In ihrem neuen Buch macht sich Elke Pahud de Mortanges auf die Suche nach dem Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums. Was sie findet, ist queer. Von Stefan Hunglinger.
Gabys Hände ruhen auf den Oberschenkeln. Auf ihrem Bauch ist eine krumme Narbe zu sehen, sie trägt einen leuchtend weißen BH. Über dem Kopf der trans Frau aus Lima schwebt eine enorme Dornenkrone. Gaby blickt frontal in die Kamera, ihr Blick scheint eine Antwort zu verlangen.
Gaby blickt frontal in die Kamera, ihr Blick scheint eine Antwort zu verlangen.
Das neue Buch von Elke Pahud de Mortanges möchte eine solche Antwort geben. Ausgehend von der Fotografie Gaby aus der Serie Virgines de la Puerta von Andrew Mroczek und Juan José Barboza-Gubo, untersucht die Theologin die Rolle des Körpers in den Erinnerungskulturen des Christentums.
„Bodies of Memory and Grace“ ist ein durch und durch katholisches Buch. Denn es tritt an gegen das lutherische Sola scriptura. „So richtig und so wichtig Schrift und Wort, Bibel und Texte sind“, schreibt Pahud de Mortanges in ihrem Vorwort, „so lassen sie uns doch allzu leicht vergessen, dass der primordiale, eigentliche Gedächtnisort des Christlichen der Körper ist. Das Wort ist nicht Buch, sondern Fleisch geworden.“
„der primordiale, eigentliche Gedächtnisort des Christlichen [ist] der Körper“
Katholisch ist „Bodies of Memory and Grace“ auch in seiner weltumspannenden Perspektive. Durch die Wahl von Gaby als Leitmotiv ist ein gewisser Fokus auf den peruanischen – nicht gerade queerfreundlichen – Kontext gegeben. Pahud de Mortanges beschreibt jedoch auch „individuelle und überindividuelle Formen des Embodiments“ in den christlichen Erinnerungskulturen der Levante, der Philippinen und Mexikos. Mit schweizerischer Selbstverständlichkeit setzen Autorin und Verlag bei ihren Leser*innen Mehrsprachigkeit voraus.
Pahud de Mortanges arbeitet als außerplanmäßige Professorin in Freiburg und als Lehrbeauftragte in Fribourg. Ihr Fach ist die Dogmatik, in diesem Buch tritt sie aber nicht als Dogmatikerin auf. Eher als Kulturwissenschaftlerin, für die Europa nicht weniger fremd ist, als die anderen Erdteile. Gerüstet mit den hermeneutischen Werkzeugen der Theoretiker*innen Jan und Aleida Assmann sowie Judith Butlers, deckt Pahud de Mortanges weitgehend Unbekanntes aus der europäischen Christentumsgeschichte auf und lässt Bekanntes in neuem Licht dastehen.
Darstellungen der Seitenwunde Jesu in Gebetbüchern des 14. Jahrhunderts als Vulva interpretiert
Etwa, wenn sie die asketischen und selbstverletzenden Praktiken eines Heinrich Seuse oder einer Klara von Assisi nicht als Abtötung – also Neutralisierung – des Fleisches liest, sondern gerade als intensive körperliche Erfahrung. Oder wenn sie Darstellungen der Seitenwunde Jesu in Gebetbüchern des 14. Jahrhunderts als Vulva interpretiert. Der Passionsleib Jesu: für Elke Pahud de Mortanges sprengt er die Gendergrenzen.
Auf dem zügig beschrittenen Weg hin zur Gegenwart hält Pahud de Mortanges in ihrem reich bebilderten Buch noch bei der Kunst der Moderne. Sie vermag zu zeigen, wie Frida Kahlo, Marina Abramović und Alfred Hrdlicka christliche Körpermotive fortgeschrieben, adaptiert, performt und transponiert haben.
Kunst der Moderne: christliche Körpermotive fortgeschrieben, adaptiert, performt und transponiert
„Bodies of Memory and Grace“ mündet in einem Plädoyer für die Anerkennung queerer Menschen im Innenraum des Christentums. Denn schließlich will es Antwort geben auf das Leben, den Blick, die Narbe einer Person. Gabys BH ist weiß – in der christlichen Ikonografie die Farbe der Unschuld und der Jungfrau Maria. „Solchermassen als Virgen und body of grace ausgewiesen, trägt sie jedoch nicht das Kind Jesus im Arm und stillt es. Nein, sie trägt über ihrem Haupt die Dornenkrone des erwachsenen und verhöhnten Jesus.“ Leidenswerkzeug und Zeichen königlicher Würde zugleich.
Plädoyer für die Anerkennung queerer Menschen im Innenraum des Christentums
Für Pahud de Mortanges ist Gaby damit auch ein body of memory. Die Verkörperung einer „Erinnerung, die gefährlich ist und namentlich ein Stachel im Fleisch des hegemonialen Christentums.“
„Bodies of Memory and Grace“ ist keine theologische Abhandlung im herkömmlichen Sinn. Es ist eine überraschende Spurensuche. Stachelig und vorwärtsgewandt.
Elke Pahud de Mortanges, Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums, Pano Verlag 2022, 238 Seiten, 26,90 €
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Stefan Hunglinger ist Journalist, unter anderem für die taz. Er hat Theologie und Religionswissenschaft studiert.
Bild: Vulva / Geburtskanal der Kirche / Seitenwunde Jesu, Miniatur 14 aus dem Psalter der Bonne von Luxembourg, 1348-49, MS 331r. The Cloisters Collection 1969, attributed to Jean Le Noir | The Prayer Book of Bonne of Luxembourg, Duchess of Normandy | French | The Metropolitan Museum of Art (metmuseum.org)