Ottmar Fuchs (Jg. 1945) hat die Konzilszeit miterlebt und viele Jahrzehnte die (Pastoral-)Theologie im deutschen Sprachraum geprägt. 60 Jahre nach Konzilseröffnung benennt er Selbstkritik, Entwicklungen, Hoffnungen und Enttäuschungen.
Ich war damals 17 Jahre alt. Was in der Folge des Konzils geschah, hat mich entscheidend zum Theologiestudium motiviert, und dazu, dass ich trotz Zölibat Priester wurde: zum letzteren wohl berufen, zum ersteren kaum. Glühend haben wir, viele meiner Priesterkollegen und ich, die Texte des Konzils gelesen und die entsprechenden Aufbrüche mitgetragen. Wir haben die Richtung des Konzils nachdrücklich vertreten, verteidigt und durchgesetzt, wo wir die Macht hatten.
Die neue Erfahrungsbezogenheit führte leider nicht zu einer für den innerkirchlichen Bereich expliziten Dialogvorstellung.
Was die Texte aber wenig vermittelt haben: Ihre neue Erfahrungsbezogenheit führte leider nicht zu einer für den innerkirchlichen Bereich expliziten Dialogvorstellung. Dialog mit den anderen Religionen und Religionsfreiheit, ja! Aber wie ist mit denen umzugehen, die diesen Dialog nach außen und die Freiheit der Anderen nicht in dieser Weise wollen? Gäbe es dann vielleicht, wenn auch in anderer Weise, auch in der katholischen Kirche eine „Low“- und eine „High-Church“?
In Erinnerung an Hans Küng
Hans Küng ging in seinem Buch „Wahrhaftigkeit“ von 1968 davon aus, dass in der Kirche nicht nur Vielfalt ist, sondern auch Gegensätzlichkeit. Mit ihr ist entsprechend umzugehen. Küng schrieb damals: „Wir halten nichts von Kategorien und Einteilungen, falls sie etikettierend und ausschließlich gemeint sind: konservativ – progressiv, rechts – links, alt – jung …! … Bei allen verschiedenen Akzentuierungen, Richtungen und Gruppierungen, die es seit der neuen konziliaren Freiheit auch in der katholischen Kirche gibt: Wir dürfen uns nicht auseinanderleben! Spannungen dürfen nicht Trennungen werden! … Gerade ‚Progressive‘ sollten es sich jetzt, wo sie vielfach ‚an der Macht sind‘, zur Ehre machen, die ‚Konservativen‘ zu verteidigen, wo immer sie verketzert oder unter Umständen sogar um ihrer Konservativität willen schikaniert werden sollten.“[1]
Ich selbst habe progressiv gepredigt, und dazu noch gnadenlos: immer nur imperativisch.
Ich vermute, dass die hier angesprochenen „Progressiven“, zu denen ich als Theologiestudent und später als Kaplan selbst gehörte, Küngs Mahnung gründlicher beherzigen hätten sollen. Ich selbst habe progressiv gepredigt, und dazu noch gnadenlos: immer nur imperativisch. So habe ich die Geschichte von Johannes 8, der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin, so interpretiert, dass auch wir Menschen so miteinander umgehen müssen. Gleichzeitig habe ich die erste und entscheidende Botschaft begraben, nämlich zuerst zu sagen: Wie Christus sich mit der Ehebrecherin beschäftigt, so geht er nun mit uns um, die wir selbst diese Versöhnung geschenkt bekommen. Diesen Indikativ der Gnade, der nicht an Leistung gebunden ist, habe ich sträflich vernachlässigt.
Ungeteilte Freiheit?
So sprachen wir von der Freiheit der Charismen und haben gleichzeitig Menschen, die sich nicht diesem zweitvatikanischen Mainstream unterwarfen, kaum mehr beachtet. Und die Wucht des darauf folgenden „roll back“, auch die nicht zu unterschätzende Basisbezogenheit dieses Widerstandes gegen das II. Vatikanum und seine Veränderungen, hat sicher auch mit dieser damaligen Abdrängung und Verdrängung zu tun.
Nicht gelernt: Offenheit auch für nichtintegrierbare Pluralität in der Kirche selbst.
Ja, wir haben vom II. Vatikanum anfangs nicht gelernt, was zumindest implizit in der Freiheits- und Berufungstheologie des II. Vatikanums steckt, nämlich die Offenheit auch für nichtintegrierbare Pluralität in der Kirche selbst. Ich habe es zunächst unterlassen, die Theologie des II. Vatikanums auch als Basis für die Pluralitätsfähigkeit jenen gegenüber zu verstehen, die genau mit dieser Richtung ihre Probleme haben. Wir haben auf diese Gläubigen hin keine Pluralitätsfähigkeit geprobt. Die Veränderung erfolgte erst langsam: Mir ist eine Begebenheit in Erinnerung, die mich beschämt hat. Als ich einmal im Bamberger Ordinariat wegen einer allzu forschen Predigt „angezeigt“ wurde, hat mich ein älterer Gottesdienstbesucher in einem Brief nach Bamberg verteidigt, obgleich er als konservativer Christ gar nicht mit allem einverstanden war. Dieser ältere Herr hat mir gezeigt, was es heißt, eine andere Meinung zu schätzen und zu schützen.
Ein Leseerlebnis
Und dann habe ich den Roman »Insel des Glaubens« von Brian Moore in die Hand bekommen. Der aus Nordirland stammende Schriftsteller hat das Buch 1972, also in der noch relativ ungebrochenen direkten Nachkonzilszeit unter dem Titel »Catholics« in London veröffentlicht; die deutsche Erstauflage erschien 1975.[2] Die Geschichte spielt am Ende des 20. Jahrhunderts. Auf einer irischen Felseninsel im Atlantik leben in einem alten Kloster ein Abt und seine Mönche, die sich den neuesten Anordnungen Roms widersetzen. Nach einem vierten Konzil schickt der Vatikan einen jungen modernen Bevollmächtigten, der die irischen Mönche von ihren traditionellen Glaubenspraktiken abbringen und für eine völlig modern und neuzeitlich gewordene ökumenische Kirche gewinnen soll. Zwischen dem Abt und dem vatikanischen Sendboten kommt es zu einer ergreifenden Auseinandersetzung über das Recht einer kirchlichen Gemeinschaft, »Jahrhunderte verpassen« und an den alten Symbolformen festhalten zu dürfen.
Mein Leseerlebnis war seltsam: Anfangs hatte ich Sympathie für den Gesandten aus Rom, für die moderne weltweit-ökumenische und sozial engagierte Kirche, die er vertritt. Doch allmählich, mit voranschreitender Lektüre, wendete sich das Blatt meiner Sympathie. Einmal lernte ich, mich immer mehr in den Abt und seine Mönche hineinzuversetzen. Nun realisieren die »Progressiven« ihre Herrschaft als hierarchische Unterordnung.
Wir haben in den Jahrzehnten nach dem Konzil eine doppelt misslungene innerkirchliche Konfliktlösung vor uns.
Leib Christi als gefeierte, nicht hergestellte Einheit
So haben wir in den Jahrzehnten nach dem Konzil eine doppelt misslungene innerkirchliche Konfliktlösung vor uns. Es gab nacheinander mit unterschiedlichen Vorzeichen, die Missachtung des jeweils anderen gegenteiligen Teils von Kirche. Wir und die anderen haben es nicht geschafft, gegenseitig und gegensätzlich solidarisch zueinander zu stehen und uns gegenseitig zu schützen. Wir haben die Widersprüche zu wenig entfeindet. Die gegenseitige Moralisierung und Degradierung waren wichtiger als Miteinandersein und Beieinanderbleiben in Christus, der, im Bild des paulinischen Leibes Christi, die verschiedenen Menschen und Seiten von Kirchen vereint. Denn der Gläubigen Einheit ist nicht ihre eigene Konsensleistung, sondern ist Christus selbst, auch jeden Dissens umfassend. Diese Erfahrung ließe dann wenigstens entfeindet miteinander umgehen. Die Eucharistiefeier wäre eine Form der Feier unserer Einheit im Dissens gewesen.[3] Davon haben wir kaum einen programmatischen Gebrauch gemacht. Ihre Feier blieb weitgehend identitär.
Vielleicht?
Objektiv kann man die These von der angesprochenen Unterdrückungszeit der „Konservativen“ etwa daran festmachen, dass der alte lateinische Ritus schlechthin verboten wurde. Hans Küng war immer gegen dieses Verbot, das nicht notwendig war, wenn man doch prinzipiell die Pluralität von verschiedenen Kanongebeten für die Messfeier akzeptiert hat und deshalb in diese Pluralität durchaus auch den alten Ritus, mit wenigen Korrekturen, mit hätte aufnehmen können. Ein weitgehendes Entgegenkommen in gegenseitiger Akzeptanz hätte vielleicht eine entspanntere Situation ergeben, mit den Chancen einer besseren Begegnungskultur zwischen Konservativen und Progressiven.[4]
„Vielleicht“ sage ich. Vielleicht hätte eine bessere Kommunikationsbereitschaft auch gar nichts genutzt. Man darf die Macht von Kommunikationen nicht überschätzen, wenn nichts als Kommunikationsabbrüche nötig sind, um zu überleben. Es sieht ab den 1980er Jahren eher danach aus, als wäre der reaktionäre Panzer auch dann darüber hinweggefahren. Das alles falsifiziert meine Hoffnung, es wäre anders gekommen, wenn wir damals anders gekommen wären. Man muss heute nicht den guten Willen derer überschätzen, die jetzt das Sagen haben. Vor allem wenn ich an die Opfer ihrer Strategien, vornehmlich an die Frauen, denke. Zu Kreuze kriechen ist nicht meine Option. Doch kann ich nicht entschuldigen, was ich damals in den 1970ern nicht richtig gemacht habe, auch wenn es keinen Erfolg gehabt hätte.
Nur wenn wir unser Dasein gegenseitig schützen, können wir unser Sosein kritisieren.
Ausblick
Später ging es Küng schlimmer als denjenigen, die er vorher in Schutz genommen hat: Als sogenannter Progressiver findet er sich auf der anderen Seite der Macht wieder und es kommt zu Ausgrenzungen und auch Trennungen. Die schlimmste Trennung war der Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis. Küng formuliert 1968 für die Anderen, was später sein Wunsch für ihn selbst gewesen wäre: als „Anderer“ anerkannt und nicht exkludiert zu werden. Küng ist natürlich nicht ganz unschuldig in diesem Zusammenhang, sein Selbstbewusstsein in dieser Auseinandersetzung lässt wirklich nichts zu wünschen übrig, aber er hatte einen Begriff davon, dass er selbst dabei hinter dem zurückbleibt, was ihm wichtig ist.
Es bleibt eine ebenso bitter notwendige wie schwierige Aufgabe: nur wenn wir unser Dasein gegenseitig schützen, können wir unser Sosein kritisieren, und wir können umso mehr unser Sosein kritisieren, als wir das Dasein der Anderen nicht infrage stellen, auch nicht ihr Wohlbefinden und ihre Zugehörigkeiten.[5] Unter diesem Damoklesschwert befinden wir uns alle, die eine bestimmte Position in Kirche und Gesellschaft durchaus heftig vertreten wollen. Wer „Andere“, auch Mächtigere, nicht schädigen oder gar töten will, muss Ohnmacht riskieren.
[1] Hans Küng, Wahrhaftigkeit. Zur Zukunft der Kirche, Freiburg i. B. 2/1968, 21-22.
[2] Brian Moore, Insel des Glaubens, Düsseldorf 1975, als Taschenbuch (Titel: »Katholiken«) erschienen Zürich 1978.
[3] Vgl. Ottmar Fuchs, Liturgie: eine geheimnisvolle Einheit in der Vielfalt der Erlebnisse, in: Peter Ebenbauer, Basilius J. Groen (Hg.), Zukunftsraum Liturgie, Wien 2019, 125-144.
[4] Vgl. Ders., Zwischen Wahrhaftigkeit und Macht. Pluralismus in der Kirche?, Frankfurt a.M. 1990, 16-39.
[5] Vgl. Ders., Dialog im „Martyrium“ der Wahrheit, in: Peter Hünermann, Bernd-Jochen Hilberath (Hg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 5, Freiburg 2006, 254-371.
Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
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