Nicht die Strafe, sondern die Haltung zu Jesus Christus und seiner Reich Gottes-Botschaft macht das christliche Martyrium aus. Von Roman A. Siebenrock.
Martyrium ist ein heikles Phänomen. Im üblichen Gerede der Öffentlichkeit wird es als das Argument gegen Religion verwendet. Wer ist schon auch so ver-rückt, sein Leben zu verschleudern – und dazu noch für solch‘ unbegründete Vorstellungen? Der vorgegauckelte Lohn im Jenseits entlarve jede Religion als Hirngespinst. So flott, so billig.
Martyrium: ein heikles Phänomen
Wer unsere Geschichte etwas kennt, vor allem die Geschichte des Militärs und der Attentate, weiß, dass unter dem Stichwort „freiwilliger Lebenseinsatz“ ein Menschheitsphänomen angesprochen wird. Vor allem das sogenannte „aufgeklärte Zeitalter“ sollte sich dessen erinnern, wofür es Menschen in den Tod laufen ließ, ja dazu massiv animierte und zwang: „Vaterland“, „Rasse“, „die klassenlose Gesellschaft“ oder der Fortschritt boten hinreichend Motivation, sich zu opfern oder dafür zu töten. Dann wäre das „Martyrium“ aber nur ein weiteres Symptom für die allgemeine Pathologie des Menschseins? Menschen als Wesen der Grenze, des Übergangs, sind, so oder so, „border-line-Existenzen“.
Einsatz des Lebens als herausragendes Zeichen gegen Tyrannei, Elend und Gewaltverstrickungen
So einfach aber ist auch wieder nicht. Denn es gibt Menschen, deren Mut und Lebenseinsatz herausragende Zeichen der Humanität gegen Tyrannei, Elend und Gewaltverstrickungen waren und sind. Ich denke an Sokrates, an Gandhi, an Martin Luther King, an den Widerstand gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, und so viele Menschen, die lieber starben, als sich dem Unrecht zu beugen, und sich der Hetzjagd des Üblichen widersetzten, ausdrücklich Gläubige und so viele, die sich so nie bezeichnet hätten, aber auch an alle jene Menschen, die in der Pflege, im medizinischen Einsatz, ja auch im ganz alltäglichen Dienst bereit sind, ihr eigenes Leben für andere einzusetzen. Wir alle leben vom Opfer, der Hingabe, ja auch vom Sterben der anderen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Unterscheidung tut daher Not.
Eine solche Unterscheidung der Geister kann hier für den ganzen Phänomenbereich nicht vorgelegt werden. Aber vielleicht fällt von der Intention dieses Beitrags auch ein Licht auf andere Vorkommnisse der Lebenshingabe. Ich möchte hier nur von der Geschichte des christlichen Martyriums erzählen, um daraus Kriterien zu gewinnen, mit diesem Phänomen heute sorgfältig umzugehen. Diese christliche Orientierung ist deshalb nahe liegend, weil der Begriff „Martyrium“ aus der griechischen Sprache in alle Sprachen der Gegenwart, aber auch schon in der Antike ins Latein übersetzt worden ist. Und in dieser Übersetzung hat der Begriff die urchristliche Bedeutungsverschiebung mittransportiert.
Ein Märtyrer war ursprünglich ein Zeuge, dann aber, vor allem in der Wirkungsgeschichte der christlichen Märtyrerakte von Bischof von Polykarp (+160), hat sich der Begriff als Bezeichnung des „Blutzeugen“ durchgesetzt. Ein Märtyrer ist bis heute eine Person, die wegen ihrer Überzeugung getötet wird. Dieser Opfercharakter führte unter dem kulturellen Einfluss des Christentums nun aber dazu, einen Märtyrer zunächst positiv zu besetzen. Daher ist der Begriff „Märtyrer“ bis heute auch eine beliebte mediale Metapher und oft eine Form der Propaganda, die Sympathien der Hörenden gegen jene zu mobilisieren, die diese Person töteten. Weil der Begriff „Märtyrer“ also die Sympathien verschiebt, ist es uns aufgetragen, sehr sorgfältig mit ihm umzugehen. Welche Person sollte „Märtyrerin“ genannt werden?
Glanz und Elend der christlichen Märtyrertradition
Am Beispiel des Heiligen Sebastian können Wege und Unwege der christlichen Märtyrertradition aufgezeigt werden. Der Heilige Sebastian ist das Paradebeispiel einer unbezähmbaren Lust an Variationen des Schmerzes und der Nacktheit. In den künstlerischen Ausdrucksformen dieser Variationen lässt sich dann schließlich nicht mehr zwischen Erotik und Passion unterscheiden. Als kulturelles Erinnerungsbild ist der gefesselte, nackte, von Pfeilen durchbohrte, die Augen gen Himmel gerichtete, und irgendwie immer schön strahlende Körper dieses Heiligen nicht nur ein Sinnbild eines Heroismus, der den Schmerz nicht nur überwindet, sondern offensichtlich gar nicht kennt, sondern auch die Verwechslungsfigur mit jenem Schönen, der von den Pfeilen des Amors getroffen wird.
Es sollte niemanden wundern, dass der Heilige zum Schutzpatron der Homosexuellen, nicht kirchlich, aber „von unten“ erkoren worden ist; und dass manchen Darstellungen nur noch einen schönen, toten und nackten jungen Mann zeigen. Wer weiß schon, dass er nicht an diesen Pfeilen gestorben ist, sondern schließlich enthauptet in den Abfallkanal von Rom geworfen wurde. Weil wir wenig historisch wissen und die fromme Legende immer auch ihre eigenen Ängste und Vorstellungen in die Erzählung hineinflicht, lässt sich diese Gestalt nahezu unerschöpflich variieren. Und die Künstler in einem „christlichen Zeitalter“, in dem die kirchlichen Auftraggeber Sujet und Darstellungsform bestimmen, können in dieser Figur alle Formen des männlichen Aktes variieren.
Wenn also unsere eigene Tradition so variabel ist, wie könnte sie für Kriterien der Unterscheidung überhaupt dienen? In der katholischen Tradition gibt es aber neben dem frommen Sinn und der ausufernden Bilderwelt das Gegengewicht im dogmatischen Regelwerk, das durch das Kirchenrecht auch operationale Verbindlichkeit gewinnen kann. Das kanonische Verfahren einer Seligsprechung bietet bis heute gute Kriterien für die Unterscheidung der Geister.
Wer ist ein Märtyrer: die traditionellen Unterscheidungskriterien
Papst Benedikt XIV. (1740-1758), der letzte Präfekt der „Glaubensbehörde“, der vor Benedikt XVI. Papst geworden ist, hat das kanonische Verfahren im Rückgriff auf die Kriterien des Heiligen Thomas von Aquin neu geregelt. Sie sind bis heute von Bedeutung. Das erste Kriterium („martyrium materialiter“) sagt, dass ein Märtyrer getötet worden oder an den Folgen seiner Folter und Haft gestorben sein muss. Martyrium bedeutet „Blutzeugnis“, Besiegelung des Glaubens mit dem eigenen Leben. Das formale Kriterium, also die Rücksicht, unter der die Person zu Tode gekommen ist, wird unterschieden.
Unbedingte Gewaltfreiheit
Die Tötungsmacht („ex parte tyranni“: von Seiten des Tyrannen) muss aus Hass gegen Kirche und christlichen Glauben gehandelt haben. Das Handeln des Opfers, das zur Tötung führt, muss ausdrücklich als Zeugnis des Glaubens erkennbar sein. Diese Kriterien sollen den Kern des Martyriums in der Geschichte erkennbar halten: die Gegenwart des Kreuzestodes Jesu, der gewaltfrei für die vielen, ja auch für seine Mörder um Vergebung bittend, sein Leben dahingab und so sich seinem Vater im Gehorsam verbunden wissen durfte. Deshalb kann als generelles strenges Kriterium festgehalten werden: Die unbedingte Gewaltfreiheit ist die „conditio sine qua non“, um vom Martyrium sprechen zu können.
Ein zweites, von Augustins erstmals formuliertes Kriterium wird in der traditionellen Kriteriologie eher stillschweigend vorausgesetzt: „non poena, sec causa facit martyrium“ („nicht die Strafe, sondern der Grund macht das Martyrium“). Das bedeutet, auch gegen die christlichen Legenden, dass nicht der schmerzfreie Heroismus und die exorbitante Phantasie der Folter und des Quälen als Martyrium zählt, sondern allein der Grund: Zeugnis Christi und Hass gegen Kirche und Glauben.
Wer sind Märtyrerinnen? Die Erneuerung des Martyriums im 20. Jahrhundert
Die Erneuerung der Theologie und des kanonischen Verfahrens des Martyriums kann ziemlich genau zeitlich festgelegt werden. Als Johannes Paul II. Anfang der 80er Jahre das Heiligsprechungsverfahren für Maximilian Kolbe auf die Frage des Martyriums hin neu ausrichtete, wird die Frage aufgeworfen, was integral zum Zeugnis des christlichen Glaubens gehöre. Schon zuvor wurden im Falle des italienischen Mädchens Maria Goretti moralische Implikationen des christlichen Zeugnisse gewürdigt. Ab diesem Zeitpunkt ist der Einsatz gegen Totalitarismus und Menschenrechte, das Zeugnis für Israel im Nationalsozialismus und – im letzten Jahr – der Protest von Erzbischof Romero gegen das Unrecht selbst einer Regierung von getauften Katholiken als unbedingtes Zeugnis des christlichen Glaubens anerkannt worden.
Auf diesem Hintergrund können nun ein Bündel von Kriterien zur Unterscheidung der Geister vorgestellt werden.
1. Der Märtyrer ist eine Person, die gewaltsam getötet wird oder an den Folgen der Haft und der Folter stirbt.
Das Martyrium ist ein Glaubensakt, der alle kirchlichen Vermittlungen überragt.
2. Das Martyrium ist ein Glaubensakt, in dem Christus selber repräsentiert wird und daher alle kirchlichen Vermittlungen überragt. Dieser Glaubensakt ist grundgelegt in der durch die Taufe gestifteten Beziehung des Glaubenden zu Christus in seiner Kirche. Daraus entwickelt sich die eucharistische Dimension der Lebenshingabe in der Nachfolge Christi.
Dieser Glaubensakt ist frei. Das Martyrium ist ein Charisma, das selber nicht erzwungen, provoziert oder anderen auferlegt werden darf: Gnade des Martyriums als Vollendung der Taufe.
Dieser Glaubensakt steht treu in der Nachfolge des demütigen und armen Jesus Christus und repräsentiert die gewaltlose, erlösende Liebe Gottes am Kreuz. Das Martyrium ist ein, ja das Sakrament der Erlösung in einer Welt diffuser Gewalt, dem wesentlich eine Dimension innergeschichtlicher Befreiung, mindestens einen Akt der Gewaltunterbrechung eignet. Deshalb ist das Martyrium im intensiven Sinne gewaltfrei.
Dieser Glaubensakt kann sich mit der Todesangst Jesu im Garten vereinen und muss daher nicht angstfrei erlebt werden.
Das Martyrium deckt verdeckte Gewaltmechanismen der Gesellschaft auf.
Dieser Glaubensakt wird oftmals als sittliche Konsequenz des Glaubens öffentlich; sei es individualethisch oder sozial-politisch. Das Martyrium deckt so die verdeckten Gewaltmechanismen der jeweiligen Gesellschaft auf (siehe: Widerstand gegen die Anbetung des Tieres in Offb. 13,1-4) und ist daher ein kritisches Korrektiv gegenüber der mitunter prekären Aussage des Paulus, dass alle staatliche Autorität von Gott stamme (Röm 13).
Dieser Glaubesnakt kann als Eintreten für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden von allen Menschen vollzogen werden.
Dieser Glaubensakt kann auch von Nicht-Getauften als Eintreten für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden von allen Menschen vollzogen werden. Das Martyrium widersteht der Tötungsmacht und tritt in der Kraft der Vergebung für die mögliche Erlösung der Mörder bei Gott ein.
3. Der Märtyrer wird (oftmals nur) getötet, weil er sich zum Glauben und zur Kirche bekennt; ja bisweilen nur, weil er Mitglied der Glaubensgemeinschaft ist.
Der kirchenbekennende Akt des Märtyrers stellt eine ökumenische Option für die Einheit der Kirche dar (und des ganzen Volkes Gottes: Martyrium pro Israel).
Ordination durch Lebenshingabe
Weil das Martyrium seit der Zeit der Kirchenväter als die höchste Form der Gegenwart Christi in der Geschichte gilt; und daher alle Sakramente zu ersetzen vermag, ziehe ich daraus die Konsequenz, dass Frauen, die als Märtyrerinnen anerkannt worden sind, durch diese Lebenshingabe ordiniert werden, weil ihr eigener Leib zum Sakrament der Gegenwart Christi geworden ist. Deshalb können Frauen nicht grundsätzlich vom Sakrament der Ordination ausgeschlossen werden.
Kein Kult des Heroismus
4. Das Gedenken an die Märtyrer sollte daher drei Dimensionen haben. Es gedenkt aller Opfer und versagt sich einem exklusiven Kult des Heroismus. Es lebt von der Hoffnung auf die neue Gerechtigkeit Gottes und unterbricht daher mit der Vergebungsbitte (in Erinnerung an das Wort Christi vom Kreuz) einen möglichen Kreislauf der Rache. Es erinnert schließlich auch an das Versagen der eigenen Glaubensgemeinschaft und ermöglicht so eine Umkehr, die in der Gegenwart neue Achtsamkeit für die verborgenen Strukturen der Gewalt einfordert.
Um es zusammenzufassen: Nicht die Strafe, nicht allein die Ursache, vor allem die Haltung aus der Beziehung zu Jesus Christus und seinem Herzensanliegen des gegenwärtigen Reiches Gottes macht das Martyrium aus. In dieser Sicht des Martyriums kann unter den Bedingungen dieser Geschichte der soteriologische Grund des christlichen Glaubens auch für eine „säkulare“ Perspektive in Jesu Liebesgebot, das selbst den Feind nicht ausschließt, ansichtig werden. Das Geheimnis der Erlösung liegt in der Erinnerung und verwirklicht sich als Vergebung.
(Roman Siebenrock; Photo: Merle Stechow, pixelio.de)