Zum Buch von Mirjam Gräve, Hendrik Johannemann und Mara Klein (Hrsg.) Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln, Paderborn 2021. Von Tanja Grabovac.
Was bedeutet es heute, queer zu sein? Wenn wir unter „queer“ alle Menschen verstehen, die sich nicht gemäß den vordefinierten sozialen Definitionen von Geschlecht, Geschlechterrollen oder gemäß dem Geschlecht, in dem sie geboren wurden, identifizieren, oder die Heterosexualität nicht als die einzige gesellschaftlich akzeptierte Sexualität sehen, was bedeutet es dann, in einem religiösen Umfeld queer zu sein? Welche Erfahrungen machen Queer-Katholik*innen?
Die Fragen und Erfahrungen von Queer-Katholik*innen bilden den Kern des Buches „Katholisch und Queer“. Vor allem geht es um sehr oft sehr schmerzhafte Erfahrungen. Wie es im Buch heißt: „Queer-Sein“ in der katholischen Kirche bedeutet: nicht im System vorgesehen sein“[1], oder wenn es um queere Zugehörigkeit innerhalb der Kirche geht: „Über aller Bekundung, dass queere Menschen ihren Platz in der Kirche finden sollen, bleibt die Tatsache, dass sie sich ihren Platz in der Kirche nicht frei auswählen dürfen. Ihnen wird immer noch ein Platz am Rand Zugewiesen.“[2]
Queere Zeugnisse sprechen von schmerzhafter (Nicht-)Akzeptanz der eigenen Identität, von Coming-out-Prozessen, von Scham- und Schuldgefühlen, von Leben im Verborgenen, von alltäglicher Diskriminierung, von Unterstützung oder Ablehnung, von Isolation. Queer zu sein bedeutet in der Beschreibung vieler queerer Personen „anders“ zu sein: „Viele LGBTQ+ Personen kennen die biografische Erfahrung, scheinbar „anders“ zu sein, „nicht richtig zu passen“.[3] Es bedeutet: am Rande der Gesellschaft, am Rande der Kirche zu sein, aber integraler Bestandteil der Queer-Existenz, sehr oft auch: am Rande des Lebens, in Isolation, unter Druck, Angst und mit dem Gedanken: „Die glauben, ich sei krank. Und dann waren da die Zweifel: Bin ich das vielleicht wirklich?“[4]
Was bedeutet es also, in der Kirche queer zu sein? In der Kirche zu sein oder nicht? In der Kirche zu sein, aber nicht voll akzeptiert zu werden? In der Kirche zu sein und sich selbst nicht zu akzeptieren: „Dort betete ich über fast zehn Jahren allabendlich zu Gott: „Bitte, bitte, mach, dass ich nicht schwul bin.“[5]
Die Diskussion über das Minority Stress Model bestätigt, dass schmerzhafte Erfahrungen von Diskriminierung, Stigmatisierung und Marginalisierung für die psychische und physische Gesundheit von Queer-Menschen wirklich dramatisch sein können. Wenn es um Queer-Existenz, Queer-Leben und ihre Erfahrungen geht, scheinen wir uns als Gesellschaft nicht sehr bewusst zu sein, welche psychischen und physischen Folgen soziale Stigmatisierung, Ablehnung, vorgegebene Geschlechterrollen und normative und aufgezwungene Heterosexualität als einzig gültige Verhaltensnormen auf Queer- und LGBT+Menschen haben können. Nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die traditionelle kirchliche Lehre produziert solche Folgen: “Diese Doktrin und ihre dramatischen psychophysichen Folgen sind eine ‚Form von Missbrauch.’“[6]
Aber queer zu sein bedeutet nicht immer, allein in der Isolation zu sein: Das gesamte System schafft „ein diskriminierendes Netz“. Auch Familien, Freunde, Erziehungsberechtigte, Bekannte sind in ein solches Netz eingebunden. Das Buch „Katholisch und Queer“ bietet auch einen Ort für deren Erfahrungen. Es ist wichtig für alle, die in bestimmten Macht- und Verantwortungspositionen innerhalb der Kirche sind. Die Botschaft lautet: Alleine schaffen wir es nicht.
Auch wenn das Thema hoffnungslos klingen mag: Am Rande zu stehen bedeutet nicht unbedingt, ohne Hoffnung zu sein. Das Buch „Katholisch und Queer“ bietet emotionale, aber zutiefst realistische Erfahrungen von Queer-Menschen und auch von Menschen, die ihnen nahe stehen. Darüber hinaus ruft das Buch zu einem notwendigen Wandel auf.
Dieser Wandel erfordert vor allem eine Öffnung der Augen für das Leben queerer Menschen. Einer der wichtigsten Gedanken, der mit der notwendigen Veränderung des Systems in Verbindung gebracht werden kann, wird im Buch so formuliert: „es geht bei LGBT*-Inklusion nicht nur um irgendwelche progressiven Ideologien, sondern es geht um Menschenleben.“[7]
Das Fundament der Veränderung besteht darin, die Augen für die Queer-Existenz zu öffnen und die Bedingungen für ein gesundes und vollständiges Leben von Queer-Menschen zu schaffen. Der notwendige sozio-kirchliche Wandel hat die folgende Vision: „Es ist 2030: Meine Partnerin und ich heiraten kirchlich. Corona ist vorbei, viele unserer Freund*innen sind gekommen. Unsere nicht christlichen Freund*innen sind begeistert von der Predigt der Priesterin, einer spätberufenen trans Frau, und ich weiß, es hat sich gelohnt: Engagement, Aktivismus, persönliche Gespräche, Synodale Weg – wir haben sie wiederaufgebaut: eine Kirche in der Menschen egal welchen Geschlechts und welcher sexueller Orientierung leben haben und es in Fülle haben.“[8]
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Tanja Grabovac ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz.
Bild: Coverausschnitt
[1] Mirjam GRÄVE, Hendrik JOHANNEMANN, Mara KLEIN, Am Ende: Perspektiven für einen notwendigen Wandel in der Kirche, in: Dies. (Hg), Katholisch und Queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln. Bonifatius, Paderborn 2021, 13.
[2] Christoph SIMONSEN, Provozieren, um zu heilen, in: GRÄVE/JOHANNEMANN/KLEIN, Katholisch und Queer, 93.
[3] Jens EHEBRECHT-ZUMSANDE, Willkommene Vielfalt. LGBTIQ+ Katholik*innen und ihr Kampf um Akzeptanz und Zugehörigkeit, in. GRÄVE/JOHANNEMANN/KLEIN, Katholisch und Queer, 230.
[4] SANDRA, „Die glauben, ich sei krank“, in: GRÄVE/JOHANNEMANN/KLEIN, Katholisch und Queer, 107.
[5] Mirjam GRÄVE, Hendrik JOHANNEMANN, Mara KLEIN, Am Ende: Perspektiven für einen notwendigen Wandel in der Kirche, in: Dies. (Hg), Katholisch und Queer, 291.
[6] Ruben SCHNEIDER, Internalisierte LGBT*-Phobie und LGBT*-Minoritätenstress: die psychischen Folgen der kirchlichen Verurteilung“, in: GRÄVE/JOHANNEMANN/KLEIN, Katholisch und Queer, 200.
[7] Ebda.
[8] RUTH, „Ich betete, dass Gott mich heterosexuell macht“, in: GRÄVE/JOHANNEMANN/KLEIN, Katholisch und Queer, 135.