Christine Funk liebt die (ostdeutschen) Kirchen, die nicht re-historisiert restauriert werden, denn sie lassen in ihrer Sprödigkeit viel eher persönliche Zugänge zu und setzen Kreativität frei, als die Kirchen, die zwar „stilecht“ und passend … letztlich zuerst die kunsthistorische Lektüre erfordern. Und so lange „Gegenüber“ bleiben.
Ziemlich hinten in der St. Marienkirche in Prenzlau hatte ich mich hingesetzt. Auf einen Stuhl. Die witzigen lila Liegestühle mit der Aufforderung zu ruhen (Gen 2,2) fand ich für meine Körperlänge zu kurz und zu unbequem.
Ich ließ die Größe des Raums auf mich wirken, nahm dankbar zur Kenntnis, keine Kanzel hier, keine Heiligen-Deko, die große aufwärtsstrebende Größe des Bauwerks umgab mich, der Hall der Geräusche von der Straße vermischte sich mit den gedämpften Lauten aus der Kirche der wenigen Umhergehenden, den Stimmen und Bewegungen vom Eingangshäuschen her.
Mein Blick sammelte sich auf dem leeren Altaraufsatz, dessen Glastüren einen wunderbaren Lichtspiegel des hellen Vormittags aus meiner Perspektive bildeten. Ich meinte, darin Schalen wie für Müsli oder für Milchkaffee zu sehen, und dachte, das ist ja mal eine schöne zeitgenössische und material konkrete Eucharistie-Deutung des „Kommt und esst“. (Später sah ich, dass es offenkundig die Sockel für die entnommenen Figuren sind – und war fast enttäuscht, weil mir mein Sehen und die damit verbundene konkrete Einladung so gut gefallen hatten.)
Dann wurde ich aufmerksam, wie sich das runde Fenster des Westwerks in der Glasfläche spiegelte, noch ohne das Fenster direkt betrachtet zu haben.[1]
Der gespiegelte Kreis, dessen heller Rand sowohl die roten Farbflächen in der Form wie die überstreckten beiden Amerikas einer Weltkarte umschließt, als auch die dunkler gespiegelte Mitte, bündelte meine Aufmerksamkeit. Ultraschallbild, Hostie, Monstranz, „Messe über die Welt“ (P. Teilhard de Chardin) waren in meinem Sinn. In innerer Resonanz war auch der Vers aus 1 Kor 13,12 von den rätselhaften Umrissen unseres Stückwerkerkennens. Dann erst erkannte ich „das Kreuz“, das die beiden Durchmesserlinien in der Verglasung bilden, deren Schnittpunkt im Glas betont und im Spiegelbild sich stärker abhob als, wenn man das Fenster als solches betrachtet. (Foto 1)
Als Verdichtung dieser Kommunion von Licht, Raum, Zeit und Klang, schrieb ich ein Haiku[2] und schickte es mit dem Foto dessen, was ich sah, als sonntäglichen Gruß meinem Freund.
Gespiegelt sehen
Licht, Farbe, Stein, Raum, Hall, Kreuz
gespürt DICH ahnen.
- Sich im Kreuz erkennen.
Der Weg meiner Wahrnehmung ist natürlich von meinem „Standpunkt“, hier genauer natürlich Sitzort gesteuert. Dann von meinem Reagieren auf das „Raumgefühl“ in der Lichtsituation des hellen Juli-Sonntagmorgens. – „In seinem Licht“ erst spiegelt sich das Fenster in den Glastüren des Altars. Und natürlich sind es die „Zutaten“, die in meinem inneren Bild- und Wortspeicher dadurch aktiviert wurden. Und all das bildet nun das „ich nehme wahr“.
Die Interaktion von Geist, Licht, Raum, Zeit, ja und Körper oder Leib (das diskutieren wir später) wurde mir selten so deutlich nachvollziehbar quasi eine Wahrnehmung im Selbstversuch.
So erschloss sich mir eine Formulierung, die ich „sonst“ nie gebraucht hätte: ich habe mich im Kreuz erkannt. Die Ermutigung, in diesem Schnittpunkt, den meine Wahrnehmung in dem Moment gebildet hat, mehr zu spüren, mehr zu ahnen als was hier je „für sich“ beschreibbar ist.
Im Horizont dessen, was mit der Gottesrede im Horizont des dreieinen Gott gemeint sein kann, ist es die Ermutigung, der eigenen Wahrnehmung zu trauen, dass das Große, das wir wahrnehmen, nicht das Maximum ist, genau wie das kleine und kleinste nie marginal ist, sondern beide engst verbunden sind.
Verschiedene Denker haben dies reflektiert: dass das Endliche gerade durch seine scharf ausgeprägte Endlichkeit zum Ausdruck und Inhalt des Ganzen wird. (Nicolaus Cusanus, Docta ignorantia II,4)
Oder die Grabinschrift des Ignatius von Loyola: Non coerceri maximo, contineri inimo, divinum est, die Hölderlin seinem Hyperion voranstellte: Nicht eingegrenzt vom Größten und umschlossen vom Kleinsten, ist göttlich.
Für diese Denkbewegung ist das, was in den christlichen Erinnerungsgeschichten von Jesus von Nazareth erzählt wird, Mitte und Beispiel, dass im raumzeitlichen Verankertsein von Menschen „mehr“ beschlossen liegt, als ihre Endlichkeit. Ja, dass dies Hinweis ist auf die Teilhabe an dem größeren Geist Gottes, der das „All erfüllt“ (GL 347) und somit auch jedes Lebewesen und alles was ist, warum sollten sich Menschen da ausschließen? (vgl. auch Ps 19)
III. Sich selbst beim Staunen zuschauen
Während der geschilderte Erkennensvorgang sich im Kirchraum der gotischen Hallenarchitektur ereignete, und als stimmig zur Raumaussage gedeutet werden kann: „mehr“, „größer“ auf Gott hin ( magis… Deus semper maior bzw. das muslimische Allahu akbar), konnte ich mir beim weiteren Erkunden der Kirche quasi beim Staunen über die „Gottahnung“ zuschauen.
Nachdem ich mich aufgemacht hatte, den Turm zu besteigen, eröffnete sich als erste Etappe, nach dem Staunen über die hohen unregelmäßigen Stufen, die einen in die Höhe bringen, eine Sicht von „oben“ in die Halle des Mittelschiffs, die großartig ist. Ich sah mich im Rückblick sitzen und konnte quasi auf meinen Kopf blicken. Aber natürlich nicht in meine inneren Erschließungsprozesse. Und im Blick auf den Altar zeigen sich von hier oben keine Spiegelungen, sondern eine eher opake dunkle Fläche, die beim Zoomen wieder die Anmutung der eucharistischen Schalen wachruft. Hier ist sogar noch das Tischkruzifix als Gegen-stand erkennbar. Also ist mein Erkennen ob-jektiv, gegenüber den Dingen und „von oben“. ( Bild 2 und 3)
Das Staunen über so viel Gegenüber steigert sich dann weiter beim Blick auf die Decke des Kreuzgewölbes „von oben“, die eindrucksvoll, die von unten „im Spiegel“ nicht wahrgenommene Grenze des Erkennens zeigt. Aber im nächsten Schritt wird gleichzeitig ihre Verankerung mit den regelmäßigen Verstrebungen der zahlreichen Stahlträger, die Dach und Decke verbinden, sichtbar. Also ist auch die „Deckengrenze“ nicht absolut, sondern eben bautechnisch bedingt. (Bild 4)
Ein Staunen in Richtung aller Zimmerleute, aller Handwerker der „Dombauhütten“, ja allem Baustatik und -techniksachVerstand, der ja auch des Teil Geistes ist, den wir mit der Schöpfung auf der Welt glauben ( vgl. Gen 1,1), an dem alle partizipieren und ihn durch Lernen, Fleiß und Erfahrung vergrößert haben. Die, die einst die „Kathedrale bauten“, haben den Predigern aufgegeben, die Größe Gottes auszudeuten, und kamen selber aus dieser Denk- und Erzählgemeinschaft.
Es ist das neuzeitliche Denken seit dem 17. Jahrhundert, das das Vermögen des menschlichen Geistes portioniert und hierarchisiert hat.
Heute erkennt man, dass alles in einem ökologischen / „holobiontischen“ (Margulis) Zusammenhang steht. Geist ist nicht teilbar. Und Gott gibt seinen Geist unbegrenzt (Joh 3,34). Ein starker Inhalt der trinitarischen Gottesidee ist die Interaktion des göttlichen Geistes im Innern und nach Außen gleichermaßen, unhierarchisch, wie in tanzendem Austausch.
Und die Rede vom Licht und Geist Gottes, in dem wir erkennen, ist bildhaft und funktioniert, weil alle Rede bildhaft ist, wenn man sie neu erklärt. Das ist die Aufgabe für alle, die in Religionen pädagogisch unterwegs sind.
Und im Hinblick auf das „Kreuz“ können wir von einer Ermutigung zum Stand-punkt, zur Wahrnehmung der Kreuzung der Linien…sprechen. Sie sind je besonders für jeden Menschen. In ihnen zeigt sich Individualität. In den Schmerzpunkten von Spannungen, Abbrüchen, Gewalt und Ent-täuschungen in der Geschichte. Die Schmerzpunkte und Schmerzorte sind verschieden bei Menschen und Gruppen. Die Verschiedenheit der Gründe für den Schmerz kann dennoch in der mit-Empfindung des Schmerzes geteilt werden.
Die Verschiedenheit ist dabei nicht das Gegenteil von Identität, sondern in der geteilten Erinnerung an Schmerz kommuniziert sich die Verschiedenheit der Menschen, darin ereignet sich Wandlung, Transformation, Chance zu Leben, neu zu leben. Dazu ermutigt uns das fleischgewordene Wort, der Geist Gottes, der im Menschen sich der Geschichte und den „Mächten und Gewalten“ ausgesetzt findet, aber davon nicht letztlich determiniert ist, denn Gott ist ein Freund des Lebens (Weish 11,24-26).
- Mut zum Spiegeln
Nicht zur Selbstbespiegelung möchte ich auffordern, sondern zur Wahrnehmung der vielfältigen Wirklichkeit, all dessen, was ist. Und was wir gern als divers (und leider oft fälschlich als grundverschieden ansehn).
Dazu bedarf es der Übung und des Mutes, sich nicht gegenüber der oder über die Dinge und Menschen zu platzieren, sondern mitten rein und die eigene Wahrnehmung in Spiegelbildern zu üben. Und darin wahrzunehmen, was uns unser Spüren ahnen lässt, wie wirklichkeitshaltig dieses ist.[3]
Und die Ermutigung wahrzunehmen, dass alles etwas mit mir zu tun hat, mit meiner Geschichte, mit meinem Denken, meinem Empfinden, meiner Sensibilität… dass nichts ohne Sprache ist (Ps 19,4 / 1 Kor 14,10), aber alle dazugehören. Das wäre Kirche.
Dazu können wir einander im Frieden ermutigen und begleiten.
Am besten mit der Einladung zum Tisch des Herrn!
[1] Erst beim Nachlesen in wikipedia zuhause erfahre ich, dass der Glaskünstler Johannes Schreiter, dem Fenster den Titel Zerstörung und Wiederaufbau gegeben hat.
[2] Dreizeiliges japanisches Kurzgedicht: 5/7/5 Silben
[3] Eine gute Übung dazu sind auch Straßenexerzitien.