Christine Funk bespricht das Buch von Josef Senft „Diesseits von Afrika“ zwischen Autobiographie und postkolonialer Reflexion.
I Ein postkoloniales Essay
Josef Senft, bis 2009 Sozialethiker und Religionspädagoge an der Universität Köln, hat ein bemerkenswertes „postkoloniales Essay – in autobiographischen Dekaden – mit afrikanischen Rekursen“ veröffentlicht, das in besonderer Weise die Verflochtenheit von Individualgeschichte in zeit- und kirchengeschichtliche Umstände anschaulich macht.[1] Mit dem Buch Diesseits von Afrika ist eine theologisch reflektierte Autobiographie von außerordentlich dokumentarischem Wert zu empfehlen, die sich als postkoloniale Selbstreflexion präsentiert.
Wer Dialog als Glaubens- und Lebensform realisiert, nimmt mit anderen geteilte Räume wahr und stellt die behauptete Wahrnehmung der Ränder in Frage.
Ohne dass der Autor dies ausdrücklich angezielt hätte, zeigt die Lektüre des „postkolonialen Essays“ ein Spiegelbild der (spät)kolonialen Züge der katholischen Kirche; als spätkolonial können so Strukturen der Binnenkommunikation in der Kirche erkannt werden. Sie zeigen die systemische Ausblendung von „Zeichen der Zeit“, die im Leben und der Theologie von sog. „Laientheologen“ und -theologinnen vorhanden waren und sind. Wer sich für die Mitte der Kirche hält, definiert die Ränder. Wer Dialog als Glaubens- und Lebensform realisiert, nimmt mit anderen geteilte Räume wahr und stellt die behauptete Wahrnehmung der Ränder in Frage. Die Themen, die der Synodale Weg derzeit bearbeitet, erscheinen im Spiegel der Autobiographie als benennbare Situationen des Diskursabbruchs und der Exklusionserfahrungen durch lokale kirchliche Autoritäten.
II Biographie und Theologie
In Anlehnung an das Erinnerungsbuch von Herbert Vorgrimler Theologie ist Biographie (2006) liest man in Senfts Buch mit Gewinn von lebensprägenden Prozessen theologischer Reflexion von Mission und von der formenden Kraft gelebter theologischer Kritik, die in politischer, kirchlicher und persönlicher Praxis konkret geworden ist. Der dreiteilige Untertitel, der vielleicht etwas sperrig wirken mag, bezeichnet sehr genau den beeindruckenden Versuch, Biografie gewissermaßen auto-dekonstruktiv in das Abwesende der eigenen religiös-kulturellen Prägung hinein zu stellen und aus der Reflexionsperspektive das Abwesende nachträglich in den Diskurs zu holen.
Im Unterschied zur Priestertheologenbiographie des 1929 geborenen Vorgrimler wird hier auf einen 1944 begonnenen Lebensweg zurückgeschaut, für den die institutionellen Bahnen von theologischer (Priester-) Ausbildung und universitärer Karriere bereits in den 1960er Jahren zu eng geworden sind. Man kann dies als Wirksamwerden von Impulsen aus der Theologie Karls Rahners verstehen ebenso aus der Auseinandersetzung mit dem Wirken der Afrikamissionare „Weiße Väter“. Senfts Verbundenheit mit einigen Angehörigen des Ordens bildet eine spezifisch praktische Perspektive seiner Theologie „diesseits von Afrika“. Dadurch beginnen transformatorische Kräfte zu wirken, die die Multiperspektivität der Theologie entwickeln und sie in neuen Diskursfeldern der Zeit fruchten lassen. Dies realisiert sich in angewandter Theologie: Sozialethik, Religionspädagogik und im interreligiösen Dialog.
Es ist gerade die Stärke des Buches, dem fernen, aber eigenkulturvermittelten Anderen […] Raum zu schaffen, in dem die bisher leitende Selbstwahrnehmung als problematisch, ja marginal erscheint.
Eine mögliche Kritik am Buch, dass der Autor „keine Ahnung von Afrika“ habe, weil er keine afrikanischen Länder bereist habe, läuft nicht nur vollkommen an der Intention des Buches vorbei, da es ausdrücklich nicht den Anspruch erhebt, etwa länderkundlich sein zu wollen. Und der Autor benennt bereits zu Beginn der Einleitung freimütig den „Mangel“, dass er mit Ausnahme seiner Teilnahme an einer Konferenz in Tripolis nie in Afrika war (13). Es ist gerade die Stärke des Buches, dem fernen, aber eigenkulturvermittelten Anderen durch kritische Selbstreflexion der prägenden Kulturkonstrukte Raum zu schaffen, in dem die bisher leitende Selbstwahrnehmung als problematisch, ja marginal erscheint: Diesseits von Afrika kann die eigene Perspektive als „am Rande“ wahrnehmen. Den Autor leitet als Interesse: „Kritik an der Mission wegen ihrer Verstrickungen mit dem Kolonialismus, das Verständnis von Mission des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Theologie der Befreiung und […] interreligiöser Dialog. In Verbindung damit und angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart will ich mich nicht zuletzt auch auseinandersetzen mit einer in mehrfacher Weise belasteten Geschichte und Lebensweise, durch die wir hier in Europa und speziell in Deutschland mit diesem großen Nachbarkontinent verbunden sind, ohne dass wir uns das gemeinhin angemessen bewusst machen.“ (13f.)
Als Rezensentin möchte ich vorschlagen, das Buch zum einen als einen erinnerungsgeschichtlichen Beitrag in den Debatten der postkolonialen Theorien zu lesen; es ist viel mehr als die Biographie eines afrikainteressierten Theologen. Er zeigt vor allem die Mittel der kritischen Reflexion, die ein im Missionsparadigma katholischer Prägung erzogener Mensch durchaus in der eigenen Tradition vorfindet und als Anstoß für Veränderungsprozesse nutzen kann. Dabei ist zu betonen, dass die Veränderungen sowohl persönlich als auch gesellschaftlich relevant sind. So kann man hier ablesen, wie sich innerhalb des Symbolraumes des westdeutschen Katholizismus seit den 1960er Jahren in Interaktion mit und Teilnahme in den politischen Konstellationen der Bundesrepublik durch biographische Entscheidungen Veränderungen ergeben, die Grundlinien der Theoriedebatten der postcolonial studies als bereits gelebt erkennen lassen.
ein erinnerungsgeschichtlicher Beitrag in den Debatten der postkolonialen Theorien
Zum anderen vernimmt die Rezensentin in der Lektüre, wie Zeitgenossenschaft im Lebensprojekt des „solidarischen Lebens“ (Erkennen der „Zeichen der Zeit“) durch die dominanten Stimmen der kirchlichen Hierarchie als „abweichend“, „links“, nicht der „Mitte der Kirche“ zugehörig abqualifiziert und bestenfalls den „sozialen Bewegungen“ zugeordnet wurden. Dass dies von engagierten Männern und Frauen vielfältig gelebt wurde und wird, die der Kirche angehör(t)en und die v.a. in Resonanz mit dem Evangelium sind, muss doppelt betont werden: einerseits in Richtung der „schrumpfenden Kirche in der Krise“ und andererseits in Richtung von säkularen Zeitgenoss*innen, die das Engagement sehen, oft würdigen, aber durch die Performanz der Kirchenleitungen nicht auf die Idee kommen, die Transformationen als kirchliches Wirken zu begreifen.
III Das Buch
Im programmatischen ersten Kapitel „Herkünfte“, wird das eigene Leben gleich mehrperspektivisch vorgestellt. Unter dem Titel „Wir sind alle Afrikaner“ (19) wird nicht nur die Neanderthaler-Perspektive des homo sapiens korrigiert, sondern es werden auch die Lebensumstände, in die der Junge Josef Senft seit 1944 „abstammend von einem Waldlerbauernhof“ (22) hineinwächst, in den Horizont Afrikas gestellt. Allerdings war Afrika aus der katholischen Welt (nicht nur Niederbayerns) durch Missionszeitschriften wie „Afrikabote“ auf die „Heiden“ und „kindlichen Völker“ (29) missionsmäßig festgelegt.[2] Der „afrikanische Rekurs“ im ersten Kapitel , „Wider Afrikas angebliche Geschichtslosigkeit“ (29) setzt sich mit diesem Stereotyp auseinander, für das etwa G.W.F. Hegel (1770-1831) ein Kronzeuge des säkular europäisch hegemonialen Denkens ist, und skizziert in knapper Form eine Art Epochen- und Regionengeschichte des Kontinents. Einige Autor*innen vom afrikanischen Kontinent werden dazu vorgestellt.
Ähnlich ist die Struktur der folgenden Kapitel, die jeweils ein Jahrzehnt reflektieren. Die „afrikanischen Rekurse“ bestehen aus Biographien prägender Persönlichkeiten aus verschiedenen Regionen Afrikas: Politiker*innen, Autor*innen und Künstler*innen.
Schöne Zeitdokumente enthält das dritte Kapitel „Die 68er-Bewegung“ (65-84), in der Senft ein zunehmendes „Dritte-Welt-Engagement“ zwischen 1968 und 1974 wahrnimmt und auch knapp die Reaktion „der katholischen Kirche“ auf 1968 skizziert.
Das vierte Kapitel „Anfänge“ bezieht sich auf das Leben in Bonn in einer neugegründeten WG, die im Laufe der Zeit an verschiedenen Orten wohnt, die Familiengründung und die berufliche Tätigkeit in der Arbeitsgemeinschaft katholischer Studenten- und Hochschulgemeinden (AGG) (86) und als Assistent in Köln am Seminar für katholische Theologie und ihre Didaktik. Hier erweiterte sich Senfts theologische Perspektive auf die christlich-jüdische Verständigung im Kontakt mit den Exegeten des Seminars.
Im fünften Kapitel „Wendezeiten“ werden sowohl die friedliche Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik bedacht, der Fall der Mauer, die Habilitationsschrift mit dem programmatischen Titel: Im Prinzip ‚von unten‘. Redefinition des Subsidiaritätsgrundsatzes für ein solidarisches Ethos. Ein Beitrag katholischer Sozialethik zur Subjektwerdung und zur Orientierung am Gemeinwohl und die Mitarbeit im Oscar-Romero-Haus in Bonn „und in diversen kirchlichen Reformbewegungen“ (111) sowie die Geburt des dritten Kindes.
Sehr persönlich ist in diesem Kapitel die Reflexion über die Selbstverortung im akademischen Betrieb als Mensch aus einer Familie von Nichtakademikern (114f.) aus Anlass der Anstellung als Studienrat im Hochschuldienst 1991. Die Leidenschaft des „akademischen Lehrers“ Josef Senft galt wirklich der Theorie-Praxis-Verbindung im Subjektwerden in Solidarität (2006), so der Titel einer Aufsatzsammlung seiner sozialethischen Reflexionen zum Unterrichten des Faches Religion. Der afrikanische Rekurs in diesem Kapitel betrifft Ruanda und Kongo, wozu der Autor differenzierte Einsichten weitergibt (125-131).
Die Kapitel 6 – 9 bieten Theorie-Reflexionen an, die Senfts aktuelles Theorie-Praxis-Interesse zeigen. Das sechste Kapitel „Befreiungstheologien“ verbindet Senfts Rückblick mit seinen letzten Berufsjahren bis 2009, die von den sog. Bologna-Reformen geprägt sind. Er skizziert, welch große Bedeutung das Thema Freiheit als Thema des Glaubens hat, und welche Herausforderungen dies für die Religionspädagogik bedeutet (137f.).
Eine solidarisch gebildete, engagementreiche und zuversichtliche Zeitgenossenschaft
Das siebte Kapitel „Postkolonialismus“ ist der Versuch, die Weltfinanzkrise, die sog. „Flüchtlingskrise“ und die in Form von „Fridays for Future“ neu wahrgenommene „Klimakrise“ als globale Themen in Bezug zu den Auswirkungen des Kolonialismus zu stellen. Die pointierten Skizzen zu den Aufgaben durch die postkoloniale Orientierung im Interreligiösen Dialog und für die Religionspädagogik (175-178) können als Auftrag gelesen werden.
Die beiden letzten Kapitel „Hoffnungen“ (199-230) und „Worauf es jetzt ankommt“ (231-240) bündeln das lebensprägende Ringen um ein solidarisches Leben in globalen Ungerechtigkeiten – um die vielzitierten Worte Adornos aus den Minima Moralia anzutönen – das Senft „Diesseits von Afrika“ führt.
Eine solidarisch gebildete, engagementreiche und zuversichtliche Zeitgenossenschaft, verankert im Strom der christlichen Überlieferung, in dem ja Wasser aus vielen Quellen fließen, die Selbstkritik nicht mehr nur individuell, sondern gesellschaftlich (kirchenkritisch) und global lebt, wird in diesem besonderen Buch anschaulich. Die Biografie des „Laientheologen“ Josef Senft macht einmal mehr die diskriminierende Konnotation dieser vom Kirchenrecht abgeleiteten Bezeichnung im Hinblick auf die Wahrnehmung von Menschen deutlich. Ohne Menschen wie ihn, könnte das Wirken des Evangeliums, Gottes Geist, der in der Welt ausgegossen ist, nicht wahrgenommen werden.
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Text: Prof.in Dr. Christine Funk, systematische Theologin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin.
Bilder: Pixabay, Buchcover
[1] Josef Senft, Diesseits von Afrika. Ein postkoloniales Essay – in autobiographischen Dekaden – mit afrikanischen Rekursen. Münster 2021 (LIT Persönlichkeit im Zeitgeschehen 18).
[2] Dies zeigen die Biographien so verschiedener katholischer Personen wie Christian Herwartz SJ (1943-2022) oder Lea Ackermann (*1937) u.a., die sich aus dieser Prägung heraus sehr unterschiedlich entwickelten.