Der französische Denker Georges Bataille wäre in diesem Jahr 125 Jahre alt geworden – seine Ideen sind von einer überraschenden Aktualität, findet Hildegund Keul.
Als im vergangenen April die russischen Truppen um Kiew abgezogen waren, fanden sich in Butscha 458 Leichen, von denen 419 Zeichen von Folter und Ermordung trugen. Ich möchte mir nicht vorstellen, was diese Menschen durchgemacht haben. Dass ein solch rasender Schmerz von ‚Mitmenschen‘ gezielt herbeigeführt wird, hat etwas Unfassbares. Was bringt Einzelne und ganze Gesellschaften auf jenen Siedepunkt, der alle Grenzen der Vernunft und alle Blockaden wider die Gewalt überschreitet? Und vor allem: Wie wird aus einem ganz gewöhnlichen Menschen – einem freundlichen Nachbarn, einer fürsorglichen Mutter, einem liebenden Ehemann, einer guten Freundin, einem charismatischen Priester – ein Folterknecht, eine Henkerin, ein Schlächter?
Explosive Vulneranz
Die Lektüre der Schriften Georges Batailles (1897–1962) lohnt sich, weil sie solchen Fragen nachgehen. In den letzten Jahren waren sie ein Eckpunkt meiner Forschung. Als Donald Trump in den USA an der Macht war oder die Corona-Pandemie ihre politischen Schockwellen um die Welt schickte, erschien mir eine Relevanzsteigerung der Bataille-Lektüre unwahrscheinlich. Aber dann kam der Krieg. Das Schlimmstmögliche wurde am 24. Februar 2022 Realität. Der Krieg aber und generell die explosive Vulneranz waren ein Lebensthema Batailles. Nomen est omen? Erneut greife ich zu Batailles Schriften. Sie decken Erkenntnisse auf, die sich mir entziehen wollen, weil ich mich vor ihnen drücken will.
1. Von der berechnenden zur explosiven Vulneranz. Die Massaker von Butscha – russische Realität, ukrainische Gefahr
Bataille schrieb bereits 1947 über Auschwitz:
„Wie die Pyramiden oder die Akropolis ist Auschwitz Tat, ist Auschwitz Zeichen des Menschen. Das Bild vom Menschen ist seither untrennbar mit einer Gaskammer verbunden …“[1]
Im April 2022 hat sich auch Butscha als ‚Tat und Zeichen des Menschen‘ in die Geschichte eingeschrieben. Folter, Aushungern, Vergewaltigung, Ermordung als Mittel der Kriegsführung sollen Grauen und bodenlose Angst in der Bevölkerung verbreiten. Offensichtlich stimmt, was Bataille für selbstverständlich hält: Ein Gewaltregime findet immer seine willfährigen Vollstrecker, seine Henkerinnen und sadistischen Peiniger.
Möglichkeit des Menschseins
Aber warum finden sich an allen Orten und zu allen Zeiten Gewaltverbrecher:innen, sobald sich die Möglichkeit hierzu eröffnet? Ein beliebtes Erklärungsmuster greift hierbei zu kurz, dass nämlich diejenigen, die Anderen so Schreckliches antun, Ungeheuer sind, unbegreifliche Monster, und eigentlich gar keine Menschen. Die explosive Vulneranz wäre dann vom Menschsein ausgegrenzt und in gewissem Sinn erträglich. Man müsste sich zwar weiterhin vor solchen Monstern, nicht aber vor sich selbst fürchten. Eine solche mentale Ausgrenzung erklärt jedoch nicht den massenhaften Umschwung hin zur Vulneranz, wie er in Kriegen geschieht. Vielmehr führen die Kriegsverbrechen eine Möglichkeit des Menschseins vor Augen. Das Monströse lässt sich nicht wegschieben, den Menschen gegenüberstellen und vom Menschsein trennen. Das ist eine Lehre schon aus Auschwitz. Niemand kann diese Möglichkeiten des Menschseins für sich selbst ausschließen.
„Aber wir sind nicht nur die möglichen Opfer der Henker: die Henker sind unseresgleichen. […] Wir sind also nicht bloß zum Schmerz, sondern auch zur Raserei des Folterns fähig.“[2]
Diese Erkenntnis rührt an einen entscheidenden Punkt: die prekäre Verwobenheit von Vulnerabilität und Vulneranz. Sie sind nicht binär voneinander getrennt, sondern erzeugen Wechselwirkungen, die im Krieg besonders machtvoll werden. So stand am Beginn des Ukraine-Krieges eine behauptete Vulnerabilität. Putin betont, dass die „militärische Sonderoperation“ notwendig sei, da die NATO Russland verarmen, unterjochen und auslöschen wolle. „Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung und, ich wiederhole, sie nähert sich unseren Grenzen“, so Putin am 24.2.2022.[3] Der Ukraine-Krieg ist ein Paradebeispiel dafür, wie erhöhte Vulnerabilität – sei sie reell oder aus strategischen Gründen behauptet oder irrtümlich geglaubt – dazu dient, Vulneranz zu legitimieren. Um einen gewaltsamen Übergriff zu begründen, wird das Gefühl erhöhter Vulnerabilität geschürt.
Effervescance de la vie
Zunächst wäre zu hoffen, dass eine solche Vulneranz eingeschränkt werden könne. Dass berechnet wird, was notwendig ist, um die (angebliche) Vulnerabilität abzusenken und die Sicherheit zu erhöhen. Aber Vulneranz wird sehr schnell explosiv, was das Gegenteil von ‚berechenbar‘ ist. Die ukrainischen Opfer werden nicht schnell getötet, sondern gefoltert. Sie werden nicht nur verschleppt, sondern vergewaltigt, verhöhnt, erniedrigt, missbraucht. Wahrscheinlich handelten die Mörder von Butscha wie in einem Rausch und hatten das größte Vergnügen daran. Sie erfuhren in der Gewalt, die sie ihren Mitmenschen antaten, ein erotisches Aufbrausen des Lebens. Bataille nennt dies „l’effervescence de la vie“. Ist dieser Punkt erreicht, geschieht etwas Paradoxes. Diente die Vulneranz anfangs dazu, Sicherheit zu erhöhen, so löst sich diese Motivation in der Gewalttat gänzlich auf. Sicherheit spielt keine Rolle mehr, sie wird im Gegenteil aufs Spiel gesetzt.[4] In der Überschreitung von der berechenbaren in die explosive Vulneranz sind die Folgen der Gewalttat gänzlich egal.
Wenn dies auch auf Putin zutrifft, ist für die Eskalation des Krieges Schlimmes zu befürchten. Auch für die Ukraine bergen sich Gefahren, denn auch hier kann die berechnende Vulneranz der Selbstverteidigung jederzeit umschlagen in explosive Vulneranz, die keine Grenzen kennt. Hoffentlich unterliegt das ukrainische Militär dieser Versuchung weiterhin nur selten, denn explosive Vulneranz gibt dem Bösartigen des Krieges Raum in den eigenen Reihen.
2. „Das Opfer“ ist wieder auf der theologischen Agenda. Aber eigentlich war es nie weg
Fühlen sich Putin & Co von Butscha in Frage gestellt? Bedauern sie die Verbrechen? Das ist unwahrscheinlich. Vielmehr steht zu befürchten, dass sie sich von einer möglichst hohen Zahl möglichst blutiger Menschenopfer in ihrer Kriegsmission bestätigt fühlen. Wahrscheinlich genießen sie den ‚Erfolg‘ der Vernichtung mit hämischer Freude und überschwänglichem Triumphgefühl. Insbesondere für Putin ist dieser Krieg ein heiliger Krieg. Auch das lässt sich von der a-theologischen Religionstheorie Batailles lernen: der prekäre Zusammenhang zwischen dem Sacrifice (ein Opfer, das um eines höheren Zieles willen freiwillig gegeben oder gewaltsam von Anderen erzwungen wird) und dem Heiligen.
„Das Sacrifice ist jedoch etymologisch nichts anderes als die Erzeugung heiliger Dinge. Damit ist klar, daß heilige Dinge durch eine Verlusthandlung entstehen.“[5]
Je mehr Opfer, desto heiliger
Das Heilige und das Opfer (Sacrifice) bringen sich gegenseitig hervor, so dass es zu einer Art Opferspirale kommt. Menschen sind zu Opfern aller Art bereit, wenn es um etwas geht, das ihnen heilig ist. Je heiliger etwas ist, desto mehr Opfer werden erforderlich. Und je mehr Opfer gebracht werden, desto heiliger wird das, worum es geht. Das Sacrifice fungiert als Scharnier zwischen der Welt des Profanen und des Heiligen. Denn Menschen können das, was in der profanen Welt produziert wird, der Nützlichkeit entziehen und in den Dienst dessen stellen, was ihnen heilig ist. Während das Profane von Sicherungsstrategien, Maßhalten und Sparsamkeit geprägt sind, herrschen im Heiligen Maßlosigkeit, Risiko und Verschwendung. Dabei geht es hier nicht zwangsläufig um Gott. Heilig können die eigenen Kinder sein – Eltern sind besonders opferbereit –, die eigene Religion, die eigene Heimat. Das Prekäre liegt darin, dass die Opfer, die für das Heilige gebracht werden, auch aus den Ressourcen anderer Menschen stammen können. Sacrifices victimisieren. Das müssen derzeit die Ukrainer:innen auf vielfältige Weise an Leib und Leben erfahren.
In der Theologie zeigte sich in den letzten Jahren eine Tendenz, den Opferbegriff aus ihren Debatten herauszuhalten. Mit dem „Abschied vom Opfertod“ sollte gar das Christentum neu entdeckt werden.[6] Aber verschließt man damit nicht zugleich die Augen vor der menschenverachtenden Vulneranz, die sich an so vielen Orten der Welt austobt, und die auch in der eigenen Kirche eine verborgene Macht darstellt? Das Menschenopfer ist keine archaisch-vergangene, sondern eine höchst aktuelle Größe. Die Menschenopfer in sexuellem Missbrauch und seiner Vertuschung zeugen hiervon.
3. „In der Nähe des Schwertes auf den Stufen des Thrones herumlungern“
Das Christentum spielt bei der politischen Bedeutung des Opfers auch aktuell eine entscheidende Rolle. Patriarch Kyrill I. versucht von Kriegsbeginn an, die Opferbereitschaft der russischen Bürger:innen anzuheizen, indem er diesen Krieg als einen heiligen Krieg formatiert. Krieg erfordert enorme Opfer und ist auf Dauer nur zu führen, wenn eine Mehrheit von dessen Heiligkeit überzeugt ist. Ansonsten gilt es, sich selbst in Sicherheit zu bringen wie die jungen Männer, die nach der Teilmobilmachung das Land verlassen wollten. Kyrill hingegen erhofft sich einen Machtzuwachs, wenn erst einmal die ukrainische Orthodoxie seiner Herrschaft unterworfen ist und weitere Okkupationen folgen können. Auch hier ist Bataille aufschlussreich:
„sogar die offizielle Verweigerung der Macht durch das Christentum hat – um ein vulgäres Bild zu gebrauchen – das Kreuz nicht gehindert, immer in der Nähe des Schwertes auf den Stufen des Thrones herumzulungern.“[7]
Hohepriester Putins
Allerdings frage ich mich mittlerweile, ob diese Aussage auch auf Papst Franziskus zutrifft. Mir ist es peinlich, wie er sich im ersten Kriegshalbjahr Kyrill I. andiente. Lungert auch er in der Nähe des Schwertes auf den Stufen der Macht? Als der Papst vor einigen Wochen vom „Gebell“ der NATO an der Haustür Putins sprach, ging die fälschliche Behauptung des Diktators auf, dass eine erhöhte Vulnerabilität Russlands den Angriffskrieg rechtfertige. Zwar warnte Papst Franziskus, Kyrill I. müsse aufpassen, dass er nicht zum „Messdiener“ Putins werde. Das verharmlost jedoch die Rolle, die der superreiche, homophobe Patriarch spielt. Dieser ist nicht der Messdiener, sondern der Hohepriester Putins. Sein Rückgriff auf nie dagewesene heilige Zeiten sakralisiert den Angriffskrieg und verleiht ihm damit ein stabiles Rückgrat. Bei dem versuchten Machtaufstieg des Patriarchen sollte sich ein Papst nicht zum Steigbügelhalter machen, auch nicht durch wohlgemeinte Appeasement-Politik.[8]
Schrecklich erhellend
Batailles Schriften fordern dazu heraus, dem Abgrund menschlicher Vulneranz ins Auge zu sehen. Wer dieser Vulneranz widerstehen will, auch in den eigenen Reihen und sogar bei sich selbst, muss wissen, wo und wie sie funktioniert. Die Lektüre Batailles ist erhellend und schrecklich. Sie ist schrecklich erhellend.
Prof. Dr. Hildegund Keul, Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft, Universität Würzburg, leitet seit 2017 das DFG-Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“.
Foto: © Hildegund Keul
[1] Bataille, Georges: Henker und Opfer. Berlin: Matthes & Seitz 2008. 21.
[2] Bataille: Henker, 17.
[3] www.tagesspiegel.de/politik/putins-kriegserklarung-gegen-die-ukraine-im-wortlaut-5420614.html.
[4] Das Folgende führt die Gewalttheorie Batailles vulnerabilitätstheoretisch weiter; s. Keul, Hildegund: Schöpfung durch Verlust. Band I: Vulnerabilität, Vulneranz und Selbstverschwendung nach Georges Bataille. Würzburg University Press (WUP) 2021 (Print sowie Open Access https://doi.org/10.25972/WUP-978-3-95826-159-4), bes. 211–253.
[5] Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie. 3. erweiterte Auflage. München: Matthes & Seitz 2001, 13.
[6] Meinrad Limbeck: Abschied vom Opfertod. Das Christentum neu entdecken. Ostfildern: Grünewald 2012.
[7] Bataille: Faschismus, 27.
[8] Hierzu zähle ich auch die Ansprache vom 2.10.2022, die den Verursacher nicht nennt, sich über Kyrill ausschweigt und der Bösartigkeit des Krieges nicht gerecht wird.
Bildquelle: Hildegund Keul (Fotografie eines Kunstwerks von Aron Demetz)