Die Bereitschaft zur Konfrontation mit Verletzlichkeit zeigt sich als zentrale Fähigkeit im Aufbau interkultureller Kommunikation. Ergebnisse einer empirischen Studie. Von Valeryia Saulevich
Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen enthüllen große Vulnerabilitäten globaler und lokaler Systeme. Sie bringen Verbindungen, aber auch Abhängigkeiten und Grenzen zwischen diesen Systemen explizit ans Licht. Die Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten und Differenzen beeinflusst auch die Entscheidungen der Verantwortungsträgerinnen und -träger. Unter diesen Umständen wird die Suche nach einem konstruktiven Umgang mit Interkulturalität zu einem Bedürfnis und einer Notwendigkeit. Religion ist dabei eine der häufig unbemerkten Komponenten von Interkulturalität.
Wie kann Interkulturalität gedacht werden, wenn Religion als Teil interkultureller Interaktionen berücksichtigt wird? Diese Fragestellung habe ich an einer Unterkunft für Asylwerberinnen beforscht.[1] Es handelt sich dabei um eine detaillierte, sich auf mikrosoziale Situationen konzentrierende Tiefenanalyse. Das Hauptaugenmerk der Ethnografie lag auf den verkörperten Formen der impliziten Religion[2] in alltäglichen Interaktionen.
Der Begriff der „Verkörperungen“ breitet sich hier in vielfältiger Art und Weise aus. Er reicht von explizit religiösen Praktiken hin bis zum körperlichen Ausdruck – Bewegung, Gesten, Atmosphären – und dem Umgang mit der materiellen Umgebung – Räume, Gegenstände usw. [3] Die implizite Religion wird in diesem Sinne als Teil des interkulturell geprägten Alltags „vom Blickpunkt des körperlichen In-der-Welt-Seins“[4] betrachtet. Die Bedeutungen der Verkörperungen für die Akteurinnen wurden analysiert und in das systematische Verstehen der Interkulturalität eingebettet.
Der Kontext Unterkunft
Bei der untersuchten sozialen Einrichtung handelt es sich um eine Unterkunft für Asylwerberinnen. Neben der Wohnmöglichkeit will sie ihren Klientinnen eine vielseitige Betreuung anbieten. Das Aufgabenspektrum reicht von psychosozialem und rechtlichem Beratungsangebot bis zur Integrationshilfe im Alltag in Österreich.
In einem ehemaligen Schulinternat situiert, weist diese Einrichtung alle Merkmale einer typischen Wohngemeinschaft auf. Das spiegelt sich sowohl in der Organisation der Räume und alltäglicher Routinen als auch in der ästhetischen und atmosphärischen Wirkung wider. Ein weiteres Merkmal dieses Ortes ist eine bunte, heterogene Mischung aus Personen, die hier untergebracht sind. Als Forscherin trete ich in Kontakt mit Frauen unterschiedlicher Kontinente und Regionen: Mittelasien, Kaukasus, Ost- und Westafrika, Mittlerer Osten, Osteuropa usw. Zum geografischen Merkmal der Heterogenität kommen natürlich auch die individuelle Lebenssituation und persönliche Eigenschaften der jeweiligen Frau.
Die Konfrontation diverser Ordnungssysteme mit individuellen Lebensvorstellungen gehört zum Alltag der Einrichtung dazu. Dies drückt sich in den Interaktionen zwischen Mitarbeiterinnen und/oder Bewohnerinnen bereits bei solchen Themen wie Lebensgewohnheiten und -stile sowie, im Falle von Müttern, Erziehungsweisen aus. Allerdings bekommt die interkulturelle und interreligiöse Komponente trotz ihrer hohen Relevanz zu wenig Beachtung. Bei näherer Beobachtung zeigen sich auch Diskrepanzen zwischen den verkörperten Praktiken und den Visionen, Zielen und Absichten der frauenzentrierten Hilfe, wie diese von der Einrichtung kommuniziert werden.
Implizite Religion in der interkulturellen Interaktion
Die interkulturellen Interaktionen erscheinen als Spielfelder aus mehreren, gleichzeitig existierenden und sich zueinander dynamisch verhaltenden Komponenten: Emotionen, Gefühle, verbale und non-verbale Reaktionen, Absichten, Inhalte etc. Die Bezeichnung der Interaktionen als ‚interkulturell‘ bedeutet die Anerkennung der Präsenz der kulturellen Hintergründe der Akteurinnen im Moment der Interaktion. Somit werden auch mögliche Differenzen anerkannt.
Die implizite Religion stellt eine der Komponenten interkultureller Interaktionen dar. Sie kann als eine Gesamtheit an Sinninhalten mit fundamentaler, sinnstiftender, handlungs- und narrativkonstituierender Bedeutung definiert werden. Ihr besonderes Merkmal ist die hohe emotionale Qualität. Aufgrund dieser Charakteristika kann implizite Religion in theologischer Sprache als heilig für ihre Trägerinnen bezeichnet werden.
Die implizit-religiösen Inhalte sind mit verschiedenen, in den Interaktionen sich zeigenden Ebenen verknüpft und lassen sich auch darin erkennen. Die eine Ebene ist die der alltäglichen Praktiken und Narrative. Die zweite ist die Ebene der Konzepte wie Welt-, Selbst- und Rollenkonzepte oder persönliche und institutionelle Ziele und Visionen. Die dritte Ebene betrifft die kulturellen Orte der Auseinandersetzung in den Interaktionen wie z.B. Mutterschaft, Hilfe, Gesundheit, Fasten und Beten etc. Die implizit-religiösen Inhalte zeigen sich außerdem in emotionalen Dynamiken sozialer Interaktionen. Der Zusammenhang mit der emotionalen Komponente weist auf die Relevanz der persönlichen Beziehungen im Umgang mit diesen Inhalten hin.
Verletzlichkeit als Hauptmerkmal der Interkulturalität
Im Laufe der Studie zeigte sich, dass die implizit-religiösen Inhalte verletzliche Bereiche und Aspekte repräsentieren. Das kann erklären, warum es im Alltag schwerfällt, diesen Inhalten Raum zu geben. In vielen Fällen sind die implizit-religiösen Zusammenhänge nicht sofort nachvollziehbar, auch weil sie für die Akteurinnen selbst unbewusst bleiben können und nicht explizit kommuniziert werden. Außerdem werden in den Interaktionen Inhalte verkörpert, die häufig mit existenziellen Themen und fundamentalen Lebensvorstellungen zu tun haben. Sie zu hinterfragen kann daher als Eingriff in sensible, bedeutungsvolle, persönliche Bereiche empfunden werden. Um diese Bereiche zu schützen, werden diese Inhalte und Bedeutungen für die Außenstehenden verborgen gehalten.
Der Umgang mit implizit-religiösen Inhalten in sozialen Interaktionen spiegelt den Umgang der sozialen Akteurinnen mit Verletzlichkeiten auf verschiedenen Ebenen wider. In den interkulturellen Interaktionen kommen die Grenzen implizit-religiöser Inhalte deutlicher zum Ausdruck und somit erhöht sich auch das Gefühl der Verletzlichkeit. In dem spezifischen Rahmen der Einrichtung stellt dieses Gefühl im Verhalten und in der Kommunikation der Feldakteurinnen grundsätzlich ein großes Tabu dar. Die Verletzlichkeit wird meistens als eine Mangelerscheinung beleuchtet, sei es im Narrativ der „idealen“ Bewohnerin oder einer „starken“ Mitarbeiterin. Diese Betrachtungs- und Erzählweise hindert den offenen, ehrlichen Ausdruck des Gefühls. Sie kann außerdem zur Vermeidung der Auseinandersetzung mit den Themen und Situationen führen, in denen die Verletzlichkeit sichtbar wird.
Die Gleichsetzung der Narrative und Praktiken aller beteiligten Akteurinnen in einem interkulturellen Kontext kann an sich eine verletzliche Situation schaffen. Das geschieht deshalb, weil die sensiblen, womöglich problematischen Bereiche diverser Ordnungssysteme dabei entblößt und hinterfragt werden. Welche Rolle innerhalb dieser Erfahrung der Verletzlichkeit tatsächlich die kulturellen Hintergründe des Gegenübers spielen, kann erst in Folge der eigenen Gefühls- und Emotionsverarbeitung im Gesamtkontext der sozialen Situation nachvollzogen werden. Die Bereitschaft zur Konfrontation mit Verletzlichkeit kann somit als eine zentrale Fähigkeit im Aufbau der interkulturellen Kommunikation betrachtet werden. Verletzlichkeit als Hauptmerkmal interkultureller Prozesse stellt einen der Schlüssel zu einem offenen, beziehungsorientierten Umgang mit der Interkulturalität dar.
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Dr. theol. Valeryia Saulevich hat Theologie in Minsk, Berlin und Graz studiert. Promotion im Juni 2022 bei Maria Elisabeth Aigner am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie in Graz.
Bild: Valeryia Saulevich
[1] Die Studie wurde im Rahmen des OeNB-Projektes Nr. 17746, „Religiöse Welten. Religion in multikulturellen Communities“, erstellt und als Dissertation im Mai an der Universität Graz eingereicht.
[2] Vgl. Bailey, Edward I., Implicit religion in contemporary society, Weinheim 1997. Das weit gefasste theoretische Konzept entwickelt sich im Laufe der Analyse und wird u.st. in Übereinstimmung mit den empirischen Daten erklärt.
[3] Vgl. Gugutzer, Robert, Verkörperungen des Sozialen: Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012, 68.
[4] Bennett, Milton J./ Castiglioni, Ida: Embodied ethnocentrism and the feeling of culture: A key for training in intercultural competence, in: Landis, Dan/ Bennett, Janet M./ Bennett, Milton J. (Eds.): The handbook of intercultural training, London (et al.) 32004, 254.