Am Katholikentag in Stuttgart hat die Initiative GottesSuche den Aggiornamento-Preis erhalten. Zwei Frauen aus dem Leitungsteam von GottesSuche, Barbara Haslbeck und Erika Kerstner, freuen sich darüber und geben Einblick in die Arbeit der Initiative.
GottesSuche gibt es seit 20 Jahren. Am Anfang standen ein großes Unbehagen und viele Fragen: Für Menschen mit Missbrauchserfahrungen gab es Angebote aus dem Bereich der Lebenshilfe, oftmals mit esoterischem und misogynem Charakter – erinnern wollen wir beispielsweise an Familienaufstellungen im Geiste Bert Hellingers, die auch im kirchlichen Umfeld gern angeboten wurden. Gleichzeitig wuchsen charismatisch-christliche Gruppierungen, deren Versprechen Betroffenen zwar kurzfristige Heilung verheißen, aber keinen seriösen Umgang mit den Folgen des Missbrauchs darstellen. Wo können Betroffene hin, die im Leben mit dem Missbrauch keine schnellen Antworten und keine spirituellen Trostpflaster suchen? Wo finden Betroffene Denkräume, in denen Glaubensfragen Platz haben? Wie kann ein christlich verantwortetes Angebot aussehen, das theologisch reflektiert ist? Wie können Betroffene sich miteinander vernetzen und sich in aller Unterschiedlichkeit wechselseitig stärken? Wo gibt es solide Informationen zu Glaube nach Gewalterfahrung und zum Thema Missbrauch in den Kirchen?
Graswurzelbewegung von Betroffenen
Entlang dieser Fragen ist die Initiative Gottessuche gewachsen. Von Anfang an war es eine Graswurzelbewegung von Betroffenen, für sie und mit ihnen. Selbstverständlich ökumenisch, denn Missbrauch betrifft alle. Die Menschen, die sich bei GottesSuche beteiligen, sind sehr unterschiedlich: sie gehören zu den beiden Großkirchen oder freikirchlichen Gemeinden, und auch Ungetaufte und Ausgetretene nutzen GottesSuche als Gesprächsraum. Es sind Patchwork-Christinnen dabei, die in verschiedenen Kirchen das suchen, was sie brauchen. Sie sind zwischen Ende 20 und Mitte 70 Jahre alt. Ledig, verheiratet, geschieden, in Orden lebend, unterschiedlicher sexueller Orientierung. Haupt- und ehrenamtlich in Kirchen aktiv, berufstätig, aufgrund der Gewaltfolgen frühberentet. Die koordinierende Leitung von GottesSuche übernimmt derzeit ein ehrenamtliches Team von zwei katholischen Theologinnen und einem evangelischen Theologen. Frauen sind bei GottesSuche deutlich in der Mehrheit, wenngleich die Situation von Männern mit Missbrauchserfahrung derzeit vermehrt auftaucht.
Zentrale Aufgabenfelder
In 20 Jahren haben sich folgende Aufgabenfelder als zentral herausgestellt:
- Die Einzelbegleitung von Betroffenen durch das Leitungsteam von Gottessuche, in der Regel per Mail;
- Vernetzung und Austausch von Betroffenen in einer Mailingliste;
- wöchentlicher Bibel-Chat;
- jährliche Treffen (Wochenende) zu einem biblischen Thema;
- Bereitstellen von Informationen für Betroffene und deren Begleiter*innen zum Thema Glaube nach Gewalterfahrung auf der Homepage;
- tagesaktuelles Einstellen von Presseberichten zum Thema Missbrauch;
- Veröffentlichungen und Schulungen zum Thema „Seelsorge nach Missbrauch“ und „Traumasensible Pastoral“.
In Zahlen ausgedrückt sieht die Arbeit von GottesSuche so aus: Täglich kamen im Jahr 2021 im Durchschnitt 125 Besucher*innen auf die Homepage. Das sind 3.800 Besucher*innen pro Monat und etwa 46.000 im Jahr. Etwa die Hälfte der Besucher*innen schaute wiederholt auf die Seite. Zum Herzstück der Arbeit von GottesSuche gehört eine Mailingliste. Hier schreiben Betroffene Mails an eine Gruppe, deren Teilnehmerinnen zugelassen wurden. In der Mailingliste wurden im Jahr 2021 täglich im Schnitt neun Mails geschrieben, das sind 3.483 Mails im Jahr. Außerdem stellten wir im letzten Jahr unter „Aktuelles“ an die 1.660 Meldungen zum Thema Missbrauch ein.
Enorm hohes Maß an Frustrationstoleranz
Zur Statistik gehören auch unzählige Mails an kirchliche Stellen, die nur in sehr seltenen Fällen reagierten. Das erforderte ein enorm hohes Maß an Frustrationstoleranz.
Diese Zahlen können veranschaulichen: Nach 20 Jahren ist GottesSuche den Kinderschuhen entwachsen. Die Initiative hat sich als spezifisches Angebot von und für Betroffene etabliert. Übrigens ist GottesSuche mit der kirchenunabhängigen Fokussierung auf die Frage des christlichen Glaubens nach Missbrauchserfahrung nach wie vor Alleinanbieterin. Im deutschsprachigen Raum gibt es keine vergleichbare Einrichtung.
Wenn GottesSuche nun den Aggiornamento-Preis des Katholikentages erhalten hat, freut uns das sehr. Das setzt mehrere wichtige Signale:
Betroffene sind in der Mitte der Kirchen
Lange herrschte in den Kirchen die irrige Einschätzung vor, dass Betroffene, insbesondere solche, die durch Kirchenleute geschädigt wurden, mit Kirche und Glaube nichts mehr zu tun haben wollen. Es stimmt, dass viele Abstand suchen, und das hat gute Gründe. Doch nicht alle haben sich verabschiedet. Betroffene haben Erwartungen an die Kirchen. Sie sind keine kaputten Existenzen am Rande, sondern normale Menschen, die sich als Kirchenmitglieder wahrnehmen. Vielfach erzählen Betroffene bei Gottessuche davon, wie sehr es sie schmerzt, mit ihren Erfahrungen in den normalen Kirchengemeinden nicht dazu zu gehören. Sie kommen nicht vor. Nicht die Tatsache, dass Familien nicht immer heil und Kindheit nicht immer glücklich sind. Nicht die Erfahrung, wie schwer es sein kann, an einen guten lieben Gott zu glauben, wenn Vertrauen so gebrochen wurde. Normale Gottesdienste können zur emotionalen Achterbahnfahrt werden, wenn vom mächtigen Vater und von der heilsamen Vergebung gesprochen wird.
Wir rechnen immer und überall damit, dass Betroffene anwesend sind.
Der Aggiornamento Preis setzt das Zeichen: Wir wissen, dass unter uns Menschen mit Missbrauchserfahrungen sind. Wir reden nicht über bedauerliche Einzelfälle, sondern rechnen immer und überall damit, dass Betroffene anwesend sind. In jeder Gruppe mit vier Personen ist statistisch gesehen eine Person dabei, die Übergriffe erleben musste. Das hat Konsequenzen für Pastoral und Verkündigung.
Eigenständigkeit und Selbstbestimmung erwünscht
Was bei GottesSuche in 20 Jahren gewachsen ist, wurde von den Betroffenen selbst entwickelt. Unbezahlt und ungebunden an eine christliche Konfession und Institution. Diese Unabhängigkeit ermöglicht eine große Freiheit. Der gemeinsame Nenner sind die jüdisch-christlichen Gründungsdokumente der Bibel. Einzige Prämisse: Die Personen im Leitungsteam achten auf wissenschaftlich verankerte theologische Qualität und traumasensiblen Umgang mit zentralen Themen wie Vergebung, Gottesbilder oder Umgang mit Leid.
GottesSuche ist Denk- und Sprechraum für Betroffene.
GottesSuche ist Denk- und Sprechraum für Betroffene, unabhängig davon, wo sie geschädigt wurden: als Kinder und/oder Erwachsene, in der Familie, im sozialen Nahraum, durch Kirchenleute. Zu Recht weisen Betroffene, die Missbrauch in ihren christlichen Familien oder im sozialen Nahraum erlebt haben, darauf hin, dass sie noch kaum im Blick ihrer Kirche und ihrer Mitchrist*innen sind. Auch sie wollen wahrgenommen werden und der Rede wert sein.
Dass in den letzten Jahren das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche zum Top-Thema wurde, ist wichtig und gut. Betroffene brauchen sichere Strukturen und die Bereitschaft zu glaubwürdiger Aufarbeitung. Wichtig ist es, das Leid der Betroffenen nicht zum Motor für Kirchenreform zu machen. Auch hier gilt: Leid ist Leid und nichts sonst. Es darf nicht verzweckt werden. Selbst an dieser Stelle wollen Betroffene unabhängig und selbstbestimmt sein.
ähnliche Erfahrungen, aber unterschiedliche Wege des Umgangs
Eine Lernerfahrung bei GottesSuche ist auch: Es gibt kein „Wir“ unter Betroffenen. Es gibt nicht „die Betroffenen“. Jede Person hat andere Erfahrungen und Ressourcen. Es entstehen Konflikte, wenn homogenisiert wird. Auch diese Erkenntnis gehört zum Erfolgsgeheimnis von GottesSuche. Die Erfahrungen sind ähnlich, die Wege des Umgangs damit aber unterschiedlich. Der christliche Glaube gibt keinen linearen Weg vor, sondern lässt Raum für selbstbestimmte Suche.
Betroffene zeigen sich
Bei der Preisverleihung stand GottesSuche im wahrsten Sinne des Wortes auf der Bühne. Stellvertretend für viele haben wir den Preis entgegengenommen und uns gezeigt. Auch das ist eine Entwicklung der letzten 20 Jahre: Betroffene zeigen sich. Nicht alle können das und das hat gute Gründe. Aber die Entwicklung zur Bereitschaft „Me too“ zu sagen, ist doch auffallend. Das wird beispielsweise deutlich bei den Diskussionen des Synodalen Weges, als klar wurde: Wir brauchen die Beteiligung Betroffener, die unter diesem Mandat mitdiskutieren. Ähnliches gilt für die allerorts entstehenden Betroffenenräte. Auch die neue Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen sexuellen Missbrauchs zeigt sich als selbst Betroffene.
In Gesellschaft und Kirchen wächst die Bereitschaft, Betroffene mit ihren besonderen Fähigkeiten wahrzunehmen.
Gewachsen im Lande des Elends
Vor zwei Wochen traf sich eine Gruppe von GottesSuche-Frauen zu einem Wochenende, bei dem wir uns mit der Josefsgeschichte im Buch Genesis auseinandersetzten. Josef kommt aus einer Familie mit Verwerfungen. Er wird verraten und verkauft. Sein weiterer Weg geht durch Höhen und Tiefen. Im Rückblick schließlich sagt er: „Gott ließ mich wachsen im Lande des Elends“ (Gen 41,52). Dieser Satz spricht vielen Betroffenen aus dem Herzen. Das Elend ist groß und lebenslang kann das Trauma zuschlagen. Und doch machen Betroffene die Erfahrung, dass es Boden unter den Füßen gibt. Das bedeutet: Das Leid mitteilen zu können und damit nicht mehr allein zu sein. Zu entdecken, dass im Inneren ein unverletzbarer Kern ist, dem der Missbrauch nichts anhaben konnte.
Was beim Wochenende der Betroffenen als individuelle Erfahrung wahrgenommen wurde, gilt auch für die Initiative GottesSuche: Sie ist gewachsen im Lande des Elends. Es wäre gelogen, wenn wir verschweigen würden, dass diese Arbeit sehr fordert. Oft belächelt und als Nische abgetan, als zu kritisch abgestempelt oder zu wenig konfessionell. Aber wir werden auch reich beschenkt von dem Vertrauen, das Betroffene uns entgegenbringen Wir dürfen Zeuginnen werden, wie Menschen vorsichtig neu lernen: Ich wachse trotz des Schweren. Wir freuen uns über Verbündete, Seelsorger*innen, Berater*innen und Journalist*innen, die bei GottesSuche anklopfen und lernen wollen. Alle zusammen tragen wir dazu bei, die christliche Hoffnung zu verheutigen.
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Dr. Barbara Haslbeck gehört zum Leitungsteam von GottesSuche und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg, tätig in einem Forschungsprojekt zu Missbrauch an Ordensfrauen.
Erika Kerstner ist Initiatorin von GottesSuche und gehört zum Leitungsteam. Sie ist (Religions-)Lehrerin i.R.
Homepage: www.gottes-suche.de
Beitragsbild: Katholikentag Sharepoint