Wenn von neuerer Musik im Gottesdienst gesprochen wird, dann ist häufig von Musik innerhalb der Kirchenmauern die Rede. Uwe Steinmetz mit einem Plädoyer für ein cross-over: die Integration gegenwärtiger Popmusik und Avantgarde.
I. Vorüberlegung: Ein Bild
Ein Steinmetz sollte ein steinernes Mahnmal errichten, das Offenbarungen des Göttlichen symbolisieren und zudem erfahrbar machen sollte. Ein sinnvoller, guter Auftrag, nicht so gut bezahlt, aber immerhin ganz nach seinem Herzen, denn er war weder Transzendenzerfahrungen abgeneigt, noch hatte er gerade besseres mit seinen zur Verfügung stehenden Steinen vor. Allerdings fragte sich der Steinmetz lange, welche Form dieses besondere Denkmal haben könnte, um so etwas Großartiges und vielleicht auch Befremdliches, gar Entsetzliches darzustellen. Es gab unzählige Kunstwerke aus anderen Materialien, die dies laut ihrer Wirkungsgeschichte und der Einordnung in einen Werkekanon als sakrale Kunst erfolgreich bewerkstelligten.
Besonders beliebt dabei war die Malerei, die sich auch an zahlreichen Orten der gottesdienstlichen Feier fand, ebenso die Kirchenmusik, also die historisch etablierte, von Bach, Mendelssohn und Schütz. Als Steinbildhauer kannte er hingegen Werke, die vom Irdischen der Menschen zeugten, gar von ihrem Ableben, oder von ihren Helden- bzw. Gräueltaten in Kriegen. Einen Zugang zu Gott beinhalteten diese nicht. Wäre er architektonisch begabter, dann hätte er zumindest eine Kirche aus Steinen bauen können – ein Gebäude, in denen viele ja den Zugang zu Gott intuitiv vermuteten. Aber ihm fehlte das Handwerk zum Entwurf einer eigenen Welt, einer Kathedrale als steinerner Sinfonie.
Werke sakraler Kunst – und Werke, die vom Irdischen des Menschen zeugen.
Also musste der Steinmetz als guter Deutscher nun die Expert:innen in seiner religiösen Umgebungskultur befragen. Der Steinmetz begab sich in die Lehre und in die Werkstatt mit anderen Theolog:innen und lernte, seine Steine so zu formen, dass sie den etablierten Gestaltungsformen der Feier des Göttlichen ähnelten, den Liturgien, wie es die Expert:innen nannten. Dabei war es das Studium der Formen selber, die soviel Zeit brauchten, um der Sache zweckdienlich zu sein. Sie wurden kunstfertig durch Agenden festgeschrieben und oftmals ungenügend ausgeführt, so dass nun in der Folge die historisch etablierten Liturgien selbst bezweifelt wurden und dies neue intensive Studien ihrerseits begründeten. Die Gotteserfahrung in der Liturgie und die Menschen, die diese außerhalb gottesdienstlicher Feiern erlebten, stand dabei wenig bis gar nicht zur Debatte. Manchmal sollten wenigstens andere Künste den Liturgien helfen, besonders die Orgelmusik, um ganz sicher zu Gott zu führen wie es des Öfteren apodiktisch formuliert wurde.
Besonders die Orgelmusik, um ganz sicher zu Gott zu führen.
Der Steinmetz fühlte sich oftmals sprichwörtlich auf dem Holzweg bei diesen Studien und ganz weit weg von dem Material, mit dem er arbeitete, es blieb einfach kein Platz mehr zum Einbezug seiner ungeschliffenen Steine in die schon etablierten Formen. Schließlich erinnerte ihn ein Freund aus seiner Schulzeit an eines ihrer damaligen Lieblingsbücher: Adelbert Stifters „Bunte Steine“, ein Plädoyer für die Erfahrung der Natur als Offenbarung des Göttlichen und die Wahrnehmung ihrer inneren Ordnung als „Sanftes Gesetz“ im Sinne des kategorischen Imperativs, nicht in dramatischen, außergewöhnlichen Erscheinungen wie einem Erdbeben, der Malerei von Michelangelo oder den Kantaten von J.S. Bach, sondern im gegenwärtigen Alltäglichen, also in seinen eigenen Steinen, mit denen der Steinmetz selbst baute, den naheliegenden…
Im gegenwärtigen Alltäglichen, dem Naheliegenden.
Wenn der einzelne natürliche Stein selbst alles birgt von wahrhaftiger Schönheit oder auch tiefer Rätselhaftigkeit – warum dann noch die Mühen, diesen Stein zu formen und ihm im Verbund mit anderen zu einem Mahnmal transformieren? Warum eine steinerne Liturgie als Feier der Begegnung mit dem Göttlichen, wenn allein die Wahrnehmung des Besonderen dieses Steines dieses feierliche, erhabene Gefühl ebenso ermöglichte? Steinerne Mahnmale, Gedenksteine, Grabsteine, Pilgersteine auf dem Weg verbinden die Einzelerfahrungen in ihrer Betrachtung über die Zeit, in der sie Bestand haben, oftmals Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Sie erschaffen eine Gemeinschaft auf einer vertikalen Achse zurück bis zur Errichtung des Werkes. Der einzelne Stein bleibt individueller Erfahrungsgegenstand, erst seine kunstfertige Anordnung und Einbindung in gewachsene Formen eröffnet einen rituellen Raum für Betrachtung, Erleben und eine Gemeinschaft derer die an diesem Ort gewesen sind und kommen werden.
Einbindung in gewachsene Formen eröffnet einen rituellen Raum.
II. Konkretisierung: Meine eigene Arbeit
Wenn Liturgien aus dieser Perspektive gebaut werden, dann versammeln sie ungeschliffene und historisch geschliffene, etablierte, und auf die Musik bezogen, gegenwärtige Popmusik und Avantgarde genauso wie Kirchenmusik. Dann können sie auch Menschen erreichen, denen Transzendenzerfahrungen im Club oder Konzertsaal geläufig sind, aber in einem Sonntagsgottesdienst nach Gottesdienstbuch fehlen. Dieses Modell verfolge ich mit Leipziger Studierenden seit 2016 für die musikalische Auswahl und Einbindung von religiös inspirierter Gegenwartsmusik in Gottesdienste und Andachtsformen. Dabei geht es zunächst um das Nachvollziehen einer liturgischen Dramaturgie und die Frage, welche Musik neben thematischen Schnittstellen auch von ihrem Ausdruck und ihren Wirkungen liturgiedienlich erklingen kann – und wie gleichzeitig die autonome Expressivität der Musik bestehen bleiben kann.
Gegenwärtige Popmusik und Avantgarde genauso wie Kirchenmusik.
Religiös oder spirituell inspirierte Gegenwartsmusik ist ein Kompass für die Themen, die gesellschaftlich relevant sind und individuell musik-poetisch gedeutet werden, frei von dogmatischen Ansprüchen, offen für Reibung und Befremdung genauso wie für Beheimatung.
Im Ökumenischen Gottesdienst zum Leipziger Stadtfest mit dem Motto zusammen_gehalten wird das Lied Carried me with you von Brandi Carlile aus dem Disney Film „Onward“ eine Predigt über Kohelet 4-9 kommentieren. Neben der atmosphärischen und ermutigenden Musik birgt der Text einen Dialograum zu biblischen Bildern und Metaphern in moderner Sprache:
Dialograum zu biblischen Bildern und Metaphern in moderner Sprache.
Du bist die Seele, die mich versteht
Die Narben, die mich zu dem machten, was ich bin
Durch den Treibsand der Zeit
Ich stehe hinter dir und du stehst hinter mir
Wenn du jemals eine schwere Last zu tragen hast,
werde ich deine Räder sein, ich werde die Straße sein
Ich werde uns durch dick und dünn begleiten
durch Liebe und Hingabe bis zum Ende.
Refrain: Denn du hast mich mit dir getragen
Von den höchsten Gipfeln
Bis in die Dunkelheit des Blaus
Ich war nur zu blind, um dies zu sehen
Wie ein Leuchtturm in einem Sturm
hast Du mich immer geleitet
Ja, es ist wahr, Du hast mich mit dir getragen.
(Auszug aus einer freien Übersetzung von Uwe Steinmetz)
Inspirierende Reibung erwünscht.
III. Plädoyer für integrative Liturgien
Liturgische Integration von Gegenwartsmusik meint nicht die Einbindung von christlicher Popmusik, Sacropop und Verwandtem, sondern religiöse Inspiration und Ausdruck von heute lebenden Musiker:innen als vitale Bausteine für Liturgien zu begreifen, im Dialog mit der Tradition in Musik und Wort. Dabei ist inspirierende Reibung erwünscht – biblische Worte und beliebte Choräle gespielt von einem Posaunenchor erklingen ebenso im oben genannten Gottesdienst und stellen die historisch gewachsene kirchliche Kulturtradition und das jeweilige Thema der Predigt in einem Dialograum mit gegenwärtiger außerkirchlicher Kultur. Bestenfalls ergeben sich über diese Liturgie mit weitem Herzen für die Worte und Klänge der Umgebungskultur neue Schnittmengen, die auch die kirchliche Kulturtradition verändern, die Liturgien erneuern kann – „zum Aufbau aller“ (1. Korinther 14,26).
Ergeben sich über diese Liturgie mit weitem Herzen für die Worte und Klänge der Umgebungskultur neue Schnittmengen.
Oftmals wird allerdings der „neue Klang“ nur hinter wiederum anderen Kirchenmauern gefunden. Seit Jahrzehnten wird in landeskirchlichen Gottesdiensten ja Platz eingeräumt für Musik, die viele Anleihen an Gegenwartsmusik besitzt oder neueren gottesdienstlichen Feierstilen wie der großen Vielfalt des Praise & Worship und des Gospel oder Gesängen aus Taizé.
Wenn überhaupt eine Motivation besteht, dass Liturgien sich der gegenwärtigen Kultur öffnen, dann plädiere ich aus meinem Verständnis der kirchlichen Kulturtradition im Sinne der Reformationsbewegung für Dialogräume, in denen gerade die gewachsenen Sprachen und Klänge (Zu denen ich auch neuere Formen der Kirchenmusik und moderne Bibelübersetzungen zähle.) auf Augenhöhe mit den Worten und Musik der Gegenwart jenseits von Kirchenmauern souverän in einen Austausch kommen können.
Die gewachsenen Sprachen und Klänge auf Augenhöhe mit den Worten und Musik der Gegenwart jenseits von Kirchenmauern.
Damit dies gelingt, müssen diese Räume kontinuierlich geschaffen werden zum gemeinsamen Üben und Lernen. Derartiges wird leider weder in der Ausbildung von Theolog:innen noch von Kirchenmusiker:innen systematisch gefördert und kommt daher konsequenterweise im kirchlichen Alltag zu kurz. Entscheidend für die kommenden Jahrzehnte gottesdienstlicher Feierkultur wird es sein, inwiefern nur die gewachsene, innerkirchlich geförderte Tradition als zu bewahrende Beheimatung oder der Dialog mit der Gegenwartskultur als Chance und Aufbruch zu einer gemeinsamen Pilgerreise gesehen wird. Ein Weg, auf dem Pilgersteine, die rohen und ungeschliffenen wie die etablierten, Mahnmale der Trauer und Freude bilden zur Andacht und zur gemeinsamen Ermutigung in der Nachfolge Christi.
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Text: Dr. Uwe Steinmetz ist Jazzmusiker und Mitarbeiter am Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD bei der Universität Leipzig.
Bild: Brorsons Kirke in Kopenhagen, ein Ort integrativer Liturgien. Neben Gesangbuchliedern erklingt im Gottesdienstlich thematisch passende Popmusik von der Sängerin Janne Mark. (Bildrechte bei ihr)