Ein persönliches Plädoyer für eine Bindung, die verpflichtet und für das Sammeln utopischer Orte. Von Marion Schwermer
Die Fußballeuropameisterschaft der Frauen 2022 war ein Ereignis! Nicht mehr abschätzig als Frauenfußball abgetan, sondern wie bei den Männern im öffentlich-rechtlichen Fernsehen live übertragen: Stars, Analysen, deutsche Fahnen in vollen Stadien. „Equal pay“ von Bundeskanzler Olaf Scholz gefordert, das ist neu in einer der letzten reinen Männerdomänen. Als ich diese emanzipatorischen Veränderungen das erste Mal gegenüber meiner Nichte – ehemalige Fußballjunkie und jetzt Journalistin und Buchautorin – anerkennend erwähne, ernte ich nur ein müdes Lächeln: „Das sehe ich anders“, war ihr knapper Kommentar.
Eine andere, bessere Welt: konkret, sachbezogen, konsequent.
Was sie anders sieht, kann nun jeder und jede in ihrem neuen Buch nachlesen: Alina Schwermer, Futopia – Ideen für eine bessere Fußballwelt.1 Eine umfassende, überraschende Sammlung von dem, was besser wäre als „Equal Pay“ im Fußball. Zwei Umdenkungen waren für mich damit verbunden, die theologisch anregend sein können: Sich durch Bindung verpflichten zu lassen, bringt Unerwartetes zu Tage und lässt Fremdes vertraut werden. Zum zweiten: Hoffnung auf eine neue Welt lebt vom Wissen um Orte, an denen anders gedacht und gehandelt wird.
(Familiäre) Bindungen verbinden Lebenswege. Sie schaffen Verpflichtungen, die Widerständiges berühren, und bringen Traditionen hervor, die sich jenseits persönlicher Interessen und momentaner Befindlichkeiten fortpflanzen. Man hört etwa Menschen zu, die man sich nicht ausgesucht hat, während sie ausführlich von Dingen erzählen, die man noch nie wissen wollte. Doch ohne solche Erfahrungen widerfährt einem auch nicht, was mich überrascht und was mir neue Perspektiven öffnet. Zum Beispiel, dass Bücher über Fußball das gesellschaftlich Reproduzierte politisch und sozial radikal in Frage stellen können. Das, was man sich (als Tante) verpflichtend abverlangt, wird zu einer faszinierenden Leseerfahrung, die an frühere Zeiten erinnert, wo es jenseits marktförmigen ökonomisierten Denkens noch andere Vorstellungen gab, wie das Zusammenleben in der Welt gut gelingen könnte. Und die erkennen lässt, in welcher Weise die Jungen eine andere, bessere Welt (auch von den Alten) fordern: konkret, sachbezogen, konsequent.
Wie fangeführte Klubs den Fußball verändern wollen.
Die zweite Umdenkung betrifft die Utopie, hier verstanden als konkrete Orte, an denen eine andere, bessere Welt entworfen wird. Die erste Entdeckung fand ich in dem Buch „Wir sind der Verein. Wie fangeführte Klubs den Fußball verändern wollen“.2 Mein Erkenntnisgewinn: selbstverwaltete Betriebe – den letzten in Bonn existierenden Betrieb habe ich lange Jahre beratend begleitet – gibt es auch im Fußball. Menschen von der Basis, die mit gleichen Rechten aktiv teilhaben an der Macht im Unternehmen. In diesen Fußballvereinen wird ein anderer Umgang mit marktförmigen Mechanismen konkret realisiert, z.B. in einem Verein, der sich der Korruption des Erfolges entzieht, um die Macht über die Produktionsverhältnisse zu behalten.
Und mit dem neuen Buch nun die zweite selbstkritische Entdeckung: Meine Schlußfolgerung, dass „Equal Pay“ im Fußball Emanzipation bedeutet, bleibt im kapitalistischen System des (Männer-) Fußballs verhaftet. Das klebrige Netz der Kommerzialisierung ist so weit gespannt ist, dass das Faktische als nicht mehr hinterfragbar erscheint und das eigene, vermeintlich kritische Bewusstsein längst im Kokon des Konsumierens eingesponnen ist. Als ob es keine anderen Möglichkeiten gäbe. Dass es aber über 200 Ideen gibt, Neues, Utopisches zu entdecken, dass macht Freude und Hoffnung. Denn die Paradoxie des aktuellen Fußballsystems stellt Alina Schwermer provozierend dar:
„Lasst uns einen Fußball einführen, bei dem der Meister schon am ersten Spieltag feststeht“, … „bei dem die Männer tausendfach so viel verdienen wie Frauen“, … „der undemokratisch ist und seine Fans verachtet, Menschen schon im Kindesalter versklavt, von wenigen Superreichen diktiert wird und von konservativen alten Männern beherrscht wird.“ Doch über Kritik hinaus macht das Buch „Futopia“ Sinn, weil es Orte des Anderen, Besseren sammelt. Analysierend, abwägend, beschreibend, empirisch belegt oder auch in zahlreichen Erfahrungsberichten und Interviews werden alle Möglichkeiten nacheinander durchdekliniert.
Entlohnung in Abhängigkeit vom Einsatz für das gemeinschaftliche Wohl.
Einfache Ideen: Jeder Junge, der Fußball spielen will, bringt ein Mädchen in die Mannschaft mit, und nur die Tore, die die Mädchen schießen, zählen. Überraschende Ideen: Wenn eine Fußballliga ihr Geld gleich verteilt und es keinen Auf- und Abstieg mehr gibt, werden die Mannschaften ausgeglichener und die Saison wird wesentlich spannender. Revolutionäre Ideen: Statt den gesellschaftlichen Beitrag des Menschen nur als (gering oder maximal entlohnte) Arbeit zu denken, kann die Entlohnung von Tätigkeiten in einem Dreistufensystem vom Einsatz für das gemeinschaftliche Wohl abhängig erfolgen. Damit wird etwa der Fußball als Unterhaltungsbranche auf die Grundversorgung reduziert.
Das Faszinierende dieser Form einer Gesellschaftsutopie am Beispiel des Fußballs ist, sich nicht von Widersprüchlichkeiten ausbremsen oder durch eine durchgängige Systematik einengen zu lassen. Das Geheimnis der vielen Ideen ist, immer wieder einen Ort aufzusuchen, sich dort umzusehen und dann von dort aus den Schritt in Richtung des Anderswerdens oder Andersseins zu beschreiben. Kriterium ist nicht das Funktionieren, sondern das Verändern zum Besseren, Schöneren und Liebenswerteren.
Sammeln von Orten, wo das Andere schon gelebt wird.
Die beiden Umdenkungen ins Kirchliche gewendet würde heißen: Den Mut zu haben, mit Bindung in der Glaubensgemeinschaft auch Verpflichtung mitzudenken. Der synodale Weg probt gerade diesen Schritt, über Bindungen eine gegenseitige Selbstverpflichtung zu verwirklichen, die die kirchliche Praxis langfristig verändern kann. Wie auch der durch Bindung verpflichtende „Katakombenpakt“ während des zweiten vatikanischen Konzils (und 2019 in der Amazonassynode erneuert) den Schritt zur kirchlichen Option für die Armen ermöglichte. Und zweitens: Das Sammeln von Orten, wo das Andere, Bessere, Menschliche gedacht oder schon gelebt wird, ist eine lohnende Aufgabe, um Freude und Hoffnung erfahrbar zu machen. Die Bücher „… weil Gott es so will“. Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin (Hg. Philippa Rath) sowie „Die Frauen ins Amt! Männer der Kirche solidarisieren sich“ (Hg. Philippa Rath, Burkhard Hose) sind solche Sammlungen. Auch so könnte das Reich Gottes durchdekliniert werden: konkret, sachbezogen, konsequent.
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Text: Dr. Marion Schwermer ist Theologin, Psychologin und Organisationsberaterin. www.wertimpuls.de.
Bild: Ausschnitt aus Buchcover Schwermer, Alina, Futopia. Ideen für eine bessere Fussballwelt, Bielefeld 2022 (Werkstatt-Verlag).
- Schwermer, Alina, Futopia. Ideen für eine bessere Fussballwelt, Bielefeld 2022 (Werkstatt-Verlag). ↩
- Schwermer, Alina, Wir sind der Verein: Wie fangeführte Klubs den Fußball verändern wollen. Fangeführte Fussballvereine. Neun Geschichten von Deutschland bis Israel, Bielefeld 2018 (Werkstatt-Verlag). ↩