Karin Berkemann bespricht das Buch: Moderner Kirchenbau in der Schweiz, hrsg. von Johannes Stückelberger, erschienen 2022 im Theologischen Verlag Zürich.
Von manchen Büchern weiß man nicht, dass man sie braucht, bis man sie in den Händen hält. Dazu gehört für Architekturfreund:innen sicher bald der im Theologischen Verlag Zürich erschienene Band „Moderner Kirchenbau in der Schweiz“. Er öffnet den Blick für eine Kulturlandschaft jenseits der Grenze, an der die eigene Aufmerksamkeit allzu oft hängen bleibt. In der Nachkriegszeit (und genau auf jene konzentriert sich die Publikation) lag der Fall anders. Damals fuhren die Architekt:innen mit ihren bauwilligen Gemeinden immer wieder ins benachbarte Ausland, um sich inspirieren zu lassen. Gerade in den 1960er Jahren war die Schweiz hier mit ihren betonplastischen Kirchen ein beliebtes Exkursionsziel – zu Recht, wie es der Aufsatzband im Rückblick entfaltet.
In den 1960er Jahren war die Schweiz mit ihren betonplastischen Kirchen ein beliebtes Exkursionsziel.
Zum Thema „Moderner Kirchenbau“ hatten sich Architekt:innen und Künstler:innen, Denkmalpfleger:innen und Wissenschaftler:innen, Pfarrer:innen und Gemeinden im August 2019 in Bern zum dritten Schweizer Kirchenbautag versammelt. Diese Fachkonferenz widmet sich seit 2015 im zweijährigen Rhythmus immer neuen Schwerpunkten – der hier besprochene Aufsatzband versammelt die Vorträge von 2019 in leicht bearbeiteter Form. Entsprechend finden sich unter den Autor:innen gleich mehrere Theolog:innen beiderlei Konfession, zwei Architekturhistoriker:innen, ein Architekt/Denkmalpfleger und ein Musikwissenschaftler. Aber den unbestreitbaren Mittelpunkt der Publikation bilden die rund 1.000 Kirchenbauten römisch-katholischer und evangelisch-reformierter Gemeinden, die in der Schweiz nach 1950 entstanden sind.
Drei Bautypen: Zelt, Skulptur und Alltag
Unter der Herausgeberschaft des Kunsthistorikers Johannes Stückelberger staffeln sich die Fachbeiträge vom Allgemeinen zum konfessionell Unterschiedlichen, von der Architektur zu den Ausstattungsdetails, von der Theorie zur Praxis. Zum Auftakt werden die nachkriegsmodernen Kirchenformen und -ausstattungen konfessionsübergreifend umrissen. Die Architekturhistorikerin und Denkmalpflegerin Anke Köth arbeitet zunächst – in Anlehnung an die Berliner Kunsthistorikerin Kerstin Wittmann-Englert – drei Bautypen heraus: Zelt, Skulptur und Alltag. Demgegenüber macht sie aktuell eine Rückkehr zum Konzept der Sakralität aus. In seinem Beitrag sieht Stückelberger sowohl römisch-katholische als auch evangelisch-reformierte Nachkriegskirchen durch Bildlosigkeit geprägt. Wo man sich seinerzeit allgemein auf Material und Konstruktion konzentrierte, arbeiteten die jeweiligen Konfessionen dafür durchaus eigenständige theologische Begründungskonzepte aus.
Das Ideal der Gemeinschaft
Eben jene konfessionellen Unterschiede werden in den beiden folgenden Beiträgen durchbuchstabiert. Der Theologe und Historiker Urban Fink entfaltet den römisch-katholischen Nachkriegskirchenbau entlang der damaligen Liturgiereform, nicht ohne einen klaren Seitenblick auf ökumenische Konzepte und den Umgang mit historischen Räumen. Quasi als Gegenstück schildert die Theologin Katrin Kusmierz, wie auf evangelisch-reformierter Seite damals das Verständnis von Kirche und Welt neu ausgehandelt wurde. Ziel war eine nicht missionarische, sondern vor allem dienende Öffnung zur Welt. Damit zieht sich dann doch ein Gedanke durch die Reformbestrebungen der beiden Konfessionen – das Ideal der Gemeinschaft.
„Warum hat früher niemand gemerkt, dass die Glocken so laut sind?“
Hilfreiches Praxiswissen bieten zwei weitere Beiträge. Der Architekturhistoriker und Glockenexperte Matthias Walter widmet sich den modernen Kirchtürmen und der Musikwissenschaftler Michael Meyer behandelt den Orgelbau der 1950er bis 1970er Jahre. Neben allerlei historischem Kontext – warum zeigte man Glocken und Orgelpfeifen seinerzeit so gerne in offenen Gehäusen – kommen auch überraschende Details nicht zu kurz. Auf die Frage „Warum hat früher niemand gemerkt, dass die Glocken so laut sind?“ kann man nun fundiert kontern: Als die Orgelsachverständigen zu den Nachkriegskirchen kamen, waren die Glocken noch brandneu. Erst mit den Jahren vergrößerte sich die Anschlagfläche des Klöppels und der Klang wurde intensiver. Damit muss die Glockenstube heute nicht immer eingehaust werden, manchmal genügt ein Nachjustieren des technischen Innenlebens.
Die Gemeinden müssen ihre Räume nur genau kennen.
Nicht zuletzt wendet sich der Aufsatzband dem aktuellen Umgang mit der Kirchbaumoderne zu: Wenn „Kirchgemeindezentren erweitert und neugestaltet werden, so spricht dies nicht gegen, sondern für das ihnen zugrunde liegende Konzept.“ Stückelberger ist überzeugt, dass gerade die historisch gewachsene Flexibilität heute Zukunft hat. Um sie klug zu nutzen, müssen die Gemeinden ihre Räume nur genau kennen, was sich – so die Erfahrung des Autors – oft erst während der Renovierung einlöst. Aus der Sicht des Denkmalpflegers Bernhard Furrer sind Kirchen, erst einmal, historische Bauten wie andere auch. Doch ihre Erhaltung ist am Ende nur möglich, wenn die Nutzer:innen mitziehen, wenn sie um den Wert ihrer Räume wissen. Und so manche liturgische ‚Notwendigkeit‘ entpuppe sich auf lange Sicht dann doch nur als modische Erscheinung – der nächste Pfarrer, die nächste Pfarrerin sieht vieles wieder ganz anders. Konsequenterweise kommen zum Abschluss des Buchs die Nutzer:innen der Kirchenräumen in einem aufgezeichneten Gespräch selbst zu Wort.
Einzelne Linien werden bis in das Ende des 20. Jahrhunderts ausgezogen.
Wer neugierig geworden ist, kann das Buch zur Schweizer Kirchbaumoderne analog erwerben, kostenfrei im Open Access blättern – oder einen vertiefenden Blick in die Online-Datenbank des Schweizer Kirchbautags werfen. In der Zusammenschau konzentriert sich der Band auf die ökumenischen Gemeinsamkeiten, teils zulasten der jeweils eigenständigen konfessionellen Profile. Der Schwerpunkt liegt auf dem Bauen bis Mitte der 1970er Jahre in der deutschsprachigen Schweiz, wobei einzelne Linien bereits bis in das Ende des 20. Jahrhunderts ausgezogen werden. Hier wird sicher in den kommenden Schweizer Kirchenbautagen ein größeres Augenmerk liegen müssen, allein schon wegen des drängenden Sanierungsbedarfs. Denn im Vergleich zu den deutschen Entwicklungen, zum wachsenden Druck vor allem im west- und süddeutschen Bereich, treten die Probleme in der Schweiz erst verzögert zu Tage. Dieser Zeitpuffer lässt sich nutzen – die vorliegende Publikation ist dafür bereits ein guter Wegweiser.
Karin Berkemann, Dr., Theologin, Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin, Kustodin der Dalman-Sammlung an der Universität Greifswald.
Das Buch: Moderner Kirchenbau in der Schweiz, hg. Johannes Stückelberger, Theologischer Verlag Zürich (TVZ) 2022, 156 Seiten, ISBN 978-3-290-18410-0; kostenlos auch als open access zum Download erhältlich.