Welche Zukunft hat der römische Katholizismus? Ist die Synodalierung der Kirche ein gangbarer Zukunftsweg? Gregor M. Hoff zur gegenwärtigen Situation der römisch-katholischen Kirche – zwischen Auflösung und Neubeginn.
Sechzig Jahre nach der Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils hat Papst Franziskus den weltweiten synodalen Prozess der katholischen Kirche um ein Jahr verlängert. Damit erhalten die Beratungen Zeit für intensiveren Austausch und Raum für stärkere Beteiligungen des gesamten Volkes Gottes. Auch wenn nicht klar festgelegt ist, wie die Perspektiven aus den Ortskirchen aufgenommen werden, zeichnet sich doch ab, dass das katholische Kirchentreffen im kommenden Jahr das bisherige Format einer reinen Bischofssynode sprengt. Die Volk Gottes-Vorstellungen des Papstes beschränken sich nicht auf bischöfliche Repräsentanten. So erhält mit der Synodensekretärin Nathalie Becquart eine Frau Stimmrecht.
Weichenstellungen des letzten Konzils
Franziskus folgt damit den ekklesiologischen Weichenstellungen des letzten Konzils. Mehr als ein Leitmotiv, bildet die biblische Rede vom Volk Gottes das Organisationsprinzip einer Kirche, die sich mit der Liturgiekonstitution auf die „volle, bewusste und tätige Teilnahme“ (SC 14) am gottesdienstlichen Geschehen festlegte. Sie setzt sich auch in einer geschärften Wahrnehmung des Glaubenszeugnisses aller Getauften durch. Zwar entschieden auf dem 2. Vatikanischen Konzil ausschließlich Bischöfe gemeinsam mit dem Papst. Aber die Konzilsväter lösten die enge Kopplung von römischer Kirchenleitung und katholischer Weltkirche. Statt auf der Grundlage von kurial vorbereiteten Texten zu beraten, fanden sich die Bischöfe in Sprachengruppen zusammen, um die Agenden des Konzils zu diskutieren. Das Selbstbewusstsein der Bischöfe als universalkirchlich gebundene, aber ortskirchlich verantwortliche Akteure bereitete den Durchbruch zu einem globalen Format von Katholizität vor. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel; allerdings einen, der an synodale Organisationsformen der ersten Kirchenjahrhunderte anknüpfte.
Christentumsgeschichtlich dramatischer Umbruch
Hier findet auch die 1985 auf einer römischen Bischofssynode vorgeschlagene Formel von der Kirche als „communio“ ihre Grundlage. Kirche lässt sich nur als kommunikatives Ereignis verstehen, im trinitarischen Glauben an die Beziehungswirklichkeit Gottes begründet. Das schließt hierarchische Ordnungsmuster ein, emanzipiert sie aber nicht aus der Glaubensverantwortung im gesamten Volk Gottes. Diese Perspektive bestimmt die aktuellen Auseinandersetzungen der katholischen Kirche, wenn von den Ortskirchen zunehmend mehr Partizipationsrechte eingefordert werden. Im Spiegel der synodalen Transformation zeigt sich ein christentumsgeschichtlich dramatischer Umbruch: die Auflösung des römischen Katholizismus als bestimmender Kirchenform.
Attraktionsort anschaulicher Kircheneinheit
Diese Beobachtung stellt die Bedeutung Roms als Motor katholischer Kirchenidentität nicht in Frage. Der Vatikan bleibt Attraktionsort anschaulicher Kircheneinheit. Allerdings verschieben sich die Koordinaten katholischer Kirchenorganisation und -auffassung so markant, dass sich eine andere Lebensform von Katholizität herausbildet. Dass dies von Rom aus auf den Weg gebracht wird, namentlich von Papst Franziskus, verleiht diesem Vorgang eine besondere Signifikanz. Wenn der Papst von einer synodalen Kirche spricht, kann er dafür zwar historische Vorbilder in einer Serie von Kirchenversammlungen finden. Aber zum einen haben sie die katholische Kirche nicht zu einer synodal verwalteten Kirche wie in der Orthodoxie gemacht, weil die römische Ortskirche als weltkirchliche Zentrale zunehmend Entscheidungsmacht beanspruchte und sich im 16. und 19. Jahrhundert ein spezifisch römisches Format von Katholizität herausbildete. Zum anderen sieht die synodale Kirche des 21. Jahrhunderts grundlegend andere, erweiterte Formen kirchlicher Beteiligung vor – nicht zuletzt mit Frauen als Akteurinnen. Auf dieser Linie spricht Nathalie Becquart von einer „synodalen Bekehrung“ der katholischen Kirche: „Es ist das erste Mal in der Kirchengeschichte, dass die gesamte Kirche in einer Synode zusammengerufen wird und wirklich jeder dazu aufgerufen ist, daran teilzunehmen.“
Aushandlung des normativen Nennwerts von kirchlicher Tradition
Dass es sich auch im Rückbezug auf synodale Erfahrungen um einen innovativen Schritt katholischer Selbstbestimmung und -wahrnehmung handelt, bildet sich in weltkirchlichen Resonanzen auf den Synodalen Weg in Deutschland ab – nicht zuletzt in Befürchtungen, hier werde Kirche neu erfunden. Mit der Aushandlung des normativen Nennwerts von kirchlicher Tradition angesichts von Herausforderungen, die mit dem lehramtlich eingeführten, aber ambigen Konzept der „Zeichen der Zeit“ (GS 4) erfasst werden, verbinden sich Erfahrungen, die auch Bischöfe artikulieren: dass man Synodalität erst lernen müsse. Dieser Lernprozess fügt sich in ein Ensemble von Umstellungen ein, mit dem sich die katholische Kirche verändert.
Spannungsgleichgewicht
Was macht vor diesem Hintergrund den spezifisch römischen Katholizismus aus? Carl Schmitt hat in seiner Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form“ drei Aspekte benannt: die Fähigkeit, Gegensätze und Widersprüche einzufassen; die „strenge Durchführung des Prinzips der Repräsentation“; schließlich seine rechtliche Gestalt. Objektive Form der kirchlichen Darstellung des Ewigen setzt sich gegenüber subjektiven Erfahrungen und Deutungsmustern durch. Das scheint unpolitisch, wirkt aber sowohl im Widerspruch gegen jede Regierung, die der Kirche ihre Rechte streitig macht, als auch im Einspruch gegen ideologische Systeme. Sie halten dem komplexen Spannungsmotiv menschlicher Existenz zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen, Welt und Geist, Mensch und Gott, Immanenz und Transzendenz nicht stand. Römischer Katholizismus ist anti-totalitär – in Frontstellung gegen politische und gesellschaftliche Optionen, in denen sich das Spannungsgleichgewicht von Un/Endlichem verliert.
Krisenmomente
Seitens der katholischen Kirche existiert interessanterweise keine Festlegung römischer Katholizität – es sei denn im Rückgriff auf Petrus und Paulus, deren Gräber in Rom seit der Antike verehrt werden. Ihre Traditionsgewähr haftet indes nicht am Ort, sondern erweist sich in der katholisch-weltumspannenden Form apostolischer Überlieferung. Dass sie fortlaufenden interpretativen Aneignungen unterliegt, zeigt sich in der Weise, wie sich Rom als Kirchenzentrum etablierte. Das geschah nicht zuletzt in Krisenmomenten. Mit den gregorianischen Reformen seit dem 11. Jahrhundert wuchs dem Papst eine nahezu absolute Macht zu, die sich in Auseinandersetzung mit weltlichen Herrschern behaupten sollte. Im 16. Jahrhundert legten die katholischen Reformen mit dem römischen Messbuch und dem römischen Katechismus, später dann dem Ausbau Roms zur Zentrale ihrer missionarischen Aktivitäten das unverkennbar römische Profil des Katholizismus fest. Im 19. Jahrhundert baute die katholische Kirche die Position des Papstes zu einem Identitätsmarker aus, der im gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Konflikt mit säkularen Wissenschaften und demokratischen Bürgergesellschaften eine unzerstörbare Sicherheit im Glauben versprach.
Spielräume kirchlichen Handelns
Die Wirksamkeit dieser katholischen Kirchenform stößt nicht nur religionssoziologisch zu Beginn des 21. Jahrhunderts an Grenzen – obwohl die katholische Kirche auf den globalen Religionsmärkten Mitgliedssteigerungen verbucht. Auch Katholiken leben und glauben in religiösen Übergangszonen. Die Einheitsmuster, auf die sich das Interesse der römischen Kirchenform richtet, verlieren an Bindungsintensität. Der Verlust von Latein als global verbindender Liturgiesprache spielt dabei eine eigene Rolle. Im 16. Jahrhundert hatte Papst Pius V. das „Missale Romanum“ noch mit Ewigkeitsvermerk versehen. Papst Franziskus hat die tridentinische Messform jüngst kassiert – im Widerspruch zu seinem Vorgänger. Damit verschwindet mehr als ein liturgisches Formular. Entscheidungsunterschiede zwischen Päpsten schaffen Spielräume kirchlichen Handelns, Raum für Entwicklung, aber auch Ambiguitäten in den Festlegungsformen dessen, was als katholisch gelten soll. In den spannungsreichen Diskussionen zwischen den verschiedenen katholischen Kirchenkulturen, schematisch: zwischen konservativen und liberalen Stimmen, nimmt die Lenkungsmacht der römischen Kurie wie des Papstes ab.
Manövriermasse kirchlicher Aushandlungen
Dass Papst Franziskus den Malteserorden, die kirchliche Bewegung „Communione e Liberazione“ und aus Anlass der Konzilseröffnung vor sechzig Jahren die gesamte Kirche auffordert, Spaltungstendenzen zu überwinden und die Einheit in der Kirche mit dem Papst zu wahren, führt exakt in jene Konfliktfelder, die sich mit päpstlichen Appellen nicht schließen. Stattdessen müssen sich die auseinanderstrebenden Positionen, die mit kirchlichen, aber auch politisch wirksamen Grundhaltungen verbunden sind, einander aussetzen. Die US-amerikanische Kirche, aber nicht nur sie, ist dafür ein Beispiel – politisch brisant mit der Frage der Zulassung von Politikern zur Kommunion, die für ein Recht auf Abtreibung stehen. Der Papst nimmt hier eine vermittelnde Position ein, die sich aber von jener Klarheit der Lehre unterscheidet, die seine Vorgänger etwa im Feld der Schwangerenkonfliktberatung vertraten. Immer wieder betont der Papst, dass die Eucharistie „nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen“ ist. Franziskus führt dafür Gründe evangeliumsgemäßer Barmherzigkeit an. Römisch-katholische Distinktionssicherheit und lehramtliche Eindeutigkeit wird so ihrerseits zur Manövriermasse kirchlicher Aushandlungen.
Ambiguitätsverstärker
Welche Macht am Ende in den katholischen Kirchenkonflikten des 21. Jahrhunderts entscheidet und ob sie sich per Machtdekret überhaupt lösen lassen, ist auch deshalb offen, weil sich der Papst in diesen Auseinandersetzungen als Ambiguitätsverstärker erweist. Das betrifft mit dem Kommunionempfang – auch für wiederverheiratete Geschiedene und für nichtkatholische Partner in konfessionsverbindenden Ehen – einen Nerv katholischer Kirchenidentität. Was unmöglich schien, wurde lehramtlich freigegeben – was im Anschluss Fragen nach der Verbindlichkeit der Lehrtradition auslöste. Zur Einschätzung homosexueller Lebensgemeinschaften finden sich divergierende Äußerungen des Papstes, der aus pastoraler Sorge dogmatische Festlegungen unterwandert oder aushebelt. Indem er die eindeutige Lehrform des römisch-katholischen Kirchentyps auf diese Weise relativiert, legt er Sprengsätze an seine juristische Form.
Verlorene Distinktionsschärfe
Mit Ausnahmeregelungen erweist sich der Papst zwar als Kirchensouverän, etwa wenn er Fristen bei laufenden Rücktrittsverfahren von Bischöfen ignoriert. Zugleich nimmt er damit dem kirchenrechtlichen Profil des römischen Katholizismus etwas von seiner Verbindlichkeit. Dass mit dem systemischen Missbrauch in der katholischen Kirche zudem das Amt priesterlicher Repräsentation Auflösungserscheinungen zeigt, spiegelt seine Krise an einem weiteren Punkt: mit der auch unter Bischöfen offen diskutierten Frage nach einer Ordination von Frauen. Dabei scheint aus Sicht der römischen Kurie diese Frage entschieden. Wenn sich aber an der Form eines definitiven päpstlichen Verbots Debatten entzünden, verlieren gleich zwei Momente des römischen Katholizismus ihre Distinktionsschärfe: die dogmatische Lehrgestalt und die kirchenrechtliche Bindungsform.
Selbstwirksame Neuverortung
Das Bild des römischen Katholizismus wird in offenen Aushandlungsfeldern katholischer Kirchenidentität überschrieben. Katholisch lebt man in Gesellschaften, die sich mit ihrer digitalen Kommunikation so weit pluralisieren, dass sich ihr Handlungszusammenhang als Weltgesellschaft auch unter eminentem Krisendruck wie dem Klimawandel, der Pandemie und einem drohenden Nuklearkrieg nicht einstellt. Die entsprechenden Fliehkräfte spielen in ihren habituellen Prägungen auch in der katholischen Kirche eine zunehmend prekäre Rolle. Wohl auch deshalb setzt Papst Franziskus auf eine synodale Kirche und gibt ihr mehr Zeit und Raum für ihre Aushandlungsprozesse. Es handelt sich um eine selbstwirksame Neuverortung der katholischen Kirche im globalisierten 21. Jahrhundert. Rom bietet sich dafür als Orientierungspunkt und Bindungsort an – aber in einer anderen, eben synodalen Form kirchlicher Kommunikation. Damit vollzieht sich nicht die Auflösung der katholischen Kirche, wohl aber des formativen Ensembles römischer Katholizität. Mit unabsehbaren Folgen.
Prof. Dr. Gregor M. Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Universität Salzburg.
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