-kritischer Cantus firmus mit resignativen Obertönen zu vernehmen ist. Zur Illustration ein paar Beispiele.
Die Ordensfrauen für Menschenwürde unterstützen den synodalen Weg in Deutschland zwar nachhaltig, wie sie in ihrem offenen Brief betonen. Solange es aber «kirchenrechtlich keine Gewaltenteilung und keine wirksame Kontrolle von Macht gibt, ist eine Selbstbindung der Bischöfe unabdingbar». Mit Blick auf den weltweiten synodalen Prozess betonen die Ordensfrauen, dieser sei zu begrüssen. Gleichzeitig monieren sie, dass den Gläubigen nur in einer ersten Phase Raum gegeben werde, dann aber würden «dem Volk der Gläubigen kaum Möglichkeiten eingeräumt, an dem Reformprozess auch bis zuletzt mitzuwirken» [1].
Rainer Bucher wiederum hält den synodalen Weg für eine «nachholende Entwicklung». Diese habe kognitive und lebensweltliche Dissonanzen, welche durch die katholische Kirche lehramtlich und institutionell produziert würden, «aufzulösen oder wenigstens zu mildern»[2]. Das sei allerdings nicht mehr als eine blosse Voraussetzung dafür, dass die Kirche ihrer Botschaft Gegenwart und Zukunft geben kann. Deren Ausbuchstabieren im Horizont radikaler Freiheit und jenseits ihrer Konstantinischen Verfasstheit sei damit noch nicht geleistet.
der unsichtbare Elefant im Raum
Der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke schliesslich hält den synodalen Weg schlicht für eine Täuschung. Dieser simuliere nur Partizipation. Stattdessen werde die «Unterwerfung der Schafe unter ihre Hirten zementiert»[3]. – Aufschlussreich ist ein Einwurf von Hermann Häring in seiner Besprechung von Lüdeckes Buch «Die Täuschung». Die von Lüdecke gezeichnete Selbstunterwerfung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) greife historisch zu wenig weit. Diese reiche tiefer, nämlich in die Zeit des Kulturkampfes (1871–1878). Seit dieser Zeit lebte der deutsche Katholizismus «in einer Atmosphäre der selbstverständlichen Zuwendung zur Hierarchie» [4]. Was jedoch gravierender sei: Lüdecke (wie auch Hubert Wolf) würde die Unfehlbarkeitskritik von Hans Küng (Unfehlbar? Eine Anfrage, 1970) einfach übersehen. Das päpstliche Selbstverständnis (Primat und Unfehlbarkeitskompetenz) sei der unsichtbare Elefant im Raum.
Häring setzt – über Lüdekes Ansatz hinausgehend – zu einer grundsätzlichen Kritik kirchenreformerischer Geschichtsvergessenheit an: Gegen den Theologen Küng traf Rom damals «eine Grundentscheidung, deren lange Schatten allgegenwärtig sind. Was wird heute mit vielfachem Argumentationsaufwand alles an Reformforderungen zu Amts- und Zölibats-, Macht- und Genderfragen, zu Transparenz und Partizipation, zur Erneuerung der Sexualmoral erhoben! Die meisten Desiderate werden mit dem Pathos eines neuen Begehrens formuliert, obwohl sie schon alle in den 1960er und 1970er Jahren erhoben wurden …»[5]
Angesichts der durch Häring formulierten Kritik, aber auch angesichts der unterschiedlichen Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich des synodalen Prozesses kann eine Publikation des venezolanischen Theologen Rafael Luciani hilfreich sein: «Unterwegs zu einer synodalen Kirche. Impulse aus Lateinamerika»[6]. Zumindest dürfte sie ein paar theologische und kirchenpolitische Orientierungsmarken setzen.
Exemplarisch sei auf Lucianis ekklesiologische Überlegungen verwiesen, die er im zweiten Teil seines Buches unter dem Stichwort «Kirche als Volk Gottes» skizziert (vgl. besonders die Seiten 63–120). Dabei beginnt er mit der Beschreibung der gegenwärtigen Krise, die er – wenig überraschend – als Krise der Vorherrschaft eines klerikal-institutionellen Kirchenmodells identifiziert. In diesem Zusammenhang ist gar die Rede von einer «Konstantinischen Ekklesiologie». Einer solchen liegt eine ontologisch ungleiche Kirche zugrunde, gemäss derer «die Kirche des Klerus der Kirche der Laien überlegen und ihr gegenüber heiliger ist».
Kirche konsequent als «Volk Gottes» verstehen.
Die theologische Alternative Lucianis zum klerikalistischen Modell geht im Rückgriff auf die Konzilskonstitution Lumen Gentium vom konsequenten Bemühen aus, Kirche als «Volk Gottes» zu verstehen. Für die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums sei der Begriff ein zentrales hermeneutisches Kriterium mit normativem Charakter gewesen. Es komme darauf an, ihn zurückzugewinnen und – in Auseinandersetzung sowohl mit dem päpstlichen Primat als auch der bischöflichen Kollegialität – weiterzuentwickeln. Immer wieder stützt er seine Überlegungen mit folgenden grossen Konzilspersönlichkeiten: Kardinal Léon-Joseph Suenens, Bischof Joseph De Smedt oder dem Konzilsberater und Dominikaner Yves Congar. Aber auch Papst Franziskus ist präsent – etwa mit dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium. Es gelingt ihm aufzuzeigen, wie konsequent der im deutschsprachigen Raum oft nicht angemessen gewürdigte Argentinier eine Volk-Gottes-Theologie artikuliert und wie sehr sein Bemühen um eine Stärkung ortskirchlicher Inkulturation und Eigenständigkeit aus dieser Rezeption des Zweiten Vatikanums herrührt. Es ist ein eigentlicher Bruch mit Langzeitwirkung, den Franziskus im Verhältnis zu den ekklesiologischen Ideologien der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. herbeigeführt hat. Man muss ihm dafür dankbar sein.
Denn Lucianis Rekonstruktionen machen auch die Entfernung vom Geist und von den Texten des Konzils deutlich, die sich ab Mitte der achtziger Jahre unter den beiden genannten Päpsten Bahn gebrochen hat. Die Ekklesiologie dieser Zeit hat die hermeneutische und normative Kategorie «Volk Gottes» verdrängt und der «communio hierarchica» Priorität eingeräumt. Dieser folgenschwere Wandel der Ekklesiologie schlug sich in zahlreichen kirchenamtlichen Dokumenten nieder – etwa in der Instruktion der Glaubenskongregation Libertatis Nuntius, aber auch im Schlussdokument der Ausserordentlichen Bischofssynode von 1985 in Erinnerung zum 20. Jahrestag des Konzilsabschlusses. Pointiert bedeutet die Überbewertung der «communio hierarchica» gegenüber der «communio fidelium», dass erstere gegenüber letzterer als autark und absolut zu verstehen ist.
Sowohl der päpstliche Primat (des Einen) als auch die bischöfliche Kollegialität (der wenigen) sind dem Glaubenssinn des Gottes Volkes (von allen) nachgeordnet.
In Distanzierung von diesem pyramidalen Modell machte Franziskus in der Aufnahme und Weiterentwicklung von Lumen Gentium 2 und 3 klar, dass sowohl der päpstliche Primat (des Einen) als auch die bischöfliche Kollegialität (der wenigen) dem Glaubenssinn des Gottes Volkes (von allen) nachgeordnet sei und deshalb der ständigen Reform bedürfe. Ihre Daseinsberechtigung müsse sich im Kontext der Gläubigen, der «Christifideles» bewähren.
Dass die Hierarchie einen «transitorischen, historischen Charakter» habe, sie also auch kontingent und zwingend wandlungsbedürftig sei und ihr keinesfalls eine eschatologische oder selbstreferenzielle Qualität zukomme, hat Bischof De Smedt am Konzil formuliert, indem er kurz und bündig erklärte: «An erster Stelle steht das Volk Gottes». Dieser Topos ist im Sinne de Smedts von einer integrierenden Hermeneutik inspiriert, insofern darin nicht nur die Laien, sondern auch der Papst, die Bischöfe, Priester und Ordensleute eingeschlossen sind. Sie sind «alle untereinander verbunden und haben dieselben Pflichten». Die entscheidende Qualifikation zur Mitgliedschaft im Volk Gottes ist die Taufe. Von ihr her ist Kirche zu betrachten, nicht von der Hierarchie und auch nicht von der Weihe her. Evangelisierung oder Verkündigung des Wortes Gottes ist gemäss der Konzilskonstitution Presbyterum Ordinis ihre erste Funktion. An zweiter Stelle kommt die sakramentale Funktion und an dritter Stelle die Leitungsfunktion. Aufgabe der Hierarchie wiederum ist es, nicht nur die Ansicht der Bischöfe, sondern den «sensus ecclesiae totius populi» zum Ausdruck zu bringen. Dies erfordert eine grundlegende Reform auch der Theologie des Weiheamtes. So zeigt es Luciani immer wieder auf (vgl. S. 77; 81; 94).
Synodalität
Eine zweite Grundkategorie, die in diesem Rahmen nur knapp erwähnt werden kann, ist die Synodalität. Auch sie ist sach- und situationsgerecht in engem Zusammenhang mit dem Topos des Volkes Gottes zu verstehen. Es handelt sich um ein konstitutives und konstituierendes Merkmal einer Kirche, die das hierarchisch-institutionelle Modell überwinden will.
Nach Luciani (und etwas zurückhaltender auch nach der von ihm zitierten Internationalen Theologischen Kommission) ist Synodalität weder auf ein bestimmtes Ereignis (z.B. eine Synode) noch auf eine bestimmte Methode (z.B. die Ausübung bischöflicher Kollegialität) zu reduzieren (vgl. S. 48). Ebenso wenig darf sie mit blossem Zuhören im traditionellen Sinn verwechselt werden. Stattdessen geht es um «die Konfrontation verschiedener Standpunkte, in einer Atmosphäre und mit einer Methode der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung», und «um die Entwicklung eines Stils, der Zuhören, Auseinandersetzungen, Dialog und eine geteilte Machtausübung auf der Grundlage von konsensbildenden Praxisformen beinhaltet» (S. 50).
Was alle betrifft, muss von allen diskutiert und gebilligt werden.
Kurz: Synodalität bringt eine neue Kirchlichkeit, eine Ekklesiogenesis hervor, die wiederum zu einer veränderten Ekklesiologie führt. Anders formuliert ist Synodalität ein kirchlicher Weg des Vorangehens. Luciani bestimmt diesen Weg als eine konstitutive, prozessuale Realität. Synodalität beinhaltet deswegen «die ständige Überprüfung von Lebensstilen (Geist) und Beurteilungspraktiken (Methode) auf allen Ebenen und in allen Strukturen der Leitung. Sie ist die Anwendung des klassischen mittelalterlichen Grundsatzes, wonach das, was alle betrifft, von allen diskutiert und gebilligt werden muss» (S. 48). Noch einmal Luciani: «Gefordert ist die Synodalisierung der ganzen Kirche … sie ist als solche ein transversaler Dreh- und Angelpunkt». Es versteht sich von selbst, dass eine so verstandene Synodalität nach grundlegenden Reformen des Kirchenrechts verlangt.
Lucianis Gedankengang, so ist im Sinne eines vorläufigen Fazits zu betonen, verdankt sich in letzter Instanz weder theologischen Konstrukten noch theoretischen Rekonstruktionen. Er speist sich aus konkreten Erfahrungen einer Ortskirche – deshalb der Untertitel seines Buches: «Impulse aus Lateinamerika».
Wie er anschaulich aufzeigt, hat die lateinamerikanische Ortskirche die Volk-Gottes-Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums bereits an der Bischofsversammlung in Medellín (1968) auf breiter Ebene rezipiert und weiterentwickelt. So hat sie das Verständnis der Kirche als Volk Gottes mit der Option für die Armen in einen konkreten gesellschaftlichen und sozialen Kontext inkulturiert und sich damit als «Kirche der Kirche», d.h. als katholische Ortskirche konstituiert – durch alle internen Widersprüche hindurch und trotz der massiven kirchlichen Bekämpfung der Theologie der Befreiung, angeführt von Johannes Paul II. und Benedikt XVI.
Prozess theologisch-kultureller Neugestaltung der Ortskirchen
Im dritten und letzten Teil seiner Reflexionen mit dem Titel «Synodalität als ein Prozess theologisch-kultureller Neugestaltung der Ortskirchen» liefert Luciani konkrete Fallstudien. Lateinamerikanischer Bischofsrat (Celam), venezolanisches Plenarkonzil, Kirchenversammlung von Amazonien: so lauten entsprechende Stichworte. Sie verdienen eine vertiefte Auseinandersetzung, denn sie enthalten Anstösse, die auch hierzulande fruchtbar gemacht werden müssten.
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Odilo Noti, Dr. theol., ist u.a. Präsident der Herbert Haag Stiftung für Freiheit in der Kirche.
Bild: Jacob Mejicanos / unsplash.com
[1] https://www.feinschwarz.net/offener-brief-der-ordensfrauen-fuer-menschenwuerde/
[2] https://www.feinschwarz.net/synodaler-weg/
[3] Vgl. https://www.feinschwarz.net/synodale-komplizenschaft/
[4] https://www.hjhaering.de/vertrauensvorschuss-oder-selbstbetrug-zum-buch-die-taeuschung-von-norbert-luedecke/
[5] https://www.hjhaering.de/warum-ich-katholisch-bleibe-zum-missio-entzug-von-hans-kueng-vor-40-jahren/
[6] Erscheint Mitte April 2022 in Englisch bei Paulist Press und auf Deutsch in der Edition Exodus (Luzern), mit einem Vorwort von Norbert Arntz, 176 Seiten, ISBN 978-3-905577-89-1.